Landschaftszeichnung von Rembrandt van Rijn
Albertina, Wien
Rembrandt-Buch

Die Auferstehung der Originale

Zu den wenigen Freiheiten im neuerlichen Lockdown zählen Spaziergänge. Vor rund 400 Jahren zog es auch Rembrandt hinaus in die Gefilde rund um Amsterdam. Der Albertina-Kurator Achim Gnann widmet seinen neuen Band „Rembrandt. Landschaftszeichnungen“ dessen virtuosen Naturdarstellungen mit Windmühlen und Bauernhöfen. Der Clou des Buches: Der Kunsthistoriker schreibt rund 160 Blätter erneut dem alten Meister zu.

Die Durchforstung war heftig: In den letzten 50 Jahren wurde das Werk von Rembrandt Harmenszoon van Rijn (1606–1669) durch Aberkennungen immer schmaler. Nach und nach ersetzten die Namen von Weggefährten, Schülern, Nachahmern oder „anonym“ die Zuschreibungen an den Barockkünstler.

Die größte Axt packte das „Rembrandt Research Project“ aus. Diese Initiative von Amsterdamer Kunstwissenschaftlern und Kunstwissenschaftlerinnen durchleuchtete ab 1968 weltweit Rembrandts Gemälde. Ihren umfangreichen Analysen fiel zum Beispiel das berühmte Porträt „Der Mann mit dem Goldhelm“ zum Opfer, das jahrzehntelang zu den Highlights der Berliner Gemäldegalerie zählte. Seit 1986 gilt die Signatur „Rembrandt“ als ein Schwindel.

Falsche Datierungen

Der Abschreibungseifer der Spezialisten machte auch vor den Zeichnungen des Künstlers nicht Halt. Anlässlich des 350. Todestages von Rembrandt vor zwei Jahren brachte der Taschen Verlag zwei massive Werkbände heraus. In dem fast sieben Kilo schweren Wälzer „Sämtliche Zeichnungen und Radierungen“ werden rund 100 eigenhändige Landschaftszeichnungen des Künstlers angeführt.

Landschaftszeichnung von Rembrandt van Rijn
Albertina, Wien
Rembrandt, „Die ehemalige Kupfermühle auf der Weesperzijde“, späte 1640er Jahre, Feder und Pinsel in Braun

Dieser Zahl widerspricht Albertina-Kurator Achim Gnann bei Weitem. Gemäß seinen langjährigen Forschungen, die er in der Coronavirus-Zeit zum Buch bündelte, weist der Kunsthistoriker insgesamt 260 Landschaftszeichnungen als Originale aus. „Ich habe schon seinerzeit mit dem damaligen Albertina-Direktor Konrad Oberhuber diskutiert, warum Rembrandt immer mehr Zeichnungen aberkannt würden“, erzählt Gnann im Interview mit ORF.at. Aber Oberhuber, von 1987 bis 1999 Leiter der Grafischen Sammlung, hätte sich diesen Umstand auch nicht erklären können.

Die Verluste an Papierarbeiten waren auch insofern betrüblich, als Otto Benesch, der Leiter der Albertina in der Nachkriegszeit, eine Autorität für die Zeichenkunst des Künstlers gewesen ist. Er verfasste dazu in den 1950er Jahren ein sechsbändiges Werkverzeichnis. Lag Benesch wirklich so falsch? Nein, meint Gnann, sein Vorläufer habe sich nicht bei den Zuschreibungen, aber bei etlichen Datierungen geirrt. Dadurch sei es zu Ungereimtheiten gekommen.

Erleichterungen durch Onlinedatenbanken

Aber wie stark hat sich die Expertenarbeit mit Zeichnungen seit den 1950er Jahren verändert? Im Grunde genommen gar nicht so sehr, findet Gnann. Benesch seien damals von vielen Zeichnungen nur Schwarz-Weiß-Abbildungen zur Verfügung gestanden, heute hingegen könne man alles blitzschnell aus Onlinedatenbanken hochladen und hineinzoomen.

Albertina-Kurator Achim Gnann
APA/Wolfgang Huber-Lang
Albertina-Kurator Achim Gnann mit seinem neuen Band „Rembrandt. Landschaftszeichnungen“

„Die eigentliche Tätigkeit des Stilvergleichs ist aber dieselbe geblieben“, so Gnann, der in seinen Ausführungen vor allem Rembrandts enorme Fähigkeit betont, Detailreichtum und Atmosphäre zu verknüpfen. Die Versuche anderer Künstler, den „universalen Blick“ und die Tiefe des nicht umsonst berühmten Niederländers nachzuahmen, seien sehr beschränkt ausgefallen.

Virtuose Federarbeit

Bereits in den 1910er Jahren rekonstruierte der niederländische Kunsthistoriker Frits Lugt mit Hilfe von alten Karten und Lithografien die Lieblingsrouten des Künstlers hinaus zum Stadtwall oder an die Amstel. In seinem Buch „Mit Rembrandt in Amsterdam“ zeigte Lugt auch, dass der wanderfreudige Müllerssohn Pfade einschlug und Motive aufgriff, die bereits bei Vorläufern beliebt gewesen waren.

