Bauarbeiten an der Schoah-Namensmauer in Wien
ORF.at/Christian Öser
Schoah-Gedenkstätte

Ein Stein des Anstoßes

In Wien-Alsergrund entsteht ein Denkmal mit den Namen von 65.000 österreichischen Jüdinnen und Juden, die während der Schoah ermordet wurden. Längst überfällig, meinen die einen, während andere mit der Umsetzung hart ins Gericht gehen. Wenn auch Einigkeit besteht, dass Österreich nie vergessen soll, ist es das Wie, das die Geister scheidet.

Mitten in ihrer Bauphase blickt die Namensmauer auf eine lange Entstehungsgeschichte zurück. Denn ins Leben gerufen wurde die Idee schon vor fast zwei Jahrzehnten von dem österreichisch-kanadischen Künstler Kurt Yakov Tutter. „18 Jahre lang habe ich für die Gedenkstätte wie ein Löwe gekämpft, gegen das spürbare Desinteresse in Österreich, gegen amtsführende Leute in Stadt und Bund, die schöne Worte für das Projekt hatten, es aber keineswegs realisieren wollten“, schrieb dieser in einer E-Mail an ORF.at.

Tutter flüchtete als Überlebender der Schoah von Österreich nach Kanada, seine Eltern wurden von den Nazis im Lagerkomplex Auschwitz ermordet, so wie über eine Million Menschen. Der 91-Jährige setzte sich viele Jahren für die Errichtung einer Gedenkstätte in Wien ein, doch erst im Gedenkjahr 2018 unter Türkis-Blau stieß er mit seinem Vorhaben auf offene Ohren, und das Projekt wurde wieder aus der Schublade geholt.

„Vertane Chance, zeitgemäß zu gedenken“

Gerade das löst unter Wiener Zeithistorikerinnen und -historiker auch Kritik aus. Aufgrund ihrer Positionen in renommierten heimischen Institutionen wollten alle der von ORF.at befragten Historikerinnen und Historiker anonym bleiben. Unisono bemängelten sie aber, es habe keinen Diskurs zur Projektumsetzung gegeben. Tutters Idee sei, eben weil das Projekt lange brachlag, „völlig veraltet“, so eine mit dem Projekt vertraute Zeithistorikerin gegenüber ORF.at. Grundsätzlich befürworte sie zwar eine Gedenkstätte, aber „es geht bei dem Projekt ausschließlich um diejenigen, die aufgrund der Nürnberger Gesetze verfolgt wurden“, kritisierte die Historikerin, und das sei ein nicht mehr zeitgemäßer Zugang.

Bauarbeiten an der Schoah-Namensmauer in Wien
ORF.at/Christian Öser
Die Namensmauer entsteht zwischen Nationalbank, Landesgericht und dem Campus der Universität Wien (ehemals Altes AKH)

Es würden nämlich politische Verfolgte, Menschen mit Behinderung, Homosexuelle, Roma und Sinti sowie viele weitere in der Schoah von den Nazis Getötete völlig ausgeklammert. Es sei eine „vertane Chance, zeitgemäß zu gedenken“, sagte die Historikerin im Gespräch mit ORF.at. Tutter aber meinte: „Wir haben niemanden exkludiert.“ So gebe es von vielen verschiedenen Interessenvertretungen Denkmäler.

„Es liegt an denen, nicht an uns, zu entscheiden, ob und was für eine Gedenkstätte sie wünschen, und dann auch für die Realisierung ihrer Gedenkstätte zu kämpfen“, so der 91-Jährige. Mit „uns“ meint Tutter den 2020 gegründeten „Verein zur Errichtung einer Namensmauern Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten jüdischen Kinder, Frauen und Männer aus Österreich“, an dem unter anderen der dem Parlament zugehörige Österreichische Nationalfonds für Opfer des Nationalsozialismus maßgeblich beteiligt ist.

