Stillleben mit Zitronen vom Florentiner Künstler Bartolomeo Bimbi (1648 bis 1729)
Public Domain
Kulturgeschichte

Die Früchte der Eliten

Heute Garant für die morgendliche Vitaminzufuhr, einstmals Statussymbol, Chiffre für den verheißungsvollen Süden und Cash-Crop mit enormer Gewinnspanne: Zitrusfrüchte, die einstigen Exoten aus Asien, sind zum Teil seit rund 2.000 Jahren in Europa heimisch und fixer Bestandteil der Kulturgeschichte.

Orange, Zitrone, Grapefruit, Limette, Mandarine, Kumquat – die Familie der Zitrusfrüchte ist variantenreich, und die mindestens 5.000 verschiedenen Sorten sind aus den Kochbüchern der letzten Jahrhunderte nicht wegzudenken.

Ursprünglich gehen die Agrumen (italienisch agrumi: saure Früchte) auf lediglich drei Sorten zurück, aus denen sich in vielen, zumeist spontanen Kreuzungen, alle anderen Zitrusfrüchte entwickelt haben: Die Mandarine (Citrus reticulata), ursprünglich in China heimisch, die Pampelmuse (Citrus maxima), die aus Malaysia stammt, und die Zitronatzitrone (Citrus medica), die zuerst auf den Hängen des Himalaya wuchs, bildeten die Basis für Bitterorange, Bergamotte, Limette und Co.

Grafik zur Genetik von Zitrusfrüchten
Die schematische Darstellung zeigt einige der Kreuzungen, die zu bekannten Zitrusfrüchten führen

Die Früchte fanden zu unterschiedlichen Zeiten ihren Weg nach Italien, womit jeweils ihre europäische Geschichte begann. Die Zitronatzitrone, meist mit gefurchter und von Höckern überzogener Schale, oftmals oval und bis zu 25 Zentimeter lang und vier Kilogramm schwer, besteht aus nur wenig Fruchtfleisch, dafür aber mehreren Zentimetern von weißem Fruchtgehäuse und fester Schale, die kandiert als „Zitronat“ bekannt sind und zum Backen eingesetzt werden.

Rituelle Frucht

Die Zitronatzitrone, die auf Italienisch cedro und auf Englisch citron heißt, hat der deutschsprachigen „Zitrone“ ihren Namen gegeben. Sie war auch die erste Einwanderin der Agrumen nach Italien: Als „Etrog“ gehört sie zum Ritus des jüdischen Laubhüttenfestes. Kurz nach der Eroberung Jerusalems 70 nach Christus brachten jüdische Flüchtlinge sie nach Kalabrien mit, wie die Gartenhistorikerin Helena Atlee in ihrer Kulturgeschichte der Zitrusfrüchte in Italien „The Land Where Lemons Grow“ zu berichten weiß.

In Kalabrien werden Zironatzitronen bis heute angebaut – gerade auch, um als „Etrogim“ in alle Welt exportiert zu werden. Das ist ein komplexes Unterfangen. Denn, um als koscher zu gelten, darf die Frucht laut der „Jüdischen Allgemeinen“: „keine Schnitte aufweisen, muss eine gelbgrüne dicke, glatte, falten- und sprenkellose Schale und am Ende einen Blütenansatz haben. Außerdem soll die Frucht nicht rund, aber auch nicht zu elliptisch sein und so groß, dass sie idealerweise die Hand ausfüllt.“

Cedro col Pigolo
Stadtarchiv Fürth, Germany
Eine Zitronatzitrone (ital. cedro) in einem Kupferstich des „Hesperidenwerks“ (1708) Johann Christoph Volkamers. Aufgrund der rituellen Verwendung der Frucht erscheint sie im Werk auch als „Juden-Citronat-Apfel“.

Das trifft auf zumindest zwölf Sorten zu, wie Atlee schreibt. Wer es aber besonders streng nimmt und sich an die orthodoxe chassidische Gruppierung der Lubawitsch hält, der akzeptiert lediglich eine Sorte als „perfekte“ Zitronatzitrone: Die Cedro Liscio di Diamante, die heute nur noch im nördlichen Kalabrien an einem 40 Kilometer langen Küstenstreifen zwischen Tortora und Belvedere Marittimo wächst.

