Ein Arbeiter vor der brasilianischen Flagge
Reuters/Ueslei Marcelino
Ringen mit Variante P.1

Sorgenvolle Blicke nach Brasilien

Mehr als 100.000 Neuinfektionen an einem Tag, über 300.000 Tote und eine hochansteckende Variante – die Coronavirus-Lage in Brasilien ist dramatisch, die Spitäler sind vielerorts überlastet. Eine rasche Lösung zeichnet sich nicht ab. Das könnte nicht zuletzt auch ein Problem für den Rest der Welt werden.

Brasilien hat am Donnerstag erstmals mehr als 100.000 Coronavirus-Neuinfektionen an einem Tag registriert. Am Freitag gab es einen Rekord bei der Zahl neuer Todesfälle pro Tag. Das Gesundheitsministerium gab 3.650 weitere Tote bekannt. Insgesamt haben sich im größten Land Lateinamerikas mehr als 12,3 Millionen Menschen nachweislich mit dem Coronavirus infiziert.

Am Mittwoch hatte Brasilien zudem die Marke von 300.000 Coronavirus-Toten überschritten. In dem südamerikanischen Land mit rund 210 Millionen Einwohnern und Einwohnerinnen hat sich die Lage seit Februar nochmals erheblich verschärft.

Patienten und Ärzte im Krankenhaus Porto Allegre
Reuters/Diego Vara
Die mehr als zwölf Millionen CoV-Fälle schlagen sich auch auf die Spitäler nieder

Medikamente gehen zur Neige

Angesichts des dramatischen Anstiegs der Coronavirus-Zahlen ist das Gesundheitssystem vielerorts überlastet oder sogar zusammengebrochen. Die große Sorge besteht nun darin, dass Medikamente und Ausrüstung, unter anderem zur Intubation von Covid-19-Patienten, zur Neige gehen könnten. Die Zeitung „O Globo“ hatte diese Woche unter Berufung auf den Verband der Arzneimittelvertreiber, Abradimex, berichtet, dass deren Vorrat maximal noch für sieben Tage ausreiche.

Ex-Präsident spricht von Völkermord

Der frühere Präsident Brasiliens, Inacio Lula da Silva, äußerte sich am Freitag besorgt über die Lage in dem Land. „Es ist der größte Genozid unserer Geschichte“, sagte Lula dem deutschen „Spiegel“. „Wir müssen Brasilien vor Covid-19 retten.“ Er warf dem amtierenden Präsidenten Jair Bolsonaro vor, das Virus ein Jahr lang nicht ernst genommen zu haben. „Wenn er ein bisschen Größe hätte, dann hätte er sich bei den Familien der 300.000 CoV-Toten und Millionen Infizierten entschuldigt. Er ist dafür verantwortlich.“

Brasiliens Präsident Bolsonaro
Reuters/Ueslei Marcelino
Bolsonaro, der sich vergangenes Jahr infizierte, geriet für seinen laschen Umgang mit der Pandemie unter Kritik

Bolsonaro hat das Coronavirus von Anfang an verharmlost, einen landesweiten Lockdown lehnt er aus wirtschaftlichen Gründen nach wie vor ab. Erst am Donnerstag erneuerte er in Onlinenetzwerken seine Kritik an Lockdown-Maßnahmen. Dennoch sprach er sich kürzlich für eine Beschleunigung der Coronavirus-Impfkampagne in Brasilien aus, nachdem er die Wirksamkeit der Impfungen zuvor immer wieder infrage gestellt hatte.

Bolsonaro wies auch auf die Bemühungen zum Erwerb von Impfstoffen hin. 500 Millionen Impfdosen bis zum Jahresende seien „garantiert“. „2021 wird das Jahr der Impfung der Brasilianer“, versprach der ultrarechte Präsident.

Doch Brasilien hatte den Impfbeginn immer wieder verschoben, die Menge der Impfdosen korrigiert. Die Impfungen in dem Land begannen erst Mitte Jänner und damit deutlich später als in den USA, Europa und in anderen lateinamerikanischen Ländern. In Rio de Janeiro etwa mussten die Impfungen Mitte Februar aufgrund von Lieferengpässen eine Woche ganz ausgesetzt werden. Brasilianische Firmen kündigten nun sogar an, selbsttätig zehn Millionen Impfdosen zu kaufen, um das öffentliche Gesundheitssystem zu entlasten. Eine Gruppe von Unternehmen will sich an dem Kauf beteiligen.

Mutation hochansteckend

Experten führen das hohe Infektionsgeschehen unter anderem auf die derzeit in Brasilien grassierende Virusvariante P.1 zurück. Diese ist offenbar deutlich gefährlicher als der ursprüngliche Erreger und beunruhigt Experten vor allem deshalb, weil sie hochansteckend ist. „Diese neue Variante scheint eine größere Geschwindigkeit der Ansteckung zu haben. Die Fälle scheinen sich schneller zu entwickeln“, sagte der Epidemiologe Diego Xavier, der bei der Forschungseinrichtung „Fundacao Oswaldo Cruz“ arbeitet.

Menschen am Strand Copacagrana
Reuters/Ricardo Moraes
Einen Tag bevor die Strände in Rio am 19. März geschlossen wurden, strömten die Menschen noch einmal in Scharen ans Meer

Erstmals wurde die Mutante im Jänner bei Reisenden aus dem Amazonas-Gebiet entdeckt, inzwischen wurde sie auch in vielen anderen Ländern nachgewiesen. In Österreich gab es den ersten bestätigten Fall einer P-Variante etwa Anfang März. Daher verhängten auch etlichen Staaten Verbote für Einreisen aus Brasilien. Die Impfwirkstoffe von Biontech und Pfizer sowie AstraZeneca sollen Studien zufolge dennoch wirksam sein.

Mit Infektionszahl steigt auch Mutationsgefahr

Die zunehmende Ausbreitung von SARS-CoV-2 hat nach Einschätzung von Fiocruz „besorgniserregende Varianten“ wie die P.1-Variante begünstigt. „Das große Problem ist, dass diese Variante in Brasilien aufgetreten ist, weil die Pandemie schon außer Kontrolle war“, sagte Xavier.

„Das passiert – wie auch in Großbritannien oder Südafrika – dort, wo es viele Fälle gibt und eine hohe Ansteckung.“ Die Gefahr, dass neue Mutationen entstehen, nimmt mit den steigenden Infektionen folglich zu. Das dürfte letztlich nicht nur für Brasilien, sondern für die ganze Welt eine Bedrohung darstellen. Fachleute plädieren daher umso stärker für rasche Impfungen.