Buchcover „Die alte Johanna“ von Renate Welsh
Czernin Verlag/Christopher Mavrič
Nach 42 