Aber auch abseits des Laubhüttenfests finden Sorten der Zitronatzitrone symolbehaftete Verwendung. Die Citrus medica va. sarcodactylis etwa wächst in Form einer Hand. Gemeinhin wird sie als „Buddhas Hand“ bezeichnet und in China und dem nordöstlichen Indien, wo die Sorte wächst, als Glücksbringer, Ornament oder aufgrund ihres betörenden Duftes als Raumparfum eingesetzt. „Buddhas Hand“ besitzt kein Fruchtfleisch, sie besteht nur aus Schale und weißem Fruchtgehäuse.

Zitronenhandel und die Mafia

Ähnlich wie die Zitronatzitrone bildet die Zitrone – eine Kreuzung aus Bitterorange und Zitronatzitrone – diverse originelle Formen und Sorten aus. Ihre europäische Geschichte beginnt ebenfalls im Süden Italiens, genauer in Sizilien, das ab 831 unter arabischer Herrschaft stand.

Die Araber benutzten die Conca d’Oro (ital. „Das goldene Becken“) – die fruchtbare Gegend rund um Palermo – als eine Art Testanbaugebiet, um mit der Kultivierung von Bitterorangen, Zitronen, aber auch Melanzani zu experimentieren, allesamt Zutaten, die die sizilianische Küche bis heute prägen.

Eine späte Nachfahrin der Bitterorange hat es erst im 20. Jahrhundert zu Ruhm gebracht. Die „Chinotto“ ist mit ihrem bitteren Saft Bestandteil des Digestivs Campari und Basis für die ab circa 1950 produzierte, in Italien populäre Bitterlimonade, die nach ihr benannt ist.

Zitronenplantage im Ostens Sizilien
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Ein sizilianischer Zitronenhain: Im 19. Jahrhundert aufgrund der hohen Exportpreise ein umkämpftes Gut

Gerade aber die Zitrone erwies sich auch als wirtschaftlicher Faktor für den Süden Italiens. Aus Sizilien wurden bis zum Ersten Weltkrieg jährlich tonnenweise Zitronen in die USA exportiert. Um 1860 war die Zitrone laut Atlee das landwirtschaftliche Produkt mit der höchsten Gewinnmarge weltweit.

Nicht ohne Folgen: Die hohen Investitionskosten für Bewässerung und Aufbereitung der Böden rund um Palermo, die Bewachung der noch nicht gepflückten Früchte, das alles sei laut Atlee der Ursprung der Mafia, die sich als eine Kaste von Händlern und Brokern rund um Anbau und Verkauf der Zitrone in dieser Zeit herausgebildet habe.

Eine weitere Region, die für ihre Zitronen berühmt wurde, ist die Amalfiküste. Die saftig-süßliche Amalfizitrone galt beispielsweise im 16. Jahrhundert den Vizekönigen von Neapel als beliebte Basis für Zitronensorbet – wohlgemerkt mit in Höhlen konserviertem Schnee im Frühling zubereitet.

Zitrus und Repräsentation

Überhaupt wurden Zitrusfrüchte in der Renaissance zum Repräsentationsgegenstand Adeliger und reicher Kaufleute. In seiner Villa vor Florenz ließ Cosimo De Medici ab 1538 einen Agrumengarten mit seltenen und interessant verformtem Zitruspflanzen anlegen (italienisch „bizzarie“), die in Tontöpfen im Inneren überwintern und bis heute ab etwa Mai besichtigt werden können.

Die Eliten der Renaissance sahen sich gerne als Nachfahren der Antike. In der Gartengestaltung erinnerte man an die elfte Aufgabe des Herkules, in der dieser goldene Äpfel aus dem Garten der Hesperiden stehlen muss. Die goldenen Äpfel identifizierte man mit „goldenen“ Agrumen.

Besonders die Zitronatzitrone hatte es den Medici angetan. Wie die Kunsthistorikerin Iris Lauterbach schreibt, setzten die Medici deren lateinische Bezeichnung „Citrus medica“ in Bezug zu ihrem Familiennamen und sahen „in den Agrumen heraldische Früchte, die den Kugeln im Medici-Wappen ähneln“.

„Nürnberger Hesperides“

Der reiche Nürnberger Kaufmann Johann Christoph Volkamer übernahm von seinem Großvater dessen Seidenmanufaktur in Rovereto, wenige Kilometer vom Gardasee entfernt. Von 1660 bis 1668 lernte er dort die Grundlagen seines Geschäfts und kam wohl intensiv mit der Zitruskultur Norditaliens in Kontakt. Später in seinem Leben verfasste er, zurück in Nürnberg, ein in Umfang und Anspruch in deutscher Sprache einmaliges, mehrbändiges Werk über Zitrusfrüchte.

