Pianist und Autor Igor Levit
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Igor Levit

Flügel, Tweets und Eminem

Unter allen Hypes im Klassikbereich ist der um den Pianisten Igor Levit einer der größten. Levit ist nicht nur Spezialist in seinem Fach. Er ist, gerade auch durch seine Biografie und sein Aufwachsen, ein politisch aktiver Kopf. Er mischt sich ein, etwa auf Twitter gegen Rechts. „Zeit“-Journalist Florian Zinnecker begleitete den Klassikstar nun über ein Jahr hinweg. Das gemeinsame Buchprojekt „Hauskonzert“ zeichnet das Porträt eines Unangepassten, der mit Lockdown-Wohnzimmerkonzerten Trost spendete und den Rapper Eminem zu seinen Vorbildern zählt.

Wer die teils hitzigen Debatten im deutschen Feuilleton rund um Levit verfolgt hat, dem wird in diesem Buch vieles nicht neu sein. Unzählige Artikel und Porträts sind erschienen, seit der heute 32-Jährige 2010 als „einer der großen Pianisten dieses Jahrhunderts“ („FAZ“-Musikkritikerin Eleonore Büning) gefeiert wurde – eine Zäsur und Bürde für Levit, wie man nun liest.

Dem noch unbekannten „dicken Kind“ hatte Büning damals die Fähigkeit beschieden, die großen Stücke der Musikgeschichte so zu erzählen, dass sie das Leben neu spiegeln, „dass wir alles leicht begreifen mit den Ohren und dem Herzen“. Und Levit machte tatsächlich die prophezeite Karriere.

Heute begeistert er mit seinen Plattenveröffentlichungen weit über die Klassikgrenzen hinaus, füllt die großen Häuser und ist mittlerweile Professor in Hannover. Vom deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier bekam er 2020 das Bundesverdienstkreuz verliehen, für seine zu Beginn der Pandemie gespielten täglichen Hauskonzerte, die er vom Wohnzimmer mit der Handykamera übertrug.

Twitter-Aktivismus und Deutsch-Rap-Begleitung

„Hauskonzert“ heißt jetzt auch die Autobiografie, in der Zinnecker mit kurzen Absätzen, lockerem Schreibstil und sprunghaft zwischen den Zeiten wandernd Levit nahezukommen versucht. Dabei geht es natürlich auch um die Frage, wie Politik und Klavierspiel zusammenhängen (ganz organisch, so Levits Antwort darauf).

Journalist Florian Zinnecker und Pianist Igor Levit
Felix Broede
„Zeit“-Journalist Zinnecker begleitete Levit in der Saison 2019/2020 und brachte die vielen Gespräche in Buchform

Levit mischt sich, anders als in der Branche üblich, intensiv in den politischen Diskurs ein und wird dafür teils auch heftig kritisiert. AfD-Mitglieder seien „Menschen, die ihr Menschsein verwirkt haben“, schrieb er 2015 auf Twitter. Morddrohungen folgten, Klärungsversuchen zum Trotz.

Hinweis

Die digitale Buchpremiere von Igor Levits und Florian Zinneckers „Hauskonzert“ findet am 20. April um 19.00 Uhr bei Instagram Live, @hanserliteratur, statt.

Vor Konzerten hält Levit bisweilen politische Ansprachen. Erst vergangene Woche begleitete er den Deutschrap-Song „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“, mit dem Danger Dan derzeit für Wirbel sorgt, bei Jan Böhmermann am Flügel. Eine „Kampfansage gegen Neue Rechte“ wird der Song etwa genannt.

Keine Erinnerung an Schule und Russland

Der Schwerpunkt von „Hauskonzert“ liegt freilich auf dem Musikalischen, auf Levits freien, gelösten Interpretationen und wie er seinen Stil und Zugang entwickelte. Daneben gibt es Einblicke in seine Erfahrungen während der Pandemie: Geplant hatte Zinnecker ursprünglich eine Begleitung Levits über die Konzertsaison 2019/2020 hinweg, bevor alles anders kam.

