Frau hält sich die Hände vor ihr Gesicht und weint in einen Polster
Getty Images/Eyeem/Bundit Binsuk
Bezähmbare Angst

Psyche im CoV-Alarmzustand

Psychische Krankheiten sind in Pandemie- und Lockdown-Zeiten ein wachsendes Problem – und Sorgen sowie Ängste allgegenwärtig. Wenn die Angst zur Angststörung wird, gibt es neben Psychopharmaka noch eine Möglichkeit, diese Störung zurückzudrängen: das Trainieren der Amygdala ähnlich einem Muskel.

Eine Studie der MedUni Wien hat die Auswirkungen der Covid-19-Lockdowns auf das psychische Wohlbefinden von Erwachsenen in Österreich untersucht. Das Ergebnis: Rund 31 Prozent der Teilnehmer der Studie berichteten über ein vermindertes psychisches Wohlbefinden. Das bestätigt auch die Psychotherapeutin Renee Fellmann-Pozdena im Interview mit ORF.at: „Ich erlebe täglich, dass die Pandemie, gerade in den letzten Monaten, als enorm belastend empfunden wird.“

Gab es bereits im Vorfeld psychische Erkrankungen oder Belastungen, werden diese durch die Pandemie in vielen Fällen verstärkt, so Fellmann-Pozdena. Das betreffe sowohl Erwachsene auch als Kinder und Jugendliche. Oftmals schlage sich der Wegfall der gewohnten Alltagsroutine in Orientierungslosigkeit nieder – viele Menschen erlebten nach einem Jahr Covid-19 eine Art von Perspektivlosigkeit.

Gehirntraining gegen die Angst

Gerade in Zeiten der Pandemie leiden viele Menschen unter der Angst. Doch man kann die Amygdala im Gehirn dagegen trainieren wie einen Muskel.

Enge und Kontrollverlust im Homeoffice

Faktoren wie fehlende soziale Kontakte durch Homeoffice und Homeschooling oder finanzielle Sorgen durch Einkommensverluste führten zu einem Gefühl von Enge, und das Gefühl von Kontrollverlust erzeuge Sorgen und Ängste, so Fellmann-Pozdena.

Ob dezidierte Angststörungen im Steigen begriffen sind, dazu gibt es derzeit keine konkreten Studien, sagt Johannes Wancata, Leiter der Klinischen Abteilung für Sozialpsychiatrie des AKH Wien. Bestätigt sei durch bisherige Studien aber, dass sich Menschen derzeit mehr Sorgen machen und mehr Stimmungstiefs erleben. Für Wancata ist es deshalb plausibel, dass dezidierte Angst- und Panikstörungen sowie Depressionen zunehmen.

In der Zentrale der Angst

Grundsätzlich ist Angst ein gesundes und sinnvolles Gefühl. Und überlebenswichtig, erklärt der Kognitionswissenschaftler Ronald Sladky: „Angst macht uns vorsichtig, aufmerksam und sorgsam.“ Der Neurowissenschaftler forscht an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien an der Amygdala sowie der Emotionsverarbeitung im menschlichen Gehirn. Es komme auf die Dosis der Angst an.

Fannys Friday Doku: „Die grenzenlose Angst“

Angst kann uns lähmen und krank machen, doch Angst kann uns auch unsere Sinne schärfen, den Geist beflügeln und uns zu Höchstleitungen antreiben. Was passiert in unserem Gehirn und in unserem Körper, wenn wir uns fürchten und warum läuft die Angst so oft aus dem Ruder?

Problematisch werde es, wenn die Ängste überhandnehmen: „Wenn Dinge, die gewollt werden, nicht mehr gemacht werden können, weil die Ängste zu groß sind.“ Die Ursache für Ängste außer Kontrolle liege meist in der Amygdala. Die Amygdala ist mandelförmig und ein Teil des limbischen Systems im Gehirn. Sie ist an der Verarbeitung von Emotionen beteiligt und vor allem für die Entstehung von Angstgefühlen zuständig, sowohl bei Tieren als auch bei Menschen.

Die Amygdala scannt die Umwelt auf Gefahr – wenn sie einen Reiz als Gefahr einstuft, zum Beispiel ein lautes Geräusch oder einen drohenden Schmerz erkennt, versetzt sie den Körper in Alarmbereitschaft: Man bekommt den Tunnelblick, die ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf die Gefahr.

