Szene aus „Parsifal“
Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
„Losing my Religion“

Der ganze Weg des neuen Parsifal

Philosophie, grundsätzliche Erkenntnis statt Religion, Entdeckung statt Hochamt des Vorwissens und der Expertendeutungen. Der neue Wiener „Parsifal“, den der russische Dissident Kirill Serebrennikow für die Staatsoper entwickelt hat und der nun in Bestbesetzung zu erleben ist, will, soll und kann eine Oper für alle sein. Jonas Kaufmann als Parsifal durchläuft einen langen Weg der Selbsterkenntnis – und er führt, auch dank des Kontakts mit einer grandiosen Elina Garanca als Kundry, die Gesellschaft der Gralsritter an die Schwelle einer neuen Zeit. Und zu einem überraschenden Ende.

„Eigentlich wollte ich vor allem mit Wagners Musik die Idee von Freiheit und Mitgefühl erzählen“, schildert der russische Kultregisseur Serebrennikow im Vorfeld der Wiener Inszenierung seinen Zugang auf dieses Werk, das sicherlich einen der Höhepunkte der Musik- und Operngeschichte markiert. Doch Serebrennikow, der weiß, wie sehr man mit Kunst in alle Felder der Gesellschaft und herrschende politische Diskurse eingreift, sieht in diesem als „Bühnenweihspiel“ ausgewiesenen Werk und in der Person Parsifals etwas sehr Grundsätzliches.

Hinweis:

  • Der gesamte neuer „Parsifal“ ist noch sieben Tage in tvthek.ORF.at abrufbar und nachzusehen.

„Mir gefällt der Weg, den Parsifal einschlägt, und wie er sich auf diesem Weg entwickelt, wie er von einem sehr brutalen Moment losstartet, als er den Schwan getötet hat, und sich im Lauf seines Weges zu einer Person entwickelt, die die tiefen Werte von Freiheit und Mitgefühl versteht“, erzählt Serebrennikow im Vorfeld in einem Videocall mit dem Chefdramaturgen der Staatsoper, Sergio Morabito.

Serebrennikow konnte diese Befreiungsoper, als die man den „Parsifal“ auch lesen kann, nur über eine Ferninszenierung machen, muss er in Moskau ja mit Fußfessel immer noch eine Bewährungsstrafe eines politisch motivierten Prozesses absitzen. Dass Serebrennikow der moralische Kern des „Parsifal“ mehr interessiert als die Überhöhungen von Mythologie und Rittersagen liegt bei seiner Biografie als Dissident und auch Provokateur gegenüber dem Russland Wladimir Putins auf der Hand.

Bild von Kirill Serebrennikov
Wr. Staatsoper
Regisseur aus der Ferne: Kirill Serebrennikow

Der Kern des Politischen

Serebrennikow will diese Inszenierung nicht als Koppelung mit seiner Biografie verstanden wissen – und schafft doch zugleich ab der ersten Szene ein Setting, das das Moment der Gefangenschaft, möglicherweise auch einer inneren Gefangenschaft der Gralsritter, deutlich macht. Erkenntnis ist hier Selbsterkenntnis, Befreiung nicht zuletzt Selbstbefreiung, und so tritt auch Jonas Kaufmann als normaler Mensch in die Gesellschaft der gefangenen Gralsritter und muss aus dem Umstand, seinen Namen und sein ganzes Leben vergessen zu haben, noch einmal auf die Suche nach sich selbst aufbrechen.

Kundry, gesungen von Elina Garancia, wird auf diesem Weg der entscheidende Schlüssel sein. Ihr Kuss im Zaubergarten Klingsors wird für Parsifal der Schlüssel der Erkenntnis. Parsifal trennt sich von seinem inneren, früheren Ich und macht sich, „aus Mitleid wissend“ auf den Weg seiner neuen inneren Freiheit auf, mit der er letztlich auch die Gesellschaft der Gralsritter rund um Amfortas (Ludovic Tezier) heilen und befreien kann. Entscheidend für die Entwicklung Parsifals ist die Aufspaltung seiner Person in zwei „Avatare“, wie die Generation Serebrennikow das nennt, wofür andere die Psychoanalyse und ihre Kategorien bedienen würden. Die Avatare Kaufmann und Nikolay Sidorenko (er spielt den „einstigen Parsifal“) helfen aber zunächst vor allem, die Geschichte plastisch und begreifbar zu machen.