Das Grundgerüst des Buchs sind punktuelle Ereignisse. Zinnecker und Levit schildern Aufnahmen, Gespräche oder Auftritte, wie etwa seinen 16-stündigen Klaviermarathon mit Erik Saties „Vexations“, mit dem er im Mai 2020 auf die Lage der Kulturschaffenden im Lockdown aufmerksam gemacht hatte. Von dort aus geht es zurück in die Biografie, teils sehr fragmentarisch, schlicht weil es dem Künstler an Erinnerungsvermögen mangelt: „Ich habe überhaupt keine Erinnerung an Russland, wirklich gar keine. Null. Leider“, wird er etwa zitiert.

Cover des Buches „Hauskonzert“ von Igor Levit und Florian Zinnecker
Hanser Verlag
Igor Levit, Florian Zinnecker: Hauskonzert. Hanser Verlag, 299 Seiten, 24,70 Euro.

Auch an die Schulzeit erinnert sich der Pianist, der mit acht Jahren als jüdischer Kontingentflüchtling mit seiner Familie aus Gorki nach Deutschland kam, nicht wirklich. Um die nicht ganz einfachen biografischen Stationen dennoch zu erfassen, ergänzen die Mutter und andere Stimmen die Erzählung.

Rauswurf aus der Frühförderung

Der hochbegabte Bub, zunächst zu Hause unterrichtet, flog aus der ersten Frühförderung, weil er zu unangepasst war. Auch später, mit seinen Lehrern am Mozarteum in Salzburg und in Hannover, ist der Weg steinig: Die strenge Schule der Pädagogenkoryphäe Karl-Heinz Kämmerling ist für die Grundlagenarbeit wichtig, zugleich aber ein Hemmschuh für den jungen Pianisten, der sich längst nicht mehr an das gängige Repertoire halten will.

Levit ist fasziniert vom Expansiven und wird bei Max Reger, Richard Wagner, Ronald Stevensons „Passacaglia“ und vor allem auch bei Ludwig van Beethoven fündig. Für den Pubertierenden ist auch der Rapper Eminem, den er „nonstop“ hört, ein Vorbild: „Eminem hat mich genau in der Phase erwischt, in der ich für mich feststellte: Ich will ‚Ich‘ sagen dürfen.“

Existenzielle Ängste und antisemitische Zwischentöne

Mit großer Offenheit erzählt „Hauskonzert“ von den existenziellen Ängsten, die Levit während der Pandemie plagen, von der bisweilen zermürbenden Einsamkeit des Tourneelebens und von einem Karrierebeginn „als Hindernisparcours“. Ausgestattet zwar mit „Riesentalent“, wie es heißt, lehnen ihn die namhaften Klassiklabels zunächst ab, weil er als schwer vermarktbar gilt. Ein „komischer Nerd“, sehr politisch denkend, der dauernd Witze erzählt, das passt nicht ins Programm.

Und dann sind da noch die antisemitischen Zwischentöne, die den Künstler hart treffen. Im Herbst 2020 führt ein Artikel der „Süddeutschen Zeitung“ („SZ“), der Levit vorwirft, dass er mit seinem expressiven Spielstil emotionale Regung nur vortäuschen würde, zur großen Feuilletondebatte. Einige fühlen sich an Richard Wagners antisemitischen Aufsatz „Das Judenthum in der Musik“ von 1850 erinnert, in dem Wagner jüdischen Künstlern die Fähigkeit zu eigener Schöpfung absprach.

Musik den Menschen näherbringen

Das Buch widerlegt den Vorwurf, Levit habe als Kalkül die Figur des politisch engagierten Pianisten entworfen, mehrfach, und zeichnet stattdessen das Bild eines Menschen, der nicht anders kann und will, als seine Stimme zu erheben.

Darüber hinaus wird Levit als unkomplizierter, für megalomane Projekte schwärmender und sich bis zur Erschöpfung auspowernder Arbeiter beschrieben. Auf schöne Hotelzimmer oder spezielle Klangbedingungen verzichtet er gerne, wenn das Wichtigste passt: dass er seine Musik Menschen näher bringen kann.