Kraniche über der Stadt Linum in Deutschland
Reuters
Vögel, Libellen, Gnus

Spitzensportler auf Reisen

Der Frühling ist da, und mit ihm lange nicht gehörte Zwitscher- und Pfeiftöne. Im Sachbuch „Grenzenlos“ erzählt Francesca Buoninconti von wandernden Tierarten, ihren spektakulären Höhenritten und ausgeklügelten Navigationssystemen. Die gute Datenlage dokumentiert, wie das tierische Wanderverhalten durch den Klimawandel in Bedrängnis geraten ist. Warum Tiere im Winter verschwinden, dazu gab es früher abenteuerliche Theorien.

„Grenzenlos“ macht ein Fenster in ein Paralleluniversum auf, in dem sich lauter abenteuerlustige Geschöpfe tummeln, die Spitzenleistungen erbringen: Die Wanderlibelle mit ihren wenigen Zentimetern Länge spult für die Reise quer durch Afrika schon einmal 18.000 Kilometer ab.

Die Meeresschildkröte etwa hat ein Orientierungssystem, das selbst erfahrene Seefahrer erblassen lässt. Und den Höhenrekord in Sachen Wanderschaft hält derzeit der Gänsegeier: Vor Jahren stieß einmal ein Exemplar in 11.300 Metern Höhe mit einem Flugzeug zusammen, bei einem Sauerstoffgehalt, bei dem die meisten Lebewesen sterben würden.

Monarchenfalter im Winterquartier in Michacoan (Mexico)
picturedesk.com/PhotoResearchers/Ron Austing
Spektakel Tierwanderung: In ihrem Winterquartier in Mexiko versammeln sich hundert Millionen Schmetterlinge auf wenigen Hektar Fläche

Mit einer Vielzahl an Daten und Rekorden geht das Sachbuch „Grenzenlos“ der italienischen Wissenschaftsjournalistin („La Repubblica“, u. a.) Buoninconti den unterschiedlichen Methoden, Motivationen und dem zeitlichen Ablauf von Migrationsbewegungen im Tierreich nach. Das Buch folgt den Spuren von Säugetieren, vom Gnu bis zum Blauwal, Insekten, Fischen und Zugvögeln, die dem Zyklus der Jahreszeiten folgen, um die besten Futter- respektive Fortpflanzungsplätze zu finden. Die Begeisterung der studierten Ornithologin schwingt dabei immer mit.

Verwandlung in Frösche

Wie organisieren und orientieren sich die Wandertiere und, naiv gefragt, wohin verschwinden sie überhaupt? Diese Frage hat, wie die Autorin darlegt, die Menschheit schon vor Tausenden Jahren zu abenteuerlichen Theorien beflügelt. 400 v. Chr. glaubte man, dass die Vögel im Winter zum Mond fliegen würden.

Aristoteles entwickelte dagegen die Vorstellung einer grundlegenden Metamorphose. Nachdem er Schwalbenschwärme im Spätsommer im Schilf beobachtet hatte, just zu einer Zeit, als die Frösche schlüpften, folgerte er, dass die Schwalben ihr Gefieder verlieren würden, um als Amphibien ins Wasser abzutauchen. Aufgrund der Autorität des griechischen Philosophen blieb die Hypothese bis ins 18. Jahrhundert anerkannt und wurde sogar vom schwedischen Naturforscher Carl von Linne bestätigt, ehe sich um 1900 das Bild durch die Entwicklung der Vogelberingung grundlegend änderte.

Auf einer Weltkarte wird die Strecke, die die Küstenseeschwalbe und der Steinschmätzer zurücklegen, beschrieben
Folio Verlag
Karten dokumentieren die unglaublichen Wegstrecken: Der Rekord für die längste Wanderung wurde 2016 von einer englischen Küstenseeschwalbe aufgestellt, die 96.000 Kilometer zurücklegte

Hormoncocktail bestimmt Reiseantritt

Daten zu Maultierhirschen oder Lederschildkröten sammelt man heute via Satellitentelemetrie, zum Monarchfalter mittels radiergummigroßen Tags. Bei den Zugvögeln ist es – ergänzt durch Radar und GPS – noch immer diese tradierte Methode, die in millionenfacher Ausfertigung, gesetzt von Zehntausenden Beringern, Aufschluss gibt über eine höchst komplexe und elaborierte Reise.

Warum sich Zugvögel überhaupt auf den Weg machen, dafür sind hormonelle Reize verantwortlich, die durch die Tageslichtdauer und den Jahreszeitenwechsel geregelt sind. Durch sie erhalten Vögel auch vor Abflug das Signal zur Reisevorbereitung, mittels Flügelschlagtraining und kalorienreicher Kost, um sich als „richtig fette Athleten wie die Sumoringer“ auf den Weg zu machen: Die unzähligen zitierten akademischen Studien bereitet Buoninconti lebhaft und mit einer klaren und übersichtlichen Schreibweise auf.