Szene aus „Parsifal“
Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
Der Weg Parsifals (Jonas Kaufmann) über „Mitleid sehend zu werden“ führt über Kundry (Elina Garanca) und das Double seiner Geschichte, gespielt vom russischen Schauspieler Nikolay Sidorenko

Die Hürden im Wagnerschen Musiktheater

Für diesen Weg zur Befreiung wählt Serebrennikow eine besondere Form der Dramaturgie, muss er doch bei dieser Oper eine zentrale Schwäche überwinden. So sehr Wagner seine Form der Oper ja „Musiktheater“ genannt hat, ist es ein Theater der Musik, der Erkennungsmotive, der Übergänge, der Inszenierung der Musik samt all ihrer Klangfarben zum eigentlichen Zentralstoff auf der Bühne. Nicht umsonst umriss der Lette Alvis Hermanis bei der letzten Wiener „Parsifal“-Inszenierung die gesamte Problematik der Oper mit der simplen Erkenntnis: „Man müsste sie mit geschlossenen Augen erleben.“

Die zentralen Rollen

  • Amfortas: Ludovic Tezier
  • Gurnemanz: Georg Zeppenfeld
  • Parsifal: Jonas Kaufmann
  • Klingsor: Wolfgang Koch
  • Kundry: Elina Garanca
  • Der damalige Parsifal: Nikolay Sidorenko
  • Titurel: Stefan Cerny

Musik und Gesang sind so tragend, dass es wie eine Einladung an die Regie wirkt, so zu viel oder auch zu wenig zu machen. Das Vorspiel sagt alles, was in den kommenden vier Stunden passieren wird – und der Gralsritter Gurnemanz (Georg Zeppenfeld) hat im ersten Akt vor allem einen Auftrag: erzählen, erzählen, erzählen – alle Handlungsstränge zu motivieren und das inhaltliche Verständnis zu schaffen. Dramaturgisch ist das ermüdend.

Der Film im Stück

Serebrennikow entkommt genau dieser Last, in dem er über der Bühne ein Triptychon aufspannt und die Motivik des Parsifals in drei Stummfilmen in Schwarz-Weiß ablaufen will. Einzelne Menschen, ihre Körper – und die Geschichten, die sich auf diesen Körpern in Form von Leid, aber auch Populärmythen eingeprägt haben, sind da zu sehen. Sehr deutlich schließt Serebrennikow an den Kult russischer Gefängnistattoos an, die für sich eine nicht mindere Geheimsprache darstellen wie alles, was die Gralsritter ausmacht. Man darf schon von Beginn weg an David Cronenbergs großen Film „Eastern Promises“ (dt: „Tödliche Versprechen“) denken und die Dekodierung von Botschaften auf dem menschlichen Körper.

„Der Fall Parsifal“

2021 bringt die Wiener Staatsoper Richard Wagners letztes musikdramatisches Werk „Parsifal“ in der Regie von Kirill Serebrennikow auf die Bühne, der die Gralsgesellschaft mit der Topografie einer Maison Centrale assoziiert. Mit dem Dualismus von Moral und Erotik, Glaube und Atheismus, Leiden und ewiger Erlösung werden die großen Fragen des 19. Jahrhunderts behandelt und auf den Anspruch einer Kunstreligion verwiesen. Wagners Bühnenfestspiel, das zunächst nur im Bayreuther Festspielhaus aufgeführt werden durfte, besticht dabei durch mystisch-sakrale Klangwelten und eine mannigfaltige Leitmotivik. Der ORF überträgt eine ganz besondere Version des Monumentalwerks und gewährt dabei Einblicke in Wagners Mythenkosmos.

Der bis zum Ende mitlaufende Film über der Bühne wird im Verlauf aber die Aufspaltung der Biografie Parsifals zum Thema machen. Realität und Traum, Weiterentwicklung und Vergangenheit sind dauernd rhythmisch ineinander verwoben. Für die Sog- und Verführungskraft der Wagnersch’en Musik wird tatsächlich so etwas wie eine optische Bewegung und Entsprechung gefunden. Und natürlich passiert in den Filmen all das, was sich in der Seele dieses Helden auf dem Weg zur Befreiung abspielt oder abspielen könnte.

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Szene aus Parsifal
Aleksei Fokin
Der neue Parsifal: Stills aus dem knapp vierstündigen Film, der dreigeteilt über der Bühne dieser Inszenierung läuft
Szene aus Parsifal
Aleksei Fokin
Szene aus Parsifal
Aleksei Fokin
Szene aus Parsifal
Aleksei Fokin
Szene aus „Parsifal“
Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
Szene aus Parsifal
Aleksei Fokin
Szene aus Parsifal
Aleksei Fokin
Szene aus Parsifal
Aleksei Fokin
Szene aus Parsifal
Aleksei Fokin
Szene aus Parsifal
Aleksei Fokin
Szene aus Parsifal
Aleksei Fokin

