Boulevard Todor Alexandrow mit Regierungsgebäuden in Sofia
Getty Images/Santiago Urquijo
Patt in Bulgarien

Borissow versucht Befreiungsschlag

Seit über zehn Jahren hat Bojko Borissow – mit kurzen Unterbrechungen – das Amt als Bulgariens Ministerpräsident inne. Eine lange Zeit, die nach den Verlusten seiner Partei bei der Wahl Anfang April zu Ende gehen soll. So erklärte Borissow am Mittwoch, keine vierte Amtszeit anzustreben. Ein Schritt, der Borissow am Ende vor allem selbst zugute kommen soll.

Der Wahlausgang hat dem Land eine Pattsituation beschert – der Zeitpunkt für ein solches Szenario ist ohnehin nie gut, schon gar nicht während einer Pandemie. Zwar wurde Borrisows konservative, proeuropäische GERB zum fünften Mal in Folge stärkste Kraft, verlor neben dem bisherigen Juniorpartner (die nationalistische WMRO scheiterte an der Vierprozenthürde) aber auch selbst deutlich an Zustimmung. Eine Entwicklung, die sich bereits im Vorjahr abzuzeichnen begonnen hatte.

Denn da hatte eine relativ breite Protestbewegung gegen Korruption und Machtmissbrauch in Zusammenhang mit entsprechenden Vorwürfen gegen Borissow dessen Rücktritt verlangt. Zwar verlor die Bewegung in den letzten Monaten den Zulauf auf der Straße, doch wurden bei der Wahl Protestparteien nach oben gespült. Insbesondere die populistische Partei ITN („Es gibt ein solches Volk“) des TV-Moderators und Kabarettisten Slawi Trifonow sorgte mit Platz zwei für eine Sensation.

„Meine Nominierung würde zu Spaltung führen“

Und weil Trifonow, bekennender CoV-Leugner, mit seiner neuen Partei aus dem Stand über 17 Prozent holte und daneben auch kleinere Parteien gute Zuwächse verzeichnen konnten bzw. andere aus dem Parlament gewählt wurden, entstand das, was Borissow am Mittwoch als drohende „Spaltung“ des Volkes beschrieb. Doch sein damit begründeter Rückzug kam mit Wortgewalt: „Niemand ist besser geeignet für diesen Job, aber meine Nominierung würde zur weiteren Spaltung der Gesellschaft führen“, so Borissow.

Bulgariens Premierminister Boyko Borissow
Reuters
Borrisow bei der Stimmabgabe bei der Wahl Anfang April – das Ergebnis war für seine GERB enttäuschend

Ex-Außenminister soll Ministerpräsident werden

Aus diesem Grund erfolge nun der Vorschlag eines anderen Kandidaten mit einer „sehr klaren europäischen NATO-Orientierung“, wie Borissow sagte. Namen nannte er zunächst allerdings keinen – und er beließ es bei einer Ankündigung: „Den Namen geben wir bekannt, wenn wir offiziell den Regierungsauftrag bekommen.“ Doch am Abend vor der konstituierenden Sitzung des neuen Parlaments am Donnerstag nannte Borissow schließlich doch einen Namen: Ex-Außenminister Daniel Mitow.

Kollektive Ablehnung

Tatsächlich könnte Borrisow mit seinem Rückzug versuchen, sich den Umständen im gelähmten, zersplitterten Parlament zu entziehen – schließlich lehnen alle fünf anderen Parteien, die in die Nationalversammlung gewählt wurden, ein Regierungsbündnis mit seiner GERB ab. Die Partei stößt also auf breite Ablehnung – soll aber gleichzeitig als stärkste politische Kraft verfassungsgemäß mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt werden.

„Wir sind bereit, auch wenn die Chancen, dass unser Kabinett im Parlament unterstützt wird, sehr gering sind“, sagte Vizepremier Tomislaw Dontschew. Er galt lange Zeit als Ersatz für Borissow, doch der Premier selbst dementierte am Mittwoch Spekulationen in diese Richtung, noch bevor Borissow schließlich Mitow nannte.

Mitow war Chefdiplomat in der zweiten Regierung Borissow (November 2014 bis Jänner 2017) und vertrat in der damaligen Regierungskoalition das proeuropäische bürgerliche Bündnis „Reformblock“. Unbestätigten Informationen zufolge ist Mitow kürzlich der GERB-Partei beigetreten. Doch gilt es trotz der neuen Personalie als sehr wahrscheinlich, dass sich im neuen Parlament keine Regierungsmehrheit findet.

Positionierung als „verantwortungsvoller Staatsmann“

„Die Chancen für eine GERB-Regierung – auch eine, die nicht von Borissow geführt wird – sind sehr gering“, sagte Rumiana Kolarova, Dozentin für Politikwissenschaft an der Universität Sofia, gegenüber Reuters. Mit dem Rückzug wolle sich Borissow als „verantwortungsvoller Staatsmann“ positionieren, meinte die Politologin. Das erhöhe wiederum die Chance auf mehr Zustimmung bei einer eventuellen Neuwahl, so die Expertin.

Erste Sitzung im Parlament

Hintergrund: Scheitert GERB, müsste Staatschef Rumen Radew den Auftrag zur Regierungsbildung dann an die zweitstärkste Kraft weitergeben, und das wäre besagtes Polit-Start-up ITN. Deren Parteichef Trifonow hat sich noch nicht klar zu seinen Plänen geäußert. Trifonow steht wegen einer Covid-19-Erkrankung derzeit unter Quarantäne.

Slavi Trifonov
Reuters
Der TV-Moderator und Kabarettist Trifonow gilt als großer Wahlgewinner

Nach drei Anläufen zur Regierungsbildung schreibt die Verfassung vor, dass der Präsident das Parlament auflöst, eine Neuwahl binnen zwei Monaten anberaumt und eine geschäftsführende Regierung einsetzt. „Wenn es so weit kommt, würde es bedeuten, dass wir alle, alle Parlamentsparteien, versagt und keine Verantwortung übernommen haben“, so Regierungschef Borissow, der sich gleich nach der Wahl, als sich das Patt bereits abzeichnete, gegen eine Neuwahl stellte.

Zweikampf zwischen „starken Männern“

Politische Beobachterinnen und Beobachter im Land kommentieren, dass der scheidende Ministerpräsident auf jeden Fall eine vom Präsidenten eingesetzte Regierung verhindern wolle. Seit Langem zeichnet sich ein Zweikampf zwischen den beiden „starken Männern“ in der bulgarischen Politik ab – dem Bürgerlichen Borissow und dem sozialistischen Staatschef Rumen Radew. Borissow hatte noch vor Jahren erklärt, das Präsidentenamt anzustreben – im Herbst wird gewählt.

Vor fünf Jahren hievte die Sozialistische Partei (BSP) Radew in das höchste politische Amt, als überparteilicher Präsident emanzipierte er sich aber von den Sozialisten. Als scharfer Kritiker der Borissow-Regierung, der er Korruption und Machtmissbrauch vorwirft, führt Radew seit seiner Wahl einen erbitterten Machtkampf gegen den Regierungschef, der seinen Höhepunkt während der Proteste im Vorjahr fand – da stellte sich der Präsident klar auf die Seite von Borissows Gegnern.