Szene aus „Parsifal“
Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
„Parsifal“ für alle

Gesellschaft, Gefangenschaft, Erlösung

Wenn ein Spätwerk einen Sinn haben soll, dann wohl den, dass es die Summe aller Leistungen und offenen Fragen ist. Richard Wagners „Parsifal“ trifft dieser Befund punktgenau. An seinem „Parsifal“ entzündet sich noch die Gegenwart. Aus gutem Grund. Für Wien hat der russische Dissident Kirill Serebrennikow unter schwierigsten Umständen eine Fassung erstellt, die nicht nur wegen Elina Garanca und Jonas Kaufmann ein ganz neues Publikum fesseln könnte. Der Club Gralsritter, das ist hier eine eingesperrte Gesellschaft – ob wegen Coronavirus oder aus politischen Gründen. Eine Inszenierung mit Sprengkraft und Bestbesetzung, der der ORF ein gesamtes Themenwochenende widmet.

Altersfrömmelei und Todesangst? Viele Fragezeichen stehen hinter Richard Wagners letzter Oper „Parsifal“, die die Geister geschieden hat und die Friedrich Nietzsche als „Kapitulation vor dem Christentum“ bezeichnete. Sollte die Religion an der Kunst genesen, wie sich das Wagner in einer seiner vielen Überlegungen wünschte – und was könnte man, um mit dem Philosophen Ernst Bloch zu sprechen, aus dieser „christbuddhistisch-rosenkreuzerischen Kunstreligion“ lernen?

„Parsifal“ in einem Satz

Parsifal stolpert ohne Erinnerung an seine Vergangenheit in die Gesellschaft der Gralsritter und kann diese samt ihrem Anführer Amfortas durch den Prozess seiner Entsagung ebenso heilen wie Kundry, die er mit auf seinem Weg – weg von der Lust, hin zur reinen Liebe – mitnimmt.

Vielleicht, so dachte sich Staatsopernchef Bogdan Roscic, braucht es gerade zu dieser so in alle entrückten Sphären gehobenen Oper doch noch einen neuen Blick von außen, der nicht den Geist des Regietheaters, sondern eines gesellschaftlich-elementareren Zugangs atmet. Als Roscic den russischen Regisseur Serebrennikow für Gespräche zum „Parsifal“ in Moskau besuchte, war dieser bereits mit Fußfessel unterwegs. Er soll mit seinen Freunden Geld entwendet haben, lautete der Vorwurf einer „Justiz“, die nicht selten so wirkt, als stünde sie vor allem im Dienst, politische Stimmen mundtot zu machen: Putins Kreml als Klingsors Zaubergarten?

Serebrennikow nahm den Auftrag an – und widerstand, wie er selbst dezidiert betont, der Versuchung, sein politisches Schicksal mit dem Inhalt einer Oper zu verknüpfen. Und doch, so viel kann man jetzt schon verraten, wird auch er die Gesellschaft der Gralsritter als eine Kommune von Gefangenen deuten mit einem verletzten König als Anführer. Diese Locked-in-Situation gestaltete schon der Lette Alvis Hermanis beim letzten Wiener „Parsifal“ 2017, als er die Runde rund um Amfortas auf den Wiener Steinhof schickte. Das gab zwar ein prächtiges Bühnenbild, brachte aber eine Inszenierung, die in einer Wagner-Erstarrung mündete (und nicht umsonst hatte Hermanis geraten, man solle diese Oper doch am besten „mit geschlossenen Augen“ verfolgen).

Szene aus „Parsifal“
Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
Wer bringt die Befreiung aus einer misslichen Lage? Die Heilserwartung dreht sich möglicherweise auf den Handlungsraum des Menschen selbst.

