Szene aus dem Film „Nomadland“.
Disney
„Nomadland“

Neuer Blick auf die USA

Oscar-Gewinnerin Chloe Zhao stellt mit ihrem Roadmovie „Nomadland“ gleich mehrere uramerikanische Mythen auf neue Beine. Die Neuvermessung Amerikas zeichnete schon ihre beiden ersten Filme aus. Ihr Debüt „Songs My Brothers Taught Me“ ist nun erstmals über Stream verfügbar.

„Was willst du werden nach deinem Abschluss?“ – „Rodeoreiter“, heißt es in „Songs My Brothers Taught Me“. An dem Ort, wo Zhaos Erstling von 2015 spielt, ist das ein ganz normales Berufsziel eines High-School-Schülers. Der Schauplatz ist das Lakota-Reservat Pine Ridge in South Dakota, wo viele Väter trinken, Jugendliche früh auf sich selbst gestellt sind und Lakota-Sioux-Traditionen immer noch überlebt haben.

Der Horizont ist weit entfernt, und was jenseits davon liegt, wirkt unerreichbar für das Geschwisterpaar im Zentrum des Films, einen jungen Burschen und seine kleine Schwester. Die Landschaften und Motive – die Pferde, die Steppe, die Freiheitsliebe – sind aus dem amerikanischen Western vertraut, doch die Handschrift ist charakteristisch und dieselbe, die auch heuer bei den Oscars zur Wahl steht.

Szene aus dem Film „Songs“.
Mubi
John Reddy spielt in „Songs My Brothers Taught Me“ den jungen Johnny, der nur weg will aus dem Lakota-Reservat

„Nomadland“ in sechs Kategorien nominiert

Zhaos „Nomadland“ ist einer der wenigen Oscar-Filme, die noch nicht über Streaming zugänglich sind. Ebenfalls kein fixes Startdatum hat bisher Emerald Fennells Debütfilm „Promising Young Woman“.

Immerhin sind Zhaos bisherige zwei Spielfilme nun erstmals online verfügbar: „Songs My Brothers Taught Me“ erzählt in einer Symbiose aus Naturalismus und kinematografischer Überwältigung vom 18-jährigen Johnny Winters (John Reddy), der nach dem Tod des Vaters seine Mutter mit Alkoholschmuggel finanziell zu unterstützen versucht.

Seine elfjährige Schwester Jashaun (Jashaun St. John) sucht unterdessen Anschluss an die Restfamilie, insgesamt 25 Geschwister und Halbgeschwister, die Bullen reiten und Mustangs zähmen. Johnny aber will nur weg aus dieser landschaftlich schönen, doch trist anmutenden Gegend, mit dem selbst reparierten Pick-up, natürlich nach Los Angeles.

Filmhinweis

„Songs My Brothers Taught Me“ ist derzeit exklusiv auf der Arthouse-Streamingplattform MUBI verfügbar.

„The Rider“ streamt auf unterschiedlichen kommerziellen Plattformen, etwa Amazon Prime, iTunes u.a.

Heimatfilmmotive ohne jeden Kitsch

Dichter können die nordamerikanischen Heimatfilmmotive kaum verwoben sein, dabei zugleich kaum näher an der Wirklichkeit. Für das Projekt recherchierte Zhao jahrelang im Pine-Ridge-Reservat. Sie drehte ohne Drehbuch und mit Laiendarstellerinnen und -darstellern, die die Umgebung und ihre Rituale sehr genau kennen.

Viele Mitwirkende spielen behutsam dramatisierte Versionen von sich selbst, viele Zusammenkünfte im Film wurden nicht für die Kamera inszeniert. Fast noch näher aber sind Realität und Fiktion in Zhaos zweitem Film: In „The Rider“ (2018) schildert die Regisseurin, wie der junger Cowboy Brady Blackburn, wieder ein Lakota Sioux, nach einer Kopfverletzung bei einem Rodeo sein Leben neu sortieren muss, weil er seine Herzensarbeit nicht mehr tun darf.

Außergewöhnliche Regie mit Laien

„The Rider“ handelt eindrucksvoll von Freiheit, Lebensgefahr und einem Neuanfang und ist ein direktes Resultat aus den vorangegangenen Dreharbeiten. Am Set von „Songs My Brothers Taught Me“ hatte Zhao nämlich die Bekanntschaft des jungen Rodeostars Brady Jandreau gemacht, der kurz danach einen Reitunfall erlitt.

