Kärntner Straße in Wien
ORF.at/Christian Öser
CoV-Infektionen

Trend wird sich „nicht von selbst umdrehen“

Besonders in Ostösterreich ist die CoV-Infektionslage angespannt. In Wien stoßen die Intensivstationen bereits an ihre Kapazitätsgrenzen. Trotz Impfungen und besseren Wetters werde es ohne eine Veränderung der Maßnahmen einen weiteren Anstieg der Fälle geben, so der Komplexitätsforscher Peter Klimek: „Für die nächsten Wochen ist nicht zu erwarten, dass sich der Trend von selbst umdrehen wird.“

„Momentan machen wir überhaupt keinen Faktor aus, der das Infektionsgeschehen in den nächsten Tagen dämpfen könnte“, sagte Klimek vom Complexity Science Hub Vienna (CSH) gegenüber ORF.at. Ohne eine Veränderung der Maßnahmen sei davon auszugehen, dass es zu einem weiteren Anstieg der Fallzahlen kommen werde, „der zwar durch bereits gesetzte Schritte wie die Ausweitung des Testangebots gedämpft wird, sich aber nichtsdestotrotz fortsetzt“, so Klimek.

In den Osterferien könnte es zwar weniger Ansteckungen bei Kindern und Jugendlichen geben, unter denen das Virus derzeit besonders grassiert. Allerdings dürfe man sich nicht der Illusion hingeben, dass man die Schulen zu- und gleichzeitig die Schanigärten aufsperren könne, sagte Klimek. „Es ist nicht so, dass die Schulen das ganze Infektionsgeschehen treiben. Sie spiegeln das wider, was insgesamt in der Bevölkerung passiert.“

Effekte setzen zeitverzögert ein

Weitere Lockerungen sind in Österreich vorläufig nicht geplant. Auf neue Maßnahmen bzw. Verschärfungen konnten sich Regierung und Landeshauptleute auf einem Gipfel am Montag im Bundeskanzleramt aber nicht einigen.

An der dramatischen Lage auf den Intensivstationen würden aber auch neue Maßnahmen so schnell nichts ändern. Klimek verweist auf die mittlerweile bekannte „Zeitverzugsarithmetik“: Selbst wenn noch in dieser Woche Maßnahmen ergriffen würden, würde es ein, zwei Wochen dauern, bis diese Wirkung zeigten – erst weitere sieben bis 14 Tage später würde sich der Effekt auf den Intensivstationen einstellen. „In Wahrheit ist es aber jetzt schon so, dass sich insbesondere in Ostösterreich die Situation auf den Intensivstationen noch zuspitzen wird“, sagte Klimek. Entlastung sei frühestens in einem Monat zu erwarten.

„Saisonalität“ als Unbekannte

Eine Prognose, wann die dritte Welle in Österreich ohne zusätzliche Maßnahmen ihren Höhepunkt erreicht, kann Klimek nicht geben. Schwer einschätzen lasse sich beispielsweise der Faktor „Saisonalität“. Die steigenden Temperaturen und stärkere Sonneneinstrahlung machen es Coronaviren schwer. Hinzu kommt, dass sich Menschen bei warmem Wetter häufiger draußen treffen, wo das Infektionsrisiko geringer ist als in Innenräumen.

Wie stark der Einfluss des Frühlings auf die Entwicklung der Pandemie im Vorjahr war, lässt sich nur schwer einschätzen. Der Wiener Virologe Norbert Nowotny vertrat im Gespräch mit der APA die Ansicht, dass die geringen Fallzahlen im vergangenen Sommer darauf zurückzuführen waren, dass „zu diesem Zeitpunkt noch relativ wenig Virus in der Bevölkerung zirkuliert hat. Das ist jetzt anders, derzeit zirkuliert viel Virus.“

Zum Vergleich: Als Österreich am 16. März 2020 in den ersten Lockdown ging, lag die 7-Tage-Inzidenz pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern bei etwas über zwölf. Aktuell beträgt dieser Wert österreichweit 243, in Wien 312. Am 15. Mai durfte die Gastronomie unter strengen Sicherheitsvorkehrungen wieder öffnen. Damals wurden landesweit im Schnitt weniger als 50 Neuinfektionen täglich verzeichnet.

Wagner sieht „extrem hohes Risiko“

Der Mikrobiologe Michael Wagner sieht Österreich weiter ein „extrem hohes Risiko“ gehen. Die umfassende Teststrategie sorge zwar momentan dafür, dass die Zahlen nicht explodieren, ein „Wegtesten“ der angekommenen dritten Welle funktioniere aber offensichtlich mit den jetzt implementierten Testungen nicht.

Insgesamt habe der Politik letztlich vermutlich der Glaube daran gefehlt, dass sich die Zahlen tatsächlich gegen eine 7-Tage-Inzidenz von 50 und darunter drücken lassen. Aus rein epidemiologischer Sicht sei das unverständlich, sagte Wagner im Gespräch mit der APA, denn letztlich drohe Österreich sich damit die Chance auf einen pandemietechnisch deutlich einfacheren Frühling und Sommer zu verbauen und auf den letzten Metern vor breit ausgerollten Impfungen noch sehr viele schwere Erkrankungen und Todesfälle in Kauf zu nehmen.

„Letztlich hofft man darauf, dass man mit dem vermehrten Testen – wo man wirklich gute Schritte gesetzt hat – die Sache unter Kontrolle halten kann“, sagte Wagner. Allerdings könne man aufgrund der mangelhaften Datenlage in vielen Bereichen immer noch nicht gesichert sagen, was man mit welcher Strategie und welchem Testverfahren tatsächlich bewirkt, bemängelte der Initiator der SARS-CoV-2-Monitoringstudie an Schulen – vulgo „Gurgelstudie“.

Faktor Impfung

Anders als im Vorjahr steht mittlerweile eine mächtige Waffe gegen das Coronavirus zur Verfügung: die Impfung. Die Impfkampagne in Österreich und vielen anderen EU-Ländern kommt zwar nur schleppend voran, allerdings zeigen sich positive Effekte bereits in der Gruppe der Hochbetagten, wo die Sterbe- und Fallzahlen deutlich zurückgehen.

Eine Erleichterung für die Intensivstationen werde sich – „so, wie wir momentan unterwegs sind“ – aber frühestens im Mai einstellen, so Klimek. Der Altersschnitt der Covid-19-Patientinnen und -Patienten in den Spitälern ist derzeit wesentlich niedriger als noch im Herbst. In Wiener Spitälern liegen derzeit hauptsächlich Personen im Alter zwischen 40 und 60 Jahren. Bis die Mehrzahl der Personen aus diesen Altersgruppen durchgeimpft sind, kann es noch dauern.

Die Stadt Wien gab am Dienstag bekannt, dass die Impfungen bei niedergelassenen Medizinerinnen und Medizinern aufgrund von Lieferengpässen erst Mitte April starten können – mehr dazu in wien.ORF.at .

Entwicklung „nicht überraschend“

Die Entwicklung der Fall- und Spitalszahlen ist laut Klimek „nicht überraschend“ und habe sich in den vergangenen Wochen abgezeichnet. „Was überrascht hat, war, dass man trotzdem Woche für Woche diskutiert hat, welche Lockerungen zuerst möglich sind.“ Die „eine Sache“, die es brauche, um die Entwicklung umzudrehen, gibt es laut dem Wissenschaftler nicht. „Infektionen finden überall dort statt, wo Leute zusammenkommen. Daher wird man wohl Überlegungen in sämtlichen Lebensbereichen anstellen müssen.“