Landschaftszeichnung von Rembrandt van Rijn
Albertina, Wien
Rembrandt, „Blick auf die Amstel und ‚Het Molentje‘“, späte 1650er Jahre

Rembrandt stellte Dörfer gerne aus der Ferne dar und ließ Gebäude halb verdeckt zwischen Baumgruppen hervorlugen. Figuren kommen nur spärlich vor, dafür verleiht er Bäumen und Heuschobern viel Charakter. Direkt im Freien zückte Rembrandt den Kreidestift und zeichnete in sein Skizzenbuch. In der Werkstatt tunkte er die Kiel- oder Rohrfeder für feinere oder gröbere Linien in die Tusche. Um die Flächen von Schatten oder Gewässern zu kreieren, trug er mit dem Pinsel dünne Farbschichten auf.

Über Stock und Stein

Sehr schön zu sehen sind diese Lavierungen in dem Blatt „Bauernhäuser vor gewittrigem Himmel“. Dunkle Wolken schieben sich darin über ein Gehöft, das gerade noch im Sonnenlicht liegt. Die 18 mal 24 Zentimeter kleine Zeichnung in brauner Tusche hängt derzeit in der Ausstellung „Stadt und Land. Zwischen Traum & Realität“, die 200 Grafiken aus der Sammlung der Albertina versammelt. Die Schau war bereits einige Tage einsehbar, die offizielle Eröffnung wurde jedoch aufgrund der aktuellen CoV-Maßnahmen in der Ostregion auf die Zeit nach dem Lockdown verschoben.

„Rembrandt gibt ganz unspektakuläre Motive wie Felder oder Kanäle wieder, dennoch entsteht ein so unmittelbarer Eindruck, als würde man ihn bei seinen Spaziergängen begleiten“, schwärmt die Kuratorin der Schau, Eva Michel, über den intimen Charakter dieser Kleinformate. Der Künstler habe, so Michel, auch seine Naturbilder komponiert, etwa darin, wie er einen Sturm aufziehen lässt. Auch das Freilassen des Papiers, und wie Rembrandt oft mit einer einzigen Linie Raumtiefe erzeuge, sei beeindruckend.

Spätwerk freier und abstrakter

In seinem Buch verfolgt Gnann Rembrandts Landschaften chronologisch. Zwischen 1640 und 1655 gebe es, so Gnann, Phasen, in denen Rembrandt seine Motive fantasievoll aus der inneren Vorstellung entwickelte. Dann hielt sich der Künstler wieder genau an das Gesehene, zeichnete „naer ’t leven“ – also nach dem Leben, wie es auf Niederländisch hieß. Als Rembrandt auf seinen 50. Geburtstag zuging, wurde seine Linienführung immer malerischer, freier und abstrakter.

Buchcover von „Rembrandt Landschaftzeichnungen/Landscape Drawings“
Michael Imhof Verlag
Achim Gnann: Rembrandt. Landschaftszeichnungen. Michael Imhof Verlag, 368 Seiten, 81,20 Euro.

„Wir spüren direkt das Streifen des Lichts, den Windzug, das Aufblitzen des Laubs und des Hausdachs in der Sonne. Rembrandt stellt hier das spontane Naturerlebnis über die genaue Erfassung der topografischen Begebenheit“, heißt es im Buch über drei Zeichnungen von Bauernhäusern, die von Bäumen umgeben sind.

Rehabilitierte Linien

Rund um den Tod ihres Gründers Herzog Albert von Sachsen-Teschen 1822 zählte das Sammlungsinventar der Albertina noch 141 Zeichnungen von Rembrandt, darunter Porträt- und Figurenstudien oder Tierbilder wie sein bekannter Elefant. Gut 130 Jahre später machte bereits Benesch große Abstriche und listete in seinem Katalog der Zeichnungen nur noch 64 eigenhändige Blätter.

Durch die Forschung der letzten Jahrzehnte reduzierte sich diese Zahl noch weiter auf 40 Zeichnungen. In seinem aktuellen Band, in dem die Zeichnungen durch das Studium von Druckgrafiken, Gemälden und Werken der mittlerweile besser erforschten Rembrandt-Schüler kontextualisiert werden, argumentiert Gnann eine neue Chronologie. „Ich sitze auf starken Schultern“, sagt Gnann über Beneschs Werkverzeichnis, das er größtenteils rehabilitiert.

„Das wird Ärger geben“

Nach Gnanns Meinung hätten sich andere Rembrandt-Forscher zu sehr mit der Analyse grafischer Details, „irgendwelcher Gestrichel“, aufgehalten und dabei den Gesamteindruck aus den Augen verloren. Die Fachwelt dürfte über seine Revision nicht erfreut sein. „Das wird Ärger geben“, sagt der offiziell auf italienische Kunst spezialisierte Kurator, der mit viel Widerspruch rechnet.

Bei Auktionen ließe sich übrigens schon länger beobachten, dass „ehemalige“ Rembrandt-Zeichnungen, die bei Benesch noch als Originale galten, wesentlich höhere Preise als ihre Schätzwerte erzielen würden. „Der Kunstmarkt hat wohl auch schon Lunte gerochen, dass diesen kategorischen Abschreibungen nicht zu trauen ist.“