„The Rider“ basiert auf Jandreaus Geschichte, er selbst stellt diesen Brady Blackburn dar. Auch seine Freunde und Familie spielen mit. Dennoch hat „The Rider“ nichts von einem Dokumentarfilm, im Gegenteil. Wie Zhao ihren Laienschauspielerinnen und -schauspielern so wahrhaftige, klare Darstellungen entlockt, ist beeindruckend, ebenso, wie nah sie der Welt kommt, in der sie dreht – ohne Sicherheitsabstand, als wären sie und ihr Team kein Fremdkörper im Reservat.

Mehr Fiktion

Die 38-jährige Zhao ist gebürtige Pekingerin, hat in New York Kunst studiert und landete nach einigen Kurzfilmen an Robert Redfords Sundance Institute, wo sie ihren Erstlingsfilm entwickelte. Beim Sundance Festival feierten ihre ersten beiden Filme dann auch Premiere. „Nomadland“ markiert nun ihren endgültigen Durchbruch.

Regisseurin Chloé Zhao und Schauspielerin Frances McDormand.
Disney
Chloe Zhao und Frances McDormand nahmen den Goldenen Löwen via Onlineverbindung unterwegs entgegen.

Die Premiere fand vergangenen September beim Filmfestival in Venedig statt, wo Zhao prompt den Goldenen Löwen erringen konnte. Obwohl wieder unverkennbar in Zhaos naturalistischer Handschrift, ist „Nomadland“ viel eindeutiger eine Fiktion, schon ablesbar an der Besetzung der Hauptrolle, die mit Frances McDormand erstmals ein Schauspielstar übernommen hat.

Herzensprojekt von McDormand

Der Film ist für McDormand ein Herzensprojekt, das sie selbst an Zhao herangetragen hat. Er handelt von modernen Nomadinnen und Nomaden, die sich aus wirtschaftlicher Not für ein Leben unterwegs entschieden haben. Zhao drehte dafür vier Monate lang in einem Wohnmobil großteils mit Menschen, die sich im Film mehr oder minder selbst spielen.

Im Zentrum des Films steht McDormand in der Rolle der Arbeiterin Fern, die nach dem Verlust von Arbeitsplatz und Zuhause in einer ehemaligen kleinen Industriestadt in Nevada aufbricht und versucht, sich fortan mit ihrem Wohnmobil durchzuschlagen. Dieses Lebenskonzept, wie „Nomadland“ es erzählt, ist ebenso desolat wie romantisch.

Unkritische Verfilmung kritischer Vorlage

Viele der Leute, denen Fern im Film begegnet, sind schwerkrank und in ihrer Armut gezwungen, Jobs unter widrigsten Bedingungen anzunehmen und ihre Campingwagen gelegentlich auch dort zu parken, wo es keinen Strom für die Heizung gibt. Trotzdem ist abends am Lagerfeuer vor allem von Freiheit und Solidarität die Rede und kein Arbeitsplatz je wirklich unerträglich.

Die ins Positive gewendete Handlung ist insofern überraschend, als sich der Film auf das Sachbuch „Nomadland: Surviving America in the Twenty-First Century“ der Journalistin Jessica Bruder beruft, das die Ausbeutung von Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeitern auf Campingplätzen, an Fließbändern und im Versandhandel zum Thema hat. Tatsächlich kommt etwa Amazon, dessen Arbeitsbedingungen in Bruders Buch unter starker Kritik stehen, auch im Film als Ferns Arbeitgeber mit Namen und Logo vor, dort allerdings ohne jegliche Problematisierung.

Superheldenfilm demnächst im Kino

Vielleicht sind heute Zugeständnisse an einen Giganten wie Amazon, längst ein wichtiger Player im Filmbusiness, die Voraussetzung für eine stabile Karriere in Hollywood. Nicht weniger als sechs Filme, die heuer für die Oscars nominiert wurden, sind Amazon-Produktionen. Das ist insofern schmerzvoll, als es die Integrität von Zhaos Autorinnenstimme infrage stellt.

Es schmälert aber nicht die Leistung ihrer Filme, amerikanische Identität in neuen Kontext zu stellen – nur offenbar nicht ganz so ungeschönt wie gedacht. Immerhin dürfte Zhaos Karriere auf Schiene sein: Ihr vierter Film „The Eternals“ ist eine Superheldencomic-Verfilmung mit großem Budget, abgedreht und fertig produziert – und bereit für die Kinos, wenn sie es auch sind.