Ortstafel von Wien bei der Stadtausfahrt
picturedesk.com/Kurt Molzer
„Ost-Lockdown“

Wieder Match zwischen Bund und Ländern

Ein Gipfel am Montag, der – wohl auch am Widerstand der Bundesländer – ohne konkrete Ergebnisse geendet hat, und dann doch „Ost-Lockdown“ im zweiten Anlauf nach langen Verhandlungen zwischen Gesundheitsministerium und den Landeshauptleuten: Einmal mehr steht die Frage des Verhältnisses von Bund und Ländern bei der Pandemiebekämpfung im Fokus. Kann der Bund nicht einfach durchgreifen? Oder gibt er geschickt die „heiße Kartoffel“ an die Länder weiter?

Schon nach den Ereignissen von Montag war in vielen Kommentaren scharfe Kritik zu lesen: Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) und auch Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) sei auf dem „letzten Stück des Krisenmarathons die Puste ausgegangen“, heißt es etwa in der „Kleinen Zeitung“. Die Länder hätten sich durchgesetzt. Der Föderalismus sei aber nie dafür gedacht gewesen, „in einer weltweiten Pandemie, der Ländergrenzen völlig egal sind, Politik zu machen“.

Auch Expertinnen und Experten, die auf entschiedeneres Handeln gedrängt hatten, äußerten sich kritisch und – vor allem auf dem Kurznachrichtendienst Twitter – zunehmend verschnupft.

Entscheidung wieder im zweiten Anlauf

Und dann einigte man sich am Mittwoch doch auf einen kurzen Lockdown in Wien, Niederösterreich und dem Burgenland zu Ostern. Die Ereignisse erinnern an das Ringen um Maßnahmen in Tirol Anfang Februar, als es darum ging, die zunächst in Südafrika aufgetretene Variante des Virus im Bezirk Schwaz einzudämmen. Auch hier blieb eine erste Runde ohne Erfolg, auch damals wurde schon bemängelt, dass die Regierung, und vor allem Gesundheitsminister Anschober, die eigentlich zur Verfügung stehenden Befugnisse nicht gegen den Willen der Länder einsetze. Erst im zweiten Anlauf wurde damals auf Drängen der Bundesregierung in Tirol beschlossen, verschärfte Maßnahmen zu verordnen.

Nur gute Nachrichten werden gern verkündet

Sie persönlich sehe den Föderalismus an sich nicht negativ, so die Politikwissenschaftlerin Kathrin Stainer-Hämmerle gegenüber ORF.at. Ein zentralistisches Vorgehen sei nicht automatisch besser. Im Idealfall könne es sogar einen Wettbewerb der neun unterschiedlichen Wege geben, wo man auch von guten Beispielen lernen könnte. Problematisch werde es dann, wenn sich – wie derzeit – aber die Rahmenbedingungen auch ständig verschieben.

Klar zu sehen sei derzeit wenig überraschend, dass jeder vor allem auf die eigenen Interessen achte, so Stainer-Hämmerle. Regionale Lösungen werden in den Bundesländern vor allem dann gefordert, wenn es um Verbesserungen und Lockerungen gehe. Gute Nachrichten wolle jeder Politiker sofort verkünden. Schlechte Nachrichten bzw. Entscheidungen würden gern auf eine politische Ebene darüber geschoben. Das würde ja Kanzler Kurz mit der EU ähnlich praktizieren, so die Politikwissenschaftlerin.

Österreich und seine „Realverfassung“

Politologe Peter Filzmaier verwies gegenüber ORF.at darauf, dass das sehr zentralistisch organisierte politische System Großbritanniens die dortigen Coronavirus-Maßnahmen rascher und leichter umsetzen könne als bei einer mehr getrennten Kompetenzverteilung von Bund und Ländern.