Sonnenkompass und Magnetfeldbestimmung

Die Vögel wissen nicht nur, wann sie aufbrechen müssen, sondern auch, wohin sie fliegen beziehungsweise wohin sie zurückkehren müssen: Dank ihrer Fähigkeit, ihren Geburtsort anhand des Erdmagnetfelds, der visuellen Elemente und des Geruchs zu erkennen, können sie mühelos zu ihrem Ursprungsort zurückkehren. Verändern sich optische Bezugspunkte, sind die Heimkehrer bisweilen desorientiert und kontrollieren beharrlich, was da nicht stimmt – ein Phänomen, das sogar bei Grabwespen beobachtet wurde.

Seeschildkröten bei der Eiablage an einer Küste in Mexiko
picturedesk.com/dpa/Edgar Santiago GarcÌa
Die Unechte Karettschildkröte ist durch die Erderwärmung von einer Feminisierung der Populationen betroffen. Bei wärmerem Sand schlüpfen nur Weibchen.

Darüber hinaus gibt es Tierarten, die sich dank des „Sonnenkompasses“ orientieren, wie z. B. der Monarchfalter, der sich in dem Wissen bewegt, dass die Sonne aufgrund ihrer Rotationsbewegung jede Stunde eine Bewegung von 15 Grad macht. Die Unechten Karettschildkröten wiederum, die 15 bis 20 Jahre nach ihrer Geburt punktgenau ihren Herkunftsstrand ansteuern, merken sich die speziellen magnetischen Koordinaten eines Orts, weil sie auch den Breitengrad „errechnen“ können.

Buchcover von Francesca Buoninconti: Grenzenlos, Die erstaunlischen Wanderungen der Tiere
Folio Verlag
Francesca Buoninconti: Grenzenlos. Die unglaublichen Wanderungen der Tiere. Folio Verlag, 220 Seiten, 22,00 Euro.

Und die Reiserouten? Es gibt mit dem Nahen Osten, der Straße von Gibraltar und der Meerenge von Messina drei hochfrequentierte Vogeldurchzugsstraßen, weil viele Arten eine gefährlich lange Meerüberquerung zu meiden versuchen. Auch visuelle Reize wie Autobahnen dienen als Orientierungspunkte: Während unten auf der A1 Mailand – Neapel die Kolonnen rattern, fliegen oben die in Europa nistenden Zugvögel mit.

Migrationsgeschichten aus dem Pflanzenreich

Spektakuläre Migrationsgeschichten gab es letztes Jahr schon aus dem Pflanzenreich mit „Die unglaubliche Reise der Pflanzen“ des renommierten italienischen Botanikers Stefano Mancuso. Mit Geschichten über dicke, riesige Samen oder sich durch Kreuzungen an die klimatischen Bedingungen anpassende Gewächse würdigte er die Resilienz und Findigkeit der Pflanzen. Bewunderung spricht nun auch aus Mancusos kürzlich erschienenem Manifest „Die Pflanzen und ihre Rechte“, das sich als engagiertes, aus Pflanzensicht formuliertes Plädoyer für die Erhaltung ihrer Lebensräume ausspricht.

Mit einem Blick in die Zukunft – und damit auf die Bedrohung der Wandertiere – endet auch Buonincontis „Grenzenlos“. Die Lichtverschmutzung stört etwa Vögel bei der Orientierung, der wandernde Kaiserpinguin ist durch die Veränderungen des Meereises aus der Antarktis fast ganz verdrängt worden, die Meeresschildkröten müssen durch den erwärmten Sand mit der Feminisierung ganzer Brutgelege fertig werden – ein Grad mehr Sandtemperatur, und es schlüpfen nur noch Weibchen.

Ökologische Straßenumgestaltung

Buoninconti gibt aber auch Hoffnung, wenn sie etwa zeigt, dass die Erforschung der Tierwanderungen auch zum Artenschutz beitragen kann. Die Wyoming Migration Initiative lancierte etwa 2012 ein beispielhaftes Projekt einer ökologischen Straßenumgestaltung. Um die Antilopen zu schützen, deren Wanderroute den U.S. Highway 191 kreuzte, wurde ein System von Unter- und Überführungen an Schlüsselstellen entwickelt. Das Resultat: Nicht nur mehr Sicherheit für die Tiere, sondern auch die Fußgänger. Die Geschichte ist nur eine der unzähligen, spannenden Storys, mit denen Buoninconti in die außergewöhnlichen Lebensrealitäten wandernder Tiere eintauchen lässt.