Lauterbach hat auf Basis eines kürzlich gefundenen Satzes von Volkamers Kupferstichen einen Prachtband herausgegeben, der die Stellung des „Nürnberger Hesperides“ (1708) in der Geschichte der Botanik und der frühneuzeitlichen Kunstbände dokumentiert.

Fotostrecke mit 5 Bildern

Pompelmus
Stadtarchiv Fürth, Germany
Lokalpatriotismus und Gelehrsamkeit: Eine Pampelmuse, eine der drei ursprünglichen drei Zitrusarten, über Nürnberg, links im Hintergrund die Bärenschanze, eine Verteidigungsanlage aus dem Dreißigjährigen Krieg
Cedro grosso Bondolotto
Stadtarchiv Fürth, Germany
Eine Zitronatzitrone (ital. cedro) symbolisierte schon für die Medici in Florenz ihr Familienwappen. Bei Volkamer steht sie für seinen Reichtum und die Blüte Nürnbergs um 1700.
Cedro d’Ollanda
Stadtarchiv Fürth, Germany
Querschnitt einer Zitronatzitrone mit der typischen dicken, weißen Schale über einer Darstellung eines Agrumengartens in Affi am Gardasee. Die Bäume sind in Töpfen aufgestellt, da sie im norditalienischen Winter in Innenräumen überwintern mussten.
Cedro col Pigolo
Stadtarchiv Fürth, Germany
Wie in Affi so auch in Nürnberg, Oberbürg: Ein stattlicher Agrumengarten und darüber eine Zitronatzitrone, von Volkamer nach ihrer rituellen jüdischen Verwendung auch als „Juden-Citronat-Apfel“ beschrieben
Pomo d’Adamo Spinoso
Stadtarchiv Fürth, Germany
Eine Zitrone der Sorte Pomo d’Adamo Spinoso (Stacheliger Adamsapfel) schwebt über der Lagune von Venedig
Buchcover J. C. Volkamer: The Book of Citrus Fruits
Taschen Verlag

Buchhinweise

  • Johann Christoph Volkamer: The Book of Citrus Fruits. Herausgegeben von Iris Lauterbach, Taschen Verlag, Deutsch, Englisch, Französisch, 600 Seiten, 125 Euro
  • Helena Atlee: The Land Where Lemons Grow. The Story of Italy and Its Citrus Fruits. Penguin Books, 248 Seiten, 9,99 Euro

Der Band zeigt detaillierte Darstellungen von Agrumen in Originalgröße über Stadt- und Gartenansichten. Dazu Lauterbach: „Bürgerliche Gärten des 17. und 18. Jahrhunderts wurden häufig vor dem Hintergrund der Stadtkulisse gezeigt. Pflanzenkultur und Gartenkunst, Vegetation und Flora eignen sich für lokalpatriotische Beschreibungen. Sie zeigen die Identifikation der Bürger mit ihrer blühenden Stadt und wurden (…) in zahlreichen Stadtchroniken als Errungenschaft des Gemeinwesens interpretiert.“

Bei Volkamer findet sich neben Lokalpatriotismus aber auch handfeste Italien-Begeisterung. Rund ein Jahrhundert vor Goethes berühmtem Gedicht „Kennst du das Land? wo die Citronen blühn“, das zuerst in „Wilhelm Meisters theatralischer Sendung“ und später in „Wilhelm Meisters Lehrjahren“ (1795) gedruckt wurde, adeln die Zitrusfrüchte in Volkamers Stichen Affi am Gardasee, Verona und Venedig.

Volkamer schließt mit seinen Bänden an die Repräsentationskultur der Renaissanceeliten an. Die Vielfalt seiner Agrumensammlung und seine profunde Kenntnis des Gegenstands ist wie bei den Medici eine Zurschaustellung der eigenen Ressourcen.

Siegeszug der süßen Orange

Die aber vielleicht erfolgreichste Karriere aller Zitrusfrüchte machte weder die Zitronatzitrone noch die Zitrone oder die aromatische Bergamotte, die als aromatisierender Bestandteil bis heute den Earl-Grey-Tee veredelt, sondern ein spätes Mitglied im variantenreichen Spektrum: die süße Orange (Citrus siniensis), eine Kreuzung aus Pampelmuse und Mandarine.

