Impfspritze mit Pflaster
AP/Mary Altaffer
CoV-Impfstoffschwemme

Bidens Dilemma mit dem Überfluss

Während in Europa und vielen anderen Weltregionen ein Mangel an CoV-Impfstoffen herrscht, stehen die USA vor einem ganz anderen Problem: Spätestens ab Mitte Mai könnte die Produktion den Bedarf deutlich übertreffen. US-Präsident Joe Biden muss entscheiden, was mit Millionen bestellter Dosen geschehen soll. Die Zeit drängt: Fällt keine rasche Entscheidung, könnte das die Herstellung beeinträchtigen.

Mit Biontech und Pfizer, Moderna und Johnson & Johnson (J&J) sind in den USA aktuell drei Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 zugelassen. Die Hersteller haben ihre Produktion deutlich aufgestockt. US-Präsident Biden kommt das politisch zugute: Am Donnerstag konnte der Demokrat verkünden, dass in den ersten 100 Tage seiner Amtszeit nicht wie geplant 100, sondern gleich 200 Mio. Impfungen verabreicht werden könnten. Auch für die Bevölkerung ist die Impfstoffschwemme ein Segen. Über eine halbe Million Menschen sind nach Daten der Johns Hopkins University in den USA bereits an den Folgen der Infektion gestorben. In keinem anderen Land kostete die Pandemie bisher so viele Menschenleben.

Bis Ende Mai, so Bidens ambitioniertes Ziel, sollen alle Erwachsenen in den Vereinigten Staaten geimpft sein. Für die Zeit danach hat die US-Regierung bereits Vorkehrungen getroffen. Für die Zeit zwischen Ende Mai und Ende Juli wurden laut „New York Times“ („NYT“) bei den Pharmakonzernen Dosen zur Immunisierung von 100 Mio. Menschen geordert – Millionen mehr, als für die komplette Durchimpfung der erwachsenen US-Bevölkerung eigentlich notwendig wären. Insgesamt haben die USA bei Pfizer und Biontech, Moderna, J&J und AstraZeneca (dessen Vakzin noch nicht zugelassen ist) 650 Mio. Dosen bestellt. Damit ließe sich fast die gesamte US-Bevölkerung zweimal durchimpfen.

Politische und gesundheitliche Dimension

Die Frage, ob die USA überschüssige Dosen einlagern, die Bestellungen abändern oder die Vakzine weitergeben sollen, hat politische, wirtschaftliche, soziale und gesundheitliche Dimensionen. Drei Viertel der weltweit ausgelieferten Impfstoffe gingen bisher an nur zehn Staaten. In über 30 Ländern wurde noch keine einzige Impfdosis verabreicht. Die Impfstoffknappheit droht eine weltweite Spirale an Exportverboten in Gang zu setzen.

Die EU verschärfte die Regeln für die Ausfuhr von Vakzinen. Indien hat den Export wegen gestiegener Nachfrage im eigenen Land ebenfalls beschränkt. Leidtragende sind ärmere Länder, die im Rahmen der Covax-Initiative Impfstoff aus indischer Produktion erhalten hätten sollen.

US-Präsident Joe Biden bei einer Pressekonferenz
AP/Evan Vucci
US-Präsident Biden: Die Vereinigten Staaten haben wesentlich mehr Impfstoff bestellt, als sie zum Durchimpfen der erwachsenen Bevölkerung benötigen

Hinzu kommt: In Europa, Indien und Südamerika steigt die Zahl der CoV-Infektionen wieder stark an. Je länger die Pandemie wütet, desto höher die Wahrscheinlichkeit für das Auftauchen neuer Varianten, gegen die es schlimmstenfalls neue oder zumindest modifizierte Impfstoffe braucht. Die derzeit in Brasilien dominante Virusvariante P.1 etwa kann die menschliche Immunantwort teilweise umgehen und so bereits Genesene erneut infizieren.

Die US-Regierung bestritt, Exportverbote für in den Vereinigten Staaten erzeugten Impfstoff erlassen zu haben. „Es gibt keine Exportverbote“, sagte die Sprecherin des Weißen Hauses, Jennifer Psaki. Alle Hersteller in den USA seien frei darin, ihre Produkte zu exportieren, solange sie gleichzeitig die Zusagen aus Verträgen mit der US-Regierung einhielten. Die Frage, ob die Firmen zunächst Bestände, die sie der US-Regierung vertraglich versprochen hätten, liefern müssten, bevor Exporte an andere Staaten möglich sein, beantwortete Psaki nicht.

USA wollen „Teil einer weltweiten Lösung sein“

Psaki betonte, die USA wollten „in hohem Maße Teil einer weltweiten Lösung sein“. Allerdings gebe es Unwägbarkeiten, wie Regierungsbeamte der „NYT“ sagten. Etwa, was die Wirksamkeit der Impfstoffe gegen mögliche neue Virusvarianten betrifft, ob die bisher zugelassenen Vakzine auch bei Kindern zum Einsatz kommen könnten und wie lange Geimpfte gegen Erreger immun sind.

Alle genannten Faktoren werden sich erst nach einiger Zeit herauskristallisieren. Biontech und Pfizer sowie Moderna prüfen gerade in Studien, ob ihre mRNA-Impfstoffe auch für Kinder und Jugendliche geeignet sind. Die zugelassenen Impfstoffe aktivieren eine starke Immunantwort – wie lange sie anhält und wann eine Auffrischung notwendig werden könnte, lässt sich derzeit nicht absehen.

Zeit als entscheidender Faktor

Die US-Regierung stellt das vor ein Dilemma: Die Entscheidung, was mit den bestellten Dosen passieren soll, müsse in den kommenden Wochen fallen, berichtete die „NYT“ unter Berufung auf Vertreter der Pharmaindustrie und hochrangige Beamte aus Washington.

US-Präsident Joe Biden bei einem Besuch im Pfizer-Werk in Michigan
Reuters/Tom Brenner
US-Präsident Biden in der Pfizer-Produktionsstätte im Bundesstaat Michigan: Die Vakzinproduktion in den USA läuft auf Hochtouren

Die in den USA hergestellten Impfstofffläschchen werden für den eigenen Markt produziert. Sollten sie in andere Weltgegenden verschifft werden, müssten sie umetikettiert werden, oder der Herstellungsprozess wird kurzzeitig gestoppt. Einmal abgefüllt, halten die Impfstoffe vier bis sechs Monate lang. Werden die Dosen innerhalb der USA ausgeliefert, ist es nach US-Bundesrecht unmöglich, sie zurückzurufen und gegebenenfalls zu exportieren, wie die „NYT“ berichtete.

Das Einlagern von Impfstoffen ist aus diesen Gründen eine zeitlich begrenzte Option. In den US-Gesundheitsbehörden wurde laut „NYT“ auch überlegt, Bestellungen bei Biontech und Pfizer sowie Moderna zum jetzigen Zeitpunkt zu reduzieren oder teilweise zu stornieren. Im Gegenzug sollen die Unternehmen das Versprechen geben, im Herbst Impfstoffdosen für Kinder bzw. modifizierte Vakzine gegen neue Virusvarianten zu liefern.

Impfstoffdiplomatie

Bei den Herstellern soll diese Idee laut „NYT“ durchaus auf Zustimmung stoßen, da andere reiche Länder den Impfstoff gerne haben würden. Den USA käme so allerdings die Möglichkeit abhanden, Impfstoffdiplomatie zu betreiben, wie es China und Russland tun, und internationales Ansehen zu gewinnen, in dem man anderen Ländern hilft.

Aus diesen Gründen tendiere die US-Regierung dazu, den Überschuss einzubehalten und im Rahmen bilateraler Verträge bzw. über die Covax-Initiative der Weltgesundheitsorganisation (WHO) abzugeben, sagten Regierungsbeamte der „NYT“. Die US-Regierung hat Covax bereits mit einer Spende von vier Mrd. Dollar unterstützt.