Mit Serebrennikow ist diese Gefahr gebannt. Das Thema des „Parsifal“ trifft auf eine besonders hartnäckige Form der oft zitierten „ame russe“, der russischen Seele, die sich der Widerständigkeit und den Triebkräften ausliefern wird, bevor die programmatischen Bekehrungsereignisse eintreten und nicht nur die Lust zur selbstlosen Liebe mutiert. Virulenz und Aktualität sind bei diesem neuen Wiener „Parsifal“ zu erwarten – und fast mag man Wagners einstige Aufforderung durchhören, als er seinen Akteuren am Abend vor der ersten Vorstellung einflößte: „Kinderchen, morgen kann’s endlich losgehen! Morgen ist der Teufel los! Und darum trachtet alle, Ihr, die Ihr mitwirkt, dass der Teufel in Euch hineinfahrt!“

„Parsifal“-Fahrplan im ORF

Sonntag, 18. April:

  • 9.05 Uhr, ORF2: „matinee: Elina Garanca – Die scheue Diva“
  • 9.55 Uhr, ORF2: „matinee: Jonas Kaufmann – Ein Jahrhunderttenor“
  • 16.00 Uhr, ORF.at: „Parsifal“ (Gesamtaufnahme als Videostream)

Philosophie statt Religion

Die Welterlösung durch Mitleid, Parsifals berühmtes „durch Mitleid wissend“ zu werden, ist in dieser Deutung sehr grundsätzlich gedacht. Denn dass der „mitleidigste Mensch“ der beste sei, wie es Lessing noch für seine „Hamburgische Dramaturgie“ festgelegt hat, ist bei Wagner und Serebrennikow noch grundsätzlicher gedacht. Wenn es bei Parsifal um Selbsterkenntnis und Befreiung gehen soll, dann muss eine sehr grundsätzliche Erkenntnis mit dem Moment der Empathie einhergehen.

Mitgefühl ergibt sich nur aus der grundsätzlichsten Aufgabe menschlichen Denkens und Fühlens: der Selbsterkenntnis. Deshalb, so sagt auch Opernchef Roscic, sei der „Parsifal“ mehr ein Werk der Philosophie und weniger eines der Religion, auch wenn sich Wagner auf die Spur des Buddhismus begeben hat, den er als Ur-Triebfeder des Neuen Testaments verstanden wissen will. Das Ziel ist Erkenntnis, nicht religiöse Versenkung – und so liest auch Serebrennikow diese Mythen-Bricolage Wagners.

Die Proklamation des Gurnemanz „Zum Raum wird hier die Zeit“ nimmt Serebrennikow ernst, weil er Parsifal, auch mit seinem eigenen Doppel, noch einmal durch das ganze eigene Leben schickt – und die Gesellschaft der Gralsritter auch als Spiegel nimmt, durch den man am Ende hindurchtreten will. Auch hier nicht in ein „Wonderland“, sondern hin zu Selbsterkenntnis und -gewissheit, die auch andere mitzunehmen vermag.

„Die Idee der Freiheit“

„Ein Leben in Gefang­enschaft ist eine der möglichen Lesarten dieses Satzes“, sagt Serebrennikow im Vorfeld. Bewusst nimmt er aber eine Gesellschaft in den Blick, wie er im Text „Die Idee der Freiheit“ sagt, die nicht nur von außen festgesetzt wurde, sondern die sich selbst gefesselt hat: „Der Gefängnis-Raum meiner Inszenierung ist eine Metapher für eine bornierte, zusammengeschrumpfte, dogmatische Welt, in die sie sich selbst eingesperrt haben und in der alles anders passiert, als es passieren sollte.“

„Parsifal“ an der Wiener Staatsoper

Es ist die rätselhafteste wie umstrittenste Oper Richard Wagners: „Parsifal“ kommt mit Elina Garanca und Jonas Kaufmann in einer Blockbuster-Besetzung an die Wiener Staatsoper.

Regie via Videokonferenz

Gegen diesen Umstand kommen Prozesse in Gang, die Wagners Welt mit neuer Dynamik und Aktualität aufladen. Zur Hand hat Serebrennikow, der ja die Inszenierung via Videokonferenz leitete, eine sängerische Bestbesetzung unter der musikalischen Leitung von Musikdirektor Philippe Jordan: Jonas Kaufmann singt den Parsifal, Elina Grancia gibt in Wien ihr Rollendebüt als Kundry. Und man darf sich schon jetzt festhalten und vorfreuen auf die Kraft und Eindrücklichkeit, die sie dieser Rolle verleiht.

Talk mit Elina Garanca

Ludovic Tezier gibt den Amfortas, Georg Zeppenfeld den Gurnemanz und Wolfgang Koch den Klingsor. Der russische Theater- und Filmschauspieler Nikolai Sidorenko mimt den „damaligen Parsifal“, der sich noch ganz dem Lustprinzip hingibt und der erst so etwas wie der Antrieb für Kundrys Verführungswillen wird. Der viel beschworene und heiß erwartete „reine Tor“, er wird einen heftigen Weg vor sich haben, bevor der bekannte Karfreitagszauber beginnt, der in Serebrennikows Gefängniszelle einige Überraschungen und Wendungen bereithalten wird.

Kirill Serebrennikov im Februar 2021 im Moskauer Gogol Theater
Vyacheslav Prokofyev / Tass / picturedesk.com

Film- und Cronenberg-Fans dürfen sich auf eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema „Russian Prison Tattoos“ freuen, wie sie der Film „Eastern Promises“ zelebrierte. Vieles an Bedeutungsspielen wird diese Inszenierung in eine Videodramaturgie verlagern, in der der Stoff Wagners auf und unter die Haut geht – und sich mit der Ästhetik und Codierung russischer Gefängnistätowierungen mischt.

Die Öffnung eines schweren Stoffes

Überhaupt muss an dieser Stelle die Lanze gebrochen werden für eine erstklassige sängerische und musikalische Interpretation Wagners, aber einen Zugang, der alle Vorbildungen und Überinterpretationssehnsüchte beiseitelegen kann. Ausgerechnet mit dem „Parsifal“ könnte sich Roscics Vorstellung, das Überleben des Mediums Oper durch die Erschließung neuer Zielgruppen, die sich unvoreingenommen, eben im Modus des reinen Toren, begeistern lassen, verwirklichen. Wagner, das ist der Vorgriff auf Hollywood, ja auf Netflix, auf eine Dramaturgie, die von großen Übergängen lebt und die das Publikum, man denke nur an das berühmte Glockenmotiv mit den Tönen C-G-A-E, in ganz tiefen existenziellen Stimmungen zu erreichen vermag.

Wagner gelang musikalisch tatsächlich die Summe und das Testament seines musikästhetischen Schaffens, wovon nicht nur die großen Übergänge, sondern auch die vielen kleinen, immanenten Werkzitate erzählen – denn ohne die Pauken der „Götterdämmerung“ ist auch ein „Parsifal“ nicht zu haben.

Szene aus „Parsifal“
Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
Entsagung statt Lust: Jonas Kaufmann als Parsifal im Garten Klingsors. Er wird in dieser Inszenierung seiner eigenen Vergangenheit als Gegenüber begegnen.

„Wagner nicht eins zu eins illustrieren“

„Ich will und kann daher Wagners ‚Parsifal‘ nicht eins zu eins illustrieren – obwohl alle Symbole Wagners in unserer Inszenierung vorkommen: der Kelch, der Speer, das Kreuz, ‚des Heilands selige Boten‘ und so weiter“, sagt Serebrennikow, fügt aber hinzu: „Ich glaube, dass sich die eigentliche Metaphysik im tatsächlichen Leben ereignet.“ Bei den Dreharbeiten zum „Parsifal“-Filmmaterial vergangenen Dezember rund um Moskau habe man im ärgsten Frost eine Betonruine entdeckt. „Durch die Löcher der zerstörten Wände fiel das Sonnenlicht herein. Ein in seiner Schönheit magischer und irrealer Moment“, so der Regisseur: „Ich entdecke als Künstler Gott in dieser Schönheit.“

Das Licht wird in dieser Inszenierung eine große Rolle spielen. Am Ende aber auch die Frage, ob die Erlösung tatsächlich von oben kommt oder vom Menschen selbst. Dass man das Schicksal in Zeiten der Pandemie in die eigene Hand nehmen kann, beweist diese Inszenierung und ihre Umsetzung. Als „Akt großer Symbolkraft“ bezeichnet ORF-Generaldirektor Alexander Wrabetz diesen Wiener „Parsifal“, um sich auch für eine möglichst breite Rezeption dieser Oper einzusetzen, die in dem Fall eben nicht nur die Opernliebhaber betrifft.

„Weder Pandemie noch politische Willkür waren imstande, die Realisierung dieser Inszenierung zu verhindern“, zeigt sich auch der Staatsopernchef kämpferisch.