Während die Bitterorange schon seit der arabischen Herrschaft auf Sizilien im neunten Jahrhundert ihren Weg in die Kochbücher fand, brachten laut der Historikerin Atlee portugiesische Seefahrer eine süßere Variante der Orange nach Vasco da Gamas Entdeckung der Seeroute um das Kap der Guten Hoffnung 1498 nach Italien. Diese Orangen wurden laut Atlee über Jahrhunderte „portogalli“ (ital. Portugiesen) genannt. Die heute bekannte süße Orange mit ihren Varianten wie der Blutorange sind aber vermutlich sehr späte Einwanderinnen aus China.

Luis Eugenio Melendez: Stillleben
Public Domain
Luis Egidio Melendez’ „Stilleben mit Orangen, Gläsern und Schachteln“ (1760) illustriert die Beliebtheit von süßen Orangen und Marmeladen

Atlee vermutet, das der begehrte süße Vitamin-C-Spender erst Mitte des 17. Jahrhunderts seinen Weg nach Europa fand. Von seiner Herkunft zeugt noch das in Deutschland regional gebräuchliche Wort „Apfelsine“ („Apfel aus China“). Die Britin Atlee weiß übrigens auch vom Ursprung der für die Engländerinnen und Engländer so wichtigen Orangenmarmelade zu berichten.

Ein mit Sevillaorangen beladenes spanisches Schiff musste zu Beginn des 18. Jahrhunderts wegen schlechter Wetterbedingungen im Hafen in Dundee Schutz suchen. Der lokale Lebensmittelhändler James Keiller kaufte die Fracht billig auf, nur um zu bemerken, dass sie sauer waren. Es sei Keillers Mutter Janet gewesen, die auf die Idee kam, die Orangen nach dem bekannten Rezept für Quittenmarmelade zu verarbeiten. Die Rezeptur schmeckte und begründete angeblich die bis heute anhaltende Nachfrage nach „Seville Orange Marmelade“.

Früchte und Farben

Ebenso wie die Frucht machte die Bezeichnung für Orange eine beachtliche Karriere. Auf Tamil werden Bitterorangen „naranga“ benannt. Aus Burma wanderte der Name mit der Frucht, bis er über das Arabische („naranj“) aus Sizilien von den Bitterorangen als „arancia“ verbreitet wurde und wohl auch mit der arabischen Herrschaft auf der iberischen Halbinsel zu Spanisch „naranja“ und Portugiesisch „Laranja“ wurde. Im Altfranzösischen wurden Bitterorangen „pomme d’orange“ benannt, was in der heutigen Bezeichnung „Pomeranze“ für Bitterorange weiterlebt und die Basis für das Englische und Deutsche „Orange“ bildete.

Joseph Mallord William Turner: The Burning of the Houses of Lords and Commons (1834)
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William Turners Ölgemälde „The Burning of the Houses of Lords and Commons“, circa 1835, zeugt vom Siegeszug des synthetischen Orange in der Malerei

Als Farbadjektiv findet Atlee „arancio“ erst ab dem 13. Jahrhundert und merkt an, dass ein solches erst allgemein verständlich existieren könne, wenn der namensgebende Gegenstand ausreichend Verbreitung gefunden habe. Im nördlichen Europa war das wohl erst mit der zunehmenden Verbreitung beheizter Gewächshäuser – der Orangerien – etwas ab Volkamers Zeit im 17. Jahrhundert der Fall.

Noch Johann Christoph Adelungs „Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart“ (1811) tut sich mit dem Wort „orange“ sichtlich schwer: „Die Orange oder Orangen Farbe, und mit einem dem Deutschen näher gebrachten Ausdrucke die Oranien-Farbe ist die dunkle röthlich gelbe Farbe, welche aus citronen-gelb und roth gemischt ist, und den Übergang der gelben Farbe in das Morgenroth ausmacht. Daher das Bey- und Nebenwort orangen, orangefarben, orangefarbig, orangegelb, oraniengelb, diese gelbe Farbe habend.“

Das spiegelt sich auch in der Kunstgeschichte. Bis zur selbstverständlichen und emotionalen Verwendung des Orange dauerte es bis mindestens 1809, als das erste künstliche Orange synthetisiert wurde. Bezeichnenderweise heißt dieses Pigment, das bei William Turner, den Präraffaeliten und den Impressionisten eingesetzt wurde, auf Englisch „Chromatic Orange“, auf Deutsch aber „Chromrot“ oder auch „Türkischrot“ und „Wiener Rot“.