Doch das Problem in Österreich sei „womöglich mehr politischer als rechtlicher Natur“: So müsse „in der Realverfassung“ die Landeshauptleutekonferenz eingebunden werden, obwohl es diese als Staatsorgan in der Verfassung gar nicht gebe. „Streng genommen handelt es sich dabei um informelle Treffen einer Interessengruppe, um sich abzusprechen und gemeinsam Lobbying für ihre Anliegen zu betreiben. Das hat sich auch durchaus bewährt, geht jedoch bei der Pandemiebekämpfung auf Kosten der Schnelligkeit und Effizienz.“

Zittern um Popularität

Natürlich gehe es auch um die eigene Legitimationsbasis, also wiedergewählt zu werden, meint wiederum Stainer-Hämmerle. Deswegen wollten Landespolitiker ja für die „eigenen Leute“ etwas Besseres herausholen. Genau damit könnten sie aber auch ihre Autorität gefährden. Im Frühjahr des Vorjahrs habe sich gezeigt, dass die Regierung trotz, oder vielleicht wegen der scharfen Maßnahmen, extrem gute Zustimmungswerte gehabt habe. Damals sei es aber auch gelungen, die Maßnahmen überzeugend zu erklären: Wenn die Leute glauben, es gibt einen Plan, dann wird der auch akzeptiert. Und bis zu den nächsten Wahlen könnten unpopuläre Maßnahmen von jetzt auch schon vergessen sein, so die Politologin.

Filzmaier meint, dass Regierungspolitiker mit Ausnahme Oberösterreichs, wo im Herbst gewählt wird, zumindest theoretisch sagen, dass sie sich nicht um ihre Popularität kümmern. Weil ja die nächste Nationalratswahl plangemäß erst im Herbst 2024 stattfindet und es nach dem oberösterreichischen Wahlgang heuer auch erst 2023 wieder weitere Landtagswahlen gibt.

Analyse der neuen Maßnahmen in der Ostregion

Komplexitätsforscher Peter Klimek, der auch in jener Expertengruppe sitzt, die für die Regierung die Prognosen errechnet, und Politikwissenschaftler Peter Filzmaier analysieren die neuen Maßnahmen.

Praktisch sehe das anders aus: „Womöglich überlebt es ein Regierungspolitiker weder in den eigenen Reihen noch in den Medien, sollten die persönlichen Umfragewerte und jene seiner Partei einstürzen.“ Und die Situation vor einem Jahr sei eine ganz andere gewesen, diese Zeit sei längst vorbei. Er würde „trotzdem für Mut zur Unpopularität plädieren, weil ja gerade in den Bundesländern Wien, Niederösterreich und Burgenland die Mehrheitsverhältnisse sehr stabil sind und die Regierenden dort nicht so schnell um ihre politische Existenz fürchten müssen“.

Kurz und Anschober tauschten Rollen

Dass sich die Bundesregierung mit Verschärfungen so schwertue, habe sicher mehrere verschiedene Gründe, so Stainer-Hämmerle: Sinkende Zustimmungswerte zu den Maßnahmen und zu den Parteien seien sicherlich ein Faktor.

Dazu komme aber Uneinigkeit mit den Ländern und Uneinigkeit in der Regierung, wobei „paradoxerweise“ Kanzler Kurz und Gesundheitsminister Anschober die Rollen vertauscht hätten. War es früher Kurz, so pocht jetzt Anschober auf strengere Maßnahmen. Nicht zu unterschätzen sei der steigende Druck der Lobbys von Gastronomie über Tourismus bis zu Handel, sagt die Politologin. Und man habe gesehen, wie komplex die Materie sei und welche Folgen manche Regelungen hätten. Aus Angst, wieder Fehler – Stichwort vom Verfassungsgerichtshof aufgehobene Regelungen – zu machen, sei man auch vorsichtiger geworden.

Späte Schritte Richtung Regionalisierung

Wer für die Maßnahmen zuständig ist, hatte im Frühjahr noch ganz anders ausgesehen: Da war klar, dass die Bundesregierung die Zügel in der Hand hat und dass es auch nur bundesweit einheitliche Maßnahmen geben soll. Sonst werde es zu kompliziert, lautete damals die Antwort auf die Kritik, dass man auf regional unterschiedliches Pandemiegeschehen auch unterschiedlich reagieren sollte.