„Regierung wollte alles für die jüdische Gemeinde tun“

Es gebe jedoch, so die Expertin, durchaus moderne, inkludierende Schoah-Gedenkstätten, wie etwa die Halle der Namen in Jad Vaschem in Jerusalem. Auch gebe es Denkmäler, bei denen beispielsweise digital mit Projektion gearbeitet werde, sodass die Gedenkstätten nicht so leicht zerstört oder beschmiert werden könnten. Sie befürchte im Falle der Namensmauer antisemitischen Vandalismus.

Die Historikerin bedauerte gegenüber ORF.at außerdem, dass das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) als Erforscher der Namen der getöteten Jüdinnen und Juden nicht vor den Vorhang geholt worden sei. Grund ist der Beobachterin zufolge, dass das DÖW als „urlinke“ Organisation gesehen werde und das nicht in die Ära von Türkis-Blau gepasst habe. In Richtung der damaligen Bundesregierung sagte sie: „Diese Regierung wollte mit der Verbundenheit zu Israel und (dem damaligen israelischen Ministerpräsidenten Benjamin, Anm.) Netanjahu alles tun, was die jüdische Gemeinde wohlig stimmt.“

Bauarbeiten an der Schoah-Namensmauer in Wien
ORF.at/Christian Öser
Rund 65.000 Namen der während der Schoah ermordeten österreichischen Jüdinnen und Juden finden sich auf der Namensmauer

In der Tat zeigte sich die türkis-blaue Koalition unter Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) inmitten rechtsextremer Skandale des Regierungspartners FPÖ stets bemüht, Projekte der Vergangenheitsbewältigung umzusetzen und öffentliche Auftritte medienwirksam zu nutzen, wie etwa bei vielen Besuchen in Israel durch Regierungsmitglieder demonstriert wurde.

Schwierige Namensforschung

Das DÖW, das mit der Recherche der Namen und Geburtsdaten für das Denkmal betraut wurde, bemerkte, dass in Stein gemeißelte Namen nachträglich nur schwer geändert werden könnten. Das Problem: Oft fielen in der Namensforschung später Fehler auf – etwa bei der Schreibweise eines Namens und dem Geburtsjahr. Auch Doppelmeldungen können laut DÖW vorkommen, die man teils erst Jahre später entdecke. Der Name ‚Johanna Weiß‘ komme etwa oft vor, doch steckten immer andere Identitäten dahinter, die im Verborgenen bleiben würden.

Bauarbeiten an der Schoah-Namensmauer in Wien
ORF.at/Christian Öser
Bewunderung, aber auch viel Kritik gab es während der gesamten Bauphase

Freilich stelle man die Forschung „nach bestem Wissen und Gewissen“ allen zur Verfügung, doch könne nie sicher sein, dass alles hundertprozentig stimme. Das würden zahlreiche internationale Denkmäler zeigen, bei denen jüdische Namen in Stein eingraviert worden waren.

Diese Problematik bestätigte eine weitere Historikerin einer namhaften österreichischen Institution. Sie verwies außerdem darauf, dass man häufig die echten Namen ermordeter Jüdinnen und Juden gar nicht kenne, da die Nazis deren Namen einfach geändert hätten, wenn diese nicht „jüdisch“ klangen – meist in „Sara“ bei Frauen und „Israel“ bei Männern. Daher könne man, so die Historikerin, zu oft nicht sicher sein, ob jene Namen, die von den Nazis aufgezeichnet worden waren, auch tatsächlich den wirklichen Geburtsnamen entsprächen.

Stein aus Indien

Auch die Wahl des Steins, ein heller Granit namens Kashmir Gold aus Indien, steht in Kritik. Für diesen hatten sich Tutter und der mit dem Projekt betraute Architekt Wolfgang Wehofer laut eigenen Angaben eingesetzt. „Granit gibt es auch in Österreich“, bemängelte eine mit dem Projekt vertraute Zeithistorikerin dazu. Tutter aber erläuterte seine Beweggründe: Die Namen der ermordeten jüdischen Kinder, Frauen und Männer sollten „auf einer Gedenkstätte verewigt werden, die an ihr Leben erinnert, das so grausam ausgelöscht wurde. Daher wollte ich einen hellen, leuchtenden Stein.“ Und heller Granit, den man noch dazu entsprechend bearbeiten könne, komme hierzulande nicht vor.

