Nachdem Belgien in der zweiten Coronavirus-Welle als eines der am stärksten betroffenen Länder Europas gegolten hatte, gelang es im Winter, die Zahlen niedrig zu halten. Seit März steigt die Zahl der Neuinfizierten jedoch wieder stark, die 7-Tage-Inzidenz liegt bei fast 300, und die Belegung der Intensivstationen kratzt wieder an der kritischen Marke. Aktuell gilt ein vierwöchiger Osterlockdown. Obwohl in dem 11,5-Mio.-Einwohner-Land bereits mehr als 23.000 Menschen an dem Virus gestorben sind, schwindet die Bereitschaft, die Einschränkungen im Alltag mitzutragen.
„Brüsseler Revolution“ titelte die „Gazet van Antwerpen“, von einer „Feldschlacht“ berichten gleich mehrere belgische Medien am Freitag. Rund 1.500 Menschen waren einer Facebook-Einladung zu einem Festival mit dem Titel „La Boum“ („Die Party“) in den Park Bois de la Cambre im Süden der Stadt gefolgt. Die Veranstalter beteuerten, es habe sich um einen offensichtlichen April-Scherz gehandelt, schon vorab warnten die Behörden vor einer Teilnahme und drohten mit strafrechtlichen Konsequenzen: Offiziell sind in Belgien im Freien derzeit nur Zusammenkünfte von bis zu vier Menschen erlaubt.

Wasserwerfer, berittene Polizisten und Polizeihunde kamen zum Einsatz und trafen bei ihrem Versuch, die Versammlung aufzulösen, auf Widerstand: Bilder vom Ort des Geschehens zeigten blutüberströmte Polizisten, mindestens eine brennende Barrikade und offensichtlich betrunkene Jugendliche und junge Erwachsene. 26 Polizisten wurden laut Agenturangaben verletzt, 22 Menschen wurden festgenommen.
Wasserwerfer erneut im Einsatz
Zu einem neuerlichen Großeinsatz der Polizei kam es am Freitagabend, nachdem sich erneut Hunderte im Bois de la Cambre zusammenfanden. So wie am Vortag wurden nach Angaben eines dpa-Reporters die letzten größeren Gruppen erneut mit Wasserwerfern, Pferden und Tränengas aus dem Park gedrängt.
Zuvor waren die Menschen per Lautsprecher aufgefordert worden, den Park wegen der Verstöße gegen die Hygienebestimmungen zu verlassen. In einem Bericht der Nachrichtenagentur Belga war von elf Festnahmen die Rede. Verletzte habe es nicht gegeben. Den dpa-Angaben zufolge waren zuvor aber Flaschen, Äste und Pyrotechnik auf die Polizistinnen und Polizisten geworfen worden.
Premierminister De Croo appelliert an Solidarität
Belgiens Premierminister Alexander De Croo bezeichnete vor den neuerlichen Zwischenfällen die Ausschreitungen vom Vortag als „völlig inakzeptabel“. In einem Statement auf Twitter kündigte er am Freitag Unterstützung für verletzte Polizisten an. Er verstehe eine gewisse CoV-Müdigkeit. Die Regeln gebe es aber aus gutem Grund, und sie seien für alle gültig. „Die Krankenhäuser füllen sich. Heute solidarisch zu sein ist der Schlüssel zur Freiheit von morgen“, sagte De Croo.
Aktuell ist es für die sozialliberale Sieben-Parteien-Koalition De Croos noch schwieriger als sonst, mit den geltenden Regeln zu argumentieren: Das gesamte Maßnahmenbündel wurde Mitte der Woche in einem erstinstanzlichen Urteil rechtlich für nichtig erklärt. Die belgische Organisation Liga für Menschenrechte hatte im Februar gegen eine ministerielle Verordnung vom Oktober 2020 geklagt, auf der auch später beschlossene Maßnahmen beruhen.
„Das Ziel unserer Aktion ist es, die parlamentarische Debatte wieder in den Mittelpunkt zu stellen“, sagte die Anwältin der Organisation. Grundfreiheiten könnten nicht per Verordnung eingeschränkt werden, das Parlament müsse beteiligt werden – insbesondere ein Jahr nach Beginn der Pandemie.
Pipeline-Unglück als Gesetzesblaupause für Pandemie
Einem Bericht von „Le Soir“ zufolge ist die Rechtsgrundlage für die belgischen Maßnahmen ein Gesetz für Evakuierungen in Katastrophenfällen, das 2007 infolge eines schweren Explosionsunglücks an einer Gaspipeline verabschiedet wurde. Die den Behörden übertragenen Befugnisse seien darin klar definiert und deckten die aktuelle Situation nicht ab, heißt es in dem Urteil.

Der belgische Staat hat 30 Tage Zeit, um ein passendes Gesetz zu schaffen oder die Maßnahmen zurückzunehmen. Andernfalls drohen Strafzahlungen in Höhe von 5.000 Euro pro Tag. Der Liga der Menschenrechte zufolge können Betroffene außerdem gegen Strafen auf Basis der für illegal erklärten Verordnung vorgehen.
Regierung verweist auf „Pandemiegesetz“ in Arbeit
Es wurde erwartet, dass die Regierung gegen die erstinstanzliche Entscheidung Berufung einlegen wird. „Le Soir“ weist außerdem darauf hin, dass ein „Pandemiegesetz“, das die rechtliche Grundlage für die aktuelle Lage schaffen soll, am Mittwochnachmittag im zuständigen Ausschuss des belgischen Parlaments in Brüssel zur Debatte stand.
Die Menschenrechts-NGO kündigte bereits Widerstand gegen den diskutierten Gesetzentwurf an, „insbesondere weil er zahlreiche Befugnisse für die Regierung vorsieht, um Rechte und Freiheiten einzuschränken“. Es sei zu hoffen, dass die Abgeordneten bei ihrer Arbeit das nun gefällte Urteil berücksichtigen würden, erklärte die traditionsreiche Organisation.