Im Sommer wurde dann doch genau dieser Schritt versucht – mit der „Coronavirus-Ampel“. Doch eine regional unterschiedliche Risikoeinschätzung auf der Ampel blieb ohne reale Folgen: Maßnahmen blieben dennoch überall gleich. Erst im Winter kippte das, vor allem durch die Organisation der Impfung, die entgegen ersten Plänen dann zur Ländersache erklärt wurde. Seitdem mischen die Länder mehr und mehr mit.

Regierung im Dilemma

Tatsächlich ist die Regierung, so wie jene in vielen anderen Ländern, schon seit Monaten in demselben Dilemma: Nach einem Jahr Pandemie und entsprechender Müdigkeit in der Bevölkerung wird eine Verschärfung der Maßnahmen immer unpopulärer. Auch die in Aussicht gestellten Risiken – eigene Erkrankung, Erkrankung von Angehörigen, Überlastung der Intensivstationen – ziehen offenbar als Argumente immer weniger.

Gleichzeitig stoßen auch die Maßnahmen an ihre Grenzen: Gastro-, Kultur und Tourismusschließungen, Maskenpflicht, gestaffelter Unterricht, Massentests etc. sind zwar gut dafür geeignet, die Infektionen im öffentlich und semiöffentlichen Raum weitgehend zu unterbinden und die Ansteckungszahlen nicht explodieren zu lassen. Doch ein Sinken der Infektionen kann damit augenscheinlich nicht mehr erreicht werden.

TV-Hinweis

Das ORF-Magazin „Eco“ widmet sich am Donnerstag um 22.30 Uhr in ORF2 ebenfalls dem Föderalismus in Österreich und der „Macht der Länder“ – mehr dazu in tv.ORF.at.

Hauptinfektionsquellen bleiben tabu

Doch dort einzugreifen, wo die meisten Ansteckungen stattfinden, nämlich im Privatbereich, kann sich die Politik aus guten Gründen nicht leisten. Selbst wenn das – wie manche Verfassungsrechtler meinen – juristisch möglich wäre, ist ein Eingriff in den höchsten privaten Lebensbereich (Stichwort: Kontrollen in Wohnungen) als Übergriff in die Freiheitsrechte politisch kaum zu vertreten – und zu überleben.

Die immer wieder geforderten „smarten“ und „cleveren“ Lösungen zur Pandemiebekämpfung sind und bleiben vage, schwer umzusetzen – oder werden nicht als sinnvoll verstanden. Und so muss die Politik auf immer dieselben Maßnahmen zurückgreifen, die aber immer schwerer als sinnvoll zu kommunizieren sind.

Parallelen zu Deutschland?

Stainer-Hämmerle sieht durchaus auch Parallelen zur derzeitigen Lage in Deutschland, wo die Regierung ebenfalls mit den Ländern um Maßnahmen ringt. Die Ausgangslage sei ähnlich, sagt sie, es gebe aber deutliche Unterschiede. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU) habe mehr Spielraum, in ihrer auslaufenden Karriere sei es der „letzte große Akt“, bei dem sie weniger Rücksicht nehmen müsse. Zudem habe sie eine Richtlinienkompetenz, was helfe. Dennoch zeige sich auch hier, dass sie an den Ländern scheitern könnte. Und diese hätten im Vergleich zu Österreich auch durch ihre Größe ein anderes Gewicht.

Filzmaier fällt in erster Linie ein kommunikativer Unterschied auf: Trotz aller Streitigkeiten und des aktuellen Chaos bei den Ostermaßnahmen hätten in Deutschland sowohl „regionale Ministerpräsidenten als auch Kanzlerin Angela Merkel mehrmals öffentlich klar gesagt, dass sie bei der einen oder anderen Sache Unrecht hatten und falsch gehandelt haben“. Im Dialog zwischen dem österreichischen Bundeskanzler und den Landeshauptleuten habe er „von keiner Seite jemals eine so eindeutige Aussage gehört – obwohl es in der Natur der Sache einer solchen Krise liegt, dass keiner alles richtig gedacht und gemacht hat und man das daher auch eingestehen könnte, um in Zukunft besser zusammenzuarbeiten“.