Soldaten der myanmarischen Armee bei einer Militärparade
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„Demonstranten sind Kriminelle“

Myanmars Armee wird wie Kult geführt

Die Tatmadaw, die Armee Myanmars, wird ähnlich wie ein Kult geführt – von der Ausbildung über Brainwashing bis hin zu permanenter, auch gegenseitiger, Überwachung. Zu diesem Schluss kommt die „New York Times“ („NYT“). Für den Bericht wurden Interviews mit vier Offizieren, darunter auch zwei Deserteure nach dem jüngsten Militärputsch, geführt. Demonstranten und Demonstrantinnen sind in dieser Denkweise von vorneherein als Kriminelle definiert, die man ohne moralische Zweifel töten darf.

Laut eigenen Angaben hat die Tatmadaw eine ständige Truppe von rund einer halben Million Soldaten. Das Land selbst hat rund 54 Millionen Einwohner und Einwohnerinnen. Die Tatmadaw ist seit ihrer Gründung einem Abwehrkampf verpflichtet. Begonnen hat das kurz nach der Unabhängigkeit 1948. Damals waren kommunistische Guerillas, Kämpfer für Rechte der zahlreichen ethnischen Minderheiten, die rund ein Drittel der Bevölkerung in Myanmar ausmachen, und Demokratiebefürworter der Feind, der nach Militärrazzien zur Flucht in den Dschungel gezwungen war, wie die Zeitung schreibt. In dem beschränkten, kultartigen Denken der Militärs wird die Mehrheitsbevölkerung der buddhistischen Bamar auf Kosten der vielen ethnischen Minderheiten des Landes verherrlicht.

Die ausführlichen Interview mit den vier Offizieren zeigen ein komplexes und durchstrukturiertes Bild des Soldatenlebens und der Druck- und Manipulationsmittel des Militärs, das das Land seit sechs Jahrzehnten mit eiserner Hand beherrscht. Ab dem Moment, in dem die Soldaten das Militärlager betreten, beginne die Indoktrinierung, heißt es in dem Bericht. Den Soldaten werde eingetrichtert, dass sie die Wächter des Landes seien, das ohne ihre Tätigkeit zerfalle, so die „NYT“. Auch ihre Religion, der Buddhismus, falle darunter.

General Min Aung Hlaing bei einer Militärparade
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General Min Aung Hlaing bei einer Militärparade am 27. März 2021 in der Hauptstadt Naypyidaw

Abgekoppelte Welt inklusive Gehirnwäsche

Die Tatmadaw sind ein Staat im Staat, auch wirtschaftlich, und das führt zu einem äußerst privilegierten Status, denn für die Armee gibt es kein demokratisches Kontrollorgan. Sie kann in dem Land de facto herrschen, wie sie will. Die Soldaten leben in einer eigenen, vom Zivilleben abgekoppelten Welt. Die Armeeangehörigen verbringen auch ihre Freizeit mit anderen Militärs – eine in sich geschlossene Welt also, die kaum freundschaftlichen Kontakt zu Zivilisten zulässt. Durch diese Distanz zum zivilen Leben greift auch die Ideologie, dass das Militär weit über dem Rest der Bevölkerung stehe, so die „NYT“.

Laut den interviewten Offizieren werden die Soldaten auch permanent von ihren Vorgesetzten überwacht. In den Barracken sowie auch in Sozialen Netzwerken ist die Überwachung allumfassend. Die meisten Soldaten werden einer Gehirnwäsche unterzogen, so ein aus Sicherheitsgründen namentlich nicht genannter aktiver Tatmadaw-Offizier in der „NYT“. Dazu gehört auch, dass die Soldaten ständiger Propaganda ausgesetzt sind: Der Feind lauere hinter jeder Ecke, besonders auch auf Straßen in den Städten. Die Wirkung dieser Indoktrinierung zeigt sich dann eben auf diesen Straßen. So werden etwa Schießbefehle gegen friedliche, unbewaffnete Demonstranten und Demonstrantinnen durchgeführt, ohne sie zu hinterfragen. Die Tötung der Menschen wird hingenommen.

Soldatinnen der myanmarischen Armee bei einer Militärparade
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Soldatinnen bei der Militärparade in Naypyidaw

Gräueltaten und Völkermord gegenüber Minderheiten

Die ethnischen Minderheiten, darunter etwa am bekanntesten die muslimischen Rohingya, aber auch etwa die Karen und die Kachin sind seit Jahrzehnten teils brutalsten Repressionen und Gräueltaten durch das Militär ausgesetzt. Die UNO sprach beim Vorgehen gegen die Rohingya von Völkermord. Dahinter liegt auch die in der Militärausbildung indoktrinierte Auffassung vom inneren Feind, die nicht nur die Minderheiten, sondern auch die Demokratiebefürworter und die Demonstrierenden gegen den Militärputsch trifft.

