Türkischer Präsident Recep Tayyip Erdogan
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Erdogan unter Druck

EU-Spitze auf heikler Mission in der Türkei

Die EU setzt ihre Bemühungen für einen Neustart der Beziehungen mit der Türkei fort. Bei einem Besuch von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel am Dienstag in Ankara findet erstmals seit einem Jahr ein Treffen mit Staatschef Recep Tayyip Erdogan statt. Die EU-Spitzen haben für Erdogan einige Angebote dabei, doch es wird ein heikles Treffen: Erdogan ist innenpolitisch unter Druck – und reagiert darauf wie so oft mit Muskelspielen.

Voraussetzung für eine Wiederannäherung ist laut der EU eine Kooperationsbereitschaft der Türkei im Konflikt mit den EU-Mitgliedern Griechenland und Zypern um Gasbohrungen im östlichen Mittelmeer. Die EU hatte hier seit 2019 Sanktionen gegen die Türkei verhängt. Zumindest zu Gesprächen zeigte sich die Türkei zuletzt bereit.

Am 14. April ist ein Treffen des griechischen Außenministers Nikos Dendias mit seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu geplant. Doch die Türkei setzt immer wieder Spitzen: So überflogen zwei türkische Kampfjets am Montag die bewohnte griechische Inselgruppe Inousses in der Ostägäis. Zudem gab es in den vergangenen Wochen weitere Dutzende Luftraumverletzungen seitens der Türkei.

Frauenrechte ausgehebelt und Verbotsverfahren gegen HDP

Insgesamt setzte die Türkei in den vergangenen Wochen Schritte, die der EU eher zu denken geben müssten. Mitte März verkündete die türkische Regierung den überraschenden Austritt aus der Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen. Nur wenige Tage davor wurde ein Verbotsverfahren gegen die prokurdische Partei HDP eingeleitet. Erdogan beschuldigt die linksgerichtete zweitgrößte Oppositionspartei des Landes regelmäßig, der politische Arm der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu sein, die im Südosten des Landes und im Nordirak gegen die türkische Armee kämpft.

EU-Verhandlungen zu Flüchtlingspolitik

Die EU-Spitze startet am Dienstag Gespräche mit der Türkei und will einen Neustart der Beziehungen, etwa in der Flüchtlingspolitik. In diesem Kontext will die EU auch in die griechischen Flüchtlingslager auf den Mittelmeerinseln neuerlich investieren.

Tatsächlich hat sich die HDP seit einigen Jahren als linke Oppositionspartei etabliert, die Erdogans AKP mehrfach entscheidende Prozente bei Wahlen kostete. Auch Verhaftungswellen von HDP-Politikern konnten das nicht ändern. Derzeit ist das HDP-Verbot gerichtlich anhängig, das Verfassungsgericht übertrug die Entscheidung wegen Fehlern im Verbotsantrag an den Obersten Gerichtshof zurück. Aus der EU kamen sowohl zu dem Ausstieg aus der Istanbul-Konvention als auch zum HDP-Verbotsverfahren zwar empörte Kommentare und drastische Appelle – aber auch nicht mehr.

Frauen und Ex-Admiräle verhaftet

Auch am Montag gab es in der Türkei noch Aufregungen: In der südosttürkischen Metropole Diyarbakir wurden bei einer Razzia in einem Frauenrechtsverein 22 Frauen festgenommen. Der Verein setzt sich nach eigenen Angaben für Frauen ein, die Opfer von Gewalt geworden sind. Und nach öffentlicher Kritik von pensionierten türkischen Admirälen an dem Mammut-Bauprojekt „Istanbul-Kanal“ wurden am Montag zehn Admiräle im Ruhestand festgenommen. Erdogan warf den Ex-Offizieren vor, in ihrem Brief indirekt mit einem Staatsstreich gedroht zu haben.

Kritiker des „Istanbul-Kanals“ fürchten neben Umweltschäden auch, dass das umgerechnet rund acht Milliarden Euro teure Projekt den Vertrag von Montreux unterwandern könnte. Das internationale Schifffahrtsabkommen von 1936 regelt die Durchfahrt im Bosporus und in den Dardanellen. Es garantiert unter anderem zivilen Schiffen die Passage in Kriegs- und Friedenszeiten.