Amygdala im Gehirn (3-D-Modell)
picturedesk.com/Science Photo Library
Ein Modell der Amygdala

Tunnelblick und Adrenalin

Die Amygdala ist eng mit den Hormonzentren im Gehirn vernetzt, die Stresshormone ausschütten. Das Herz beginnt schneller zu schlagen, der Puls beschleunigt sich, die Atemfrequenz wird erhöht. „Die Lungen werden mit mehr Sauerstoff versorgt, und die Muskulatur wird besser durchblutet, wodurch mehr Kraft zur Verfügung steht“, erklärt Pozdena-Fellmann. So wird ermöglicht, dass Menschen in Angstsituationen körperlich wesentlich stärker und schneller sind als im Alltag.

Die Einstufung der Angst ist ein schneller Prozess, effizient und flexibel, so Sladky: „Die Amygdala ist ein fixes System und gleichzeitig sehr lernfähig und adaptiv.“ Die Einstufung erfolge nach unterschiedlichen Mechanismen: Es gibt angeborene Muster, etwa wenn sich etwas schnell auf jemanden zubewegt, aber es gibt auch konditionierte und angelernte Reize, die Menschen in Alarmbereitschaft versetzen können: „Wenn ich in einer bestimmten Situation immer negative Erfahrungen mache, dann lerne ich, mich vor dieser Situation zu fürchten.“

Angst außer Kontrolle

Menschen mit Angststörungen erleben starke körperliche Stressreaktionen durch eine zu hohe Ausschüttung von Stresshormonen. Das liegt daran, dass die Amygdala überreaktiv ist: Sie erkennt Gefahren in alltäglichen Situationen, und ihr natürliches „Bremssystem“ versagt.

Sladky beschreibt das Gehirn gerne als eine Art dynamischen Regelkreis: „Es gibt Faktoren, die die Amygdala hochregulieren: das können Bilder sein, die uns Angst machen, plötzliche Geräusche oder negative Erwartungen. Auf der anderen Seite gibt es Gehirnregionen, die dafür zuständig sind, die Amygdala wieder runterzuregulieren. Das passiert, indem das Erlebte in einen größeren Kontext gesetzt und etwa in Erinnerungen eingebettet wird. Wenn dieses Regulationssystem aber aus dem Gleichgewicht gerät, reagiert die Amygdala überempfindlich.“

Die Amygdala austricksen

Soziale Ängste gehören nach Angaben von Sladky zu den häufigsten Angststörungen. Schätzungsweise sind rund 30 Prozent der Menschen von einer sozialen Angststörung betroffen. Menschen mit Sozialphobie haben zum Beispiel Sorge, sich in der Öffentlichkeit zu blamieren oder von anderen bewertet zu werden. Dazu gehört auch die generalisierte Angst, dass etwas Schlimmes passieren könnte. „Betroffenen fällt es schwer, in sozialen Situationen etwas Schönes zu erleben, weil die Angst alles dominiert. Deshalb ist die Sozialphobie besonders problematisch,“ so Sladky.

Sladky und sein Team haben in einer Studie herausgefunden, dass eine überreaktive Amygdala „ausgetrickst“ werden kann. Für die Untersuchung wurden Menschen mit klinisch diagnostizierter Sozialphobie emotionale Gesichter zu bewerten gegeben: Manche waren glücklich, andere wütend und mehrdeutig. Die Probanden bezeichneten mehrdeutige Gesichter eher als wütend. Sladky und sein Team haben herausgefunden, dass die Übererregung der Amygdala jedoch nur am Anfang besteht. Die Amygdala-Aktivität nahm ab, je öfter die Probanden mit den Bildern konfrontiert wurden, also je mehr sie sich der Angst stellten.

Mut zum „mentalen Kraftakt“

„Ein wichtiger Mechanismus zur Überwindung von Angst ist die Erfahrung zu machen, dass Situationen nicht so gefährlich sind, wie man sie einschätzt,“ erklärt Sladky und fügt hinzu: „Das ist natürlich ein starker, mentaler Kraftakt, und oft braucht man auch professionelle Unterstützung.“

Das bestätigt auch Fellmann-Pozdena: „Wir alle kennen das Gefühl unendlicher Erleichterung, wenn wir durch Angst durchgegangen sind, sozusagen über uns hinausgewachsen sind.“ Hat man die Herausforderung gemeistert, kommt es zur Ausschüttung von Dopamin, das positive Gefühlserlebnisse bewirkt. „Das unterstützt den Lerneffekt, diese oder ähnliche Situationen auch künftig und wiederholt erfolgreich zu bewältigen,“ so Fellmann-Pozdena.