„Sehr wenig Religion, viel Philosophie“

„Der Parsifal hat sehr wenig mit Religion und sehr viel mit Philosophie zu tun“, ist sich Staatsopernchef Bogdan Roscic zu dieser Schlüsseloper sicher: „Wagner geht es um die Befreiung des Menschen von sich selbst, die Befreiung von falschen Gedanken, Grausamkeit, Gier und Zorn. Vielleicht kann man es nennen die Befreiung von einem falschen Leben, von der Verhaftung, streng genommen, im Egoismus. Das ist streng genommen die Erlösung.“

Roscic erklärt den „Parsifal“ in zwei Minuten

„Wagner geht es um die Befreiung des Menschen von sich selbst, die Befreiung von falschen Gedanken, Grausamkeit, Gier und Zorn. Vielleicht kann man es nennen die Befreiung von einem falschen Leben, von der Verhaftung, streng genommen, im Egoismus. Das ist streng genommen die Erlösung.“

Es mag, nicht zuletzt für manche Wagnerianer, gesteht er, irritierend sein, das Religiöse bei dieser Oper in den Hintergrund gedrängt zu sehen, „doch Wagner hat seine Absichten mit diesem Werk immer wieder sehr deutlich bekundet“: „Dominant war dafür die Mitleidsethik von Arthur Schopenhauer, durch den Wagner zum Buddhismus gefunden hatte. Und den Buddhismus hielt Wagner für das reinere, ältere Vorbild für das Neue Testament. Man könnte sagen, der ‚Reine Tor‘ Wagners durchläuft den Lebensweg eines Bodhisattva, eines nach höchster Erkenntnis strebenden Wesens.“

Am Anfang sei Parsifal rücksichtslos, erst durch den Kuss Kundrys werde er „durch Mitleid wissend“: Parsifal entsage der körperlichen Liebe und kehre nach Irrwegen an den Ausgangspunkt seines Weges zurück – „und zeigt von dort jenen Weg in die Freiheit, zu dem die anderen Personen des Stücks nicht fähig sind“.

Szene aus „Parsifal“
Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
Ein Ende mit Überraschungen steht in diesem „Parsifal“ ins Haus

Unbefangen in die Welt Wagners

Man darf sich bei dieser „Erzählung Parsifals durch Kirill Serebrennikow“, wie man diese Inszenierung nennt, tatsächlich in die Welt Wagners ohne vertieftes Vorwissen begeben und sich der Verführung der Inszenierung und nicht zuletzt der Musik Wagners sprichwörtlich ausliefern. Der neue Musikdirektor der Staatsoper, Philippe Jordan, führt Chor und Orchester der Staatsoper durch diesen knapp vierstündigen Nachmittag und Abend und zelebriert dabei vor allem die von Wagner ausgelegte Summe des Schaffens des umstrittenen wie unstrittig bedeutenden Komponisten. Nicht zuletzt die Orchestration, so erläutert Jordan im Rahmen einer Werkeinführung, sei eine der gelungensten, ja größten, in der Geschichte der Oper.

Musikdirektor Philippe Jordan über die Meisterschaft Wagners

Warum Wagner über seine Zeit hinaus wegweisend war, erläutert Philippe Jordans am Beispiel der Orchestrierung.

„‚Parsifal‘ ist von der Orchestration die feinste und abschattierteste Partitur. Wagner hat immer schon gut orchestriert. Meiner Meinung ist er der beste, vor Strauss und Ravel“, so Jordan, der vor allem die Verführungskraft der Übergänge Wagners in der Motivgestaltung lobt.

Hinweis

Der „Parsifal“ ist noch sieben Tage on demand via tvthek.ORF.at abrufbar.

Bei der Klangfarbe gebe es bei Wagner Nuancierungen wie bei sonst niemanden. „Er ist bei der Abschattierung wegweisend hin zu feinsten Bereichen und ein Modell für Gustav Mahler und Claude Debussy“, so Jordan, der im Vorfeld auch alle Erkennungsmotive und tonalen Gestaltungselemente mit großer Ausführlichkeit vorstellte. Woran Jordan auch in seiner Einführung erinnert: die vielen einstimmigen Passagen, gleich beim ersten Motiv im Vorspiel in As-Dur, aber ebenso die Chorpassagen, die sehr oft „beinahe gregorianisch“ als Choral geführt würden – „dieses scheinbar Einfachste erweist sich oft als das Herausforderndste“.

Das Ende dieser Oper wird das Publikum, vor allem den geübten Wagnerianer, vielleicht überraschen. Man sollte die Worte des Regisseurs durchaus ernst und als programmatisch nehmen: „Ich will und kann daher Wagners ‚Parsifal‘ nicht eins zu eins illustrieren – obwohl alle Symbole Wagners in unserer Inszenierung vorkommen. Ich glaube vielmehr, dass sich die eigentliche Metaphysik im tatsächlichen Leben ereignet.“