Demonstranten in Myanmar
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Demonstranten in Yangon mit einer selbst gebastelten Schleuder gegen das Militär am 28. März

„Sie sehen die Protestierenden als Kriminelle, denn wenn jemand dem Militär nicht gehorcht oder gegen das Militär protestiert, ist er nach Ansicht des Militärs ein Krimineller“, so der hochrangige Militär Tun Myat Aung im „NYT“-Interview. Die meisten Soldaten hätten niemals den Geschmack der Demokratie gekostet, so Aung weiter. „Sie leben immer noch im Dunkeln“, was Demokratie angehe. Er sei in die Streitkräfte eingetreten, um sein Land zu schützen und nicht gegen die Bevölkerung zu kämpfen, erzählt ein Offizier, der auf der angesehene Militärakademie Myanmars ausgebildet wurde. Es mache ihn traurig, wenn er sehe, dass Soldaten die eigenen Leute töteten.

Enger Korpsgeist soll Loyalität erzeugen

Das äußerst brutale Vorgehen gegen die Proteste mit Hunderten Toten, der Verhaftung Tausender und Folterungen in den Gefängnissen habe den Ruf der Tatmadaw als roboterartige Kämpfer, die zum Töten gezüchtet werden, nur verstärkt, so die „NYT“. Das verengte Weltbild der Tatmadaw trage dazu bei, die Soldaten nicht zum Nachdenken kommen zu lassen. Desertationen sollen so vermieden werden. Ein enger Korpsgeist halte die Zahl der Desertationen niedrig und die Loyalität hoch, so die „NYT“. „Die meisten Soldaten wurden von der Welt getrennt, und für sie ist die Tatmadaw die einzige Welt“, sagt ein weiterer Offizier.

Die große Mehrheit der Offiziere und ihrer Familien lebt auf Militärstützpunkten, wo jede Bewegung auch der Angehörigen überwacht wird. Nach dem Putsch durften sie die Armeegründe nur für 15 Minuten ohne Erlaubnis verlassen, berichtet die „NYT“. Die Situation sei moderne Sklaverei, so ein desertierter Offizier im Interview. „Wir mussten jeden Befehl der Vorgesetzten befolgen. Man darf nicht infrage stellen, was Recht und was Unrecht ist“, so der Offizier.

Gestärkte Macht durch Heiratspolitik

Deshalb besteht auch der Hass der Militärs auf die nun seit dem jüngsten Putsch Anfang Februar unter Hausarrest stehende Aung San Suu Kyi. Ihr Vater, General Aung San, war einer der Gründer der Tatmadaw. Zu der gegenseitigen Bespitzelung und zum Erhalt des geschlossenen Systems trägt neben den wirtschaftlichen Aussichten auch bei, dass die Kinder der Offiziere oftmals untereinander verheiratet werden oder Ehen mit Nutznießern des wirtschaftlichen Systems, das das Militär kontrolliert, eingehen. So entsteht ein in sich verfilztes System, dass sich kaum auflösen lässt. Die Machtstruktur der erweiterten Verwandtschaft ziehe sich bis in die höchsten Gremien, so die „NYT“.

Diese Abgeschlossenheit und selbst gewählte strategische Isolierung der Tatmadaw, dieses paranoide System, könnte auch verstehen helfen, warum die Armeespitze die Reaktion auf den Militärputsch unterschätzt hat, schreibt die „NYT“. Offiziere, die in psychologischer Kriegsführung ausgebildet sind, posten laut Experten und auch Recherchen der „NYT“ regelmäßig in Sozialen Netzwerken, die von den Soldaten gelesen werden, wie etwa Facebook, Verschwörungstheorien über die Demokratiebewegung.

Furcht vor Invasion und fremder Macht

Und immer geht es um den inneren und äußeren Feind: So befeuert die Tatmadaw die Erzählung, dass der räuberische Westen Myanmar jeden Moment erobern könnte. Die geschürte Angst vor diesen – erfundenen – Invasionen gilt als einer der Gründe, warum eine vorherige Militärregierung die Hauptstadt von der Metropole Yangon (ehemals Rangun) nahe der Küste in die Abgeschiedenheit des Landesinnere verlegt hat. Die Eröffnung der neu gegründeten Hauptstadt Naypyidaw fand 2005 statt.

Doch um die Angst zu schüren, müssen es nicht unbedingt Invasionen mit dem Flugzeug oder vom Meer her sein. Auch in Myanmar müssen dafür eine fremde Macht und schädlicher fremder Einfluss herhalten. So werden laut der Tatmadaw die Proteste von ausländischen Kräften finanziert, Ähnliches war auch aus China angesichts der Proteste in Hongkong zu hören. „Jetzt töten die Soldaten die Leute mit dem Gedanken, dass sie ihr Land vor einer fremden Intervention schützen“, so ein Offizier, dessen Brigade die Proteste mit Gewalt niederschlug, in der „NYT“.