Schlechte Umfragedaten

Politische Beobachter konstatieren Erdogan immer dann besondere Muskelspiele, wenn er unter Druck steht. Und tatsächlich hat der Präsident schon bessere Zeiten gesehen. Im Parlament ist er auf die Unterstützung der ultranationalistischen MHP angewiesen. Aber auch mit dieser Partei als Partner käme er laut aktuellen Umfragen nicht auf eine absolute Mehrheit. Der Austritt aus der Istanbul-Konvention und der HDP-Verbotsantrag gelten als Zugeständnis an die MHP und streng religiöse Zirkel.

Hohe Inflation und Arbeitslosigkeit

Die Türkei kämpft vor allem in der Wirtschaftspolitik: Im März sei die Inflationsrate bei 16,19 Prozent gelegen, teilte das türkische Statistikamt am Montag mit. Im Februar waren die Verbraucherpreise im Jahresvergleich um 15,61 Prozent gestiegen. Lebensmittel bleiben weiter teuer. Die Preise stiegen im März auf Jahresbasis um 17,44 Prozent. Angesichts hoher Arbeitslosigkeit und einer dritten Coronavirus-Welle, mit der die Türkei zurzeit kämpft, erschwert das die Situation für die Menschen im Land weiter.

Der damalige Notenbankchef Naci Agbal hatte versucht, mit starken Zinserhöhungen die Lage in den Griff zu bekommen. Vor rund zwei Wochen erhöhte er den Leitzins überraschend deutlich um 2,0 Prozentpunkte auf 19 Prozent – und wurde daraufhin von Erdogan nach wenigen Monaten im Amt entlassen. Die Lira stürzte ab.

40.000 Infektionen pro Tag

Und das Land hat auch bei der Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie Probleme: Das türkische Gesundheitsministerium meldete am Montag zum vierten Mal in Folge mehr als 40.000 Neuinfektionen an einem Tag. Die 7-Tage-Inzidenz ist besonders in der Millionenmetropole Istanbul mit 590 Fällen pro 100.000 Einwohner in einer Woche hoch.

Das Land mit rund 84 Millionen Einwohnern hatte die Beschränkungen Anfang März teilweise aufgehoben – seitdem steigen die Fallzahlen rapide. Seit Mitte Jänner impft die Türkei mit dem Impfstoff des chinesischen Herstellers Sinovac. Zwar wurden schon rund 17 Millionen Menschen zumindest mit einem Erststich geimpft, Effekte stellen sich aber noch kaum ein.

Flüchtlingspakt als zentraler Punkt

Die EU-Spitze reist also zu einem sehr heiklen Zeitpunkt nach Ankara, um der Türkei einen Neustart der Beziehungen schmackhaft zu machen. Ankara fordert zudem schon lange von der EU mehr Geld für die Versorgung der rund 3,7 Millionen Syrien-Flüchtlinge in der Türkei. Im Flüchtlingspakt von 2016 waren Erdogan sechs Milliarden Euro zugesagt worden.

Ausgezahlt sind laut EU-Kommission bisher 4,1 Milliarden Euro. Aber auch die restlichen Gelder sind bereits fest verplant. Die EU-Staats- und -Regierungschefs sind bereit, die Finanzierung fortzusetzen. Gleichzeitig fordert man, dass die Türkei wie 2016 vereinbart, neu auf den griechischen Inseln ankommende Flüchtlinge zurücknimmt, wenn deren Asylanträge abgelehnt werden. Im Sommer 2020 setzte die Türkei die Rücknahme aus. Brüssel forderte Ankara „dringend“ auf, diese wieder aufzunehmen.

Im Gepäck hat die EU-Kommission zudem ein Angebot zur Erweiterung der Zollunion mit der EU, die für die Türkei schon jetzt ein zentraler Wirtschaftsfaktor ist. Vage Pläne gibt es zudem für Reiseerleichterungen: Schon 2016 hatte die EU Ankara die Aufhebung des Visazwangs für türkische Bürger in Aussicht gestellt. Doch die Gespräche steckten bald fest, weil die Türkei ihre weit gefassten Anti-Terror-Gesetze nicht ändern wollte.