Steinbruch
Nationalfonds
Bilder wie diese sollen laut Nationalfonds zeigen, dass der Stein maschinell abgebaut wurde

Mit dem Projekt vertraute Personen äußerten gegenüber ORF.at Bedenken, dass der Stein möglicherweise unter Kinderarbeit abgebaut worden sein könnte. In indischen Steinbrüchen ist das tatsächlich keine Seltenheit, weiß die heimische NGO Südwind, die sich seit Jahren mit dem Thema auseinandersetzt. Zwar sei man nicht in das Projekt Namensmauer eingebunden, jedoch könne man sagen, dass rund ein Drittel des in Österreich angebotenen Granits aus hoch problematischen Abbaubedingungen in Indien und China stamme, heißt es von der NGO auf Nachfrage.

Mitwirkende weisen Vorwürfe zurück

Dieser Vorwurf aber wird von allen Beteiligten der Namensmauer vehement zurückgewiesen. In mehreren Gesprächen und E-Mails mit dem für das Projekt beauftragten Nationalfonds und dem Bundeskanzleramt erfuhr ORF.at, man sei sich der Problematik von Beginn an bewusst gewesen: „Kinderarbeit kann ausgeschlossen werden“, so eine Vertreterin des Nationalfonds, wenngleich man bis auf Fotos des Unternehmens im südindischen Bangalore keine Nachweise habe.

Dem Nationalfonds zufolge wurden die Rohblöcke im indischen Steinbruch der Firma Astral Quarrying Services jedenfalls maschinell abgebaut und anschließend per Container zur Weiterverarbeitung nach Italien verschifft. Verantwortlich für die Beschaffung sowie für die Gravur des Granits ist die niederösterreichische Steinmetzfirma Breitwieser. Diese wollte nach eigenen Angaben zusammen mit dem Architekten Wehofer nach Indien reisen, coronavirusbedingt habe das aber nicht geklappt.

Stattdessen habe man sich, so das Bundeskanzleramt, in der österreichischen Botschaft in Neu-Delhi versichern lassen, dass der Abbau unter menschenrechtlichen Standards vonstatten gegangen sei. Jedoch beteuerte man im Bundeskanzleramt auch, man sei selbst „nur Fördergeber“, demzufolge mit Entscheidungen des Projekts erst konfrontiert worden, nachdem bereits Geld geflossen sei. Die Regierung übernahm nach etlichen Debatten schließlich fast die kompletten Kosten der Namensmauer von rund 5,3 Millionen Euro. Den Rest bezahlten Bundesländer (600.000 Euro) und Industriellenvereinigung (230.000 Euro).

„Es ist ein wahnsinnig kompliziertes Projekt“

Neben den bereits Genannten gibt es also Dutzende Trägerinnen und Träger des Projekts Namensmauer, das zeigt auch die Liste der Projektverantwortlichen, die öffentlich einsehbar ist. Darauf finden sich etwa die Stadt Wien, die Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) und die Nationalbank sowie Politikerinnen und Politiker aller Couleurs. Schirmherr des Projekts ist Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP). Kurz fiel das Projekt nach dem „Ibiza“-Skandal in die Zeit der Übergangsregierung Brigitte Bierleins. Der Bau erfolgte schließlich unter Türkis-Grün.

Den Einschätzungen in der Historikergemeinde aber habe sich trotzdem niemand gestellt, so die von ORF.at befragten Kritikerinnen und Kritiker. Ein Parlamentsmitarbeiter gab gegenüber ORF.at zu bedenken, dass sich seit dem „Ibiza“-Skandal und den Regierungsumbildungen niemand mehr so recht für die Namensmauer politisch zuständig gefühlt habe. Vom Bundeskanzleramt hieß es nur: „Es ist ein wahnsinnig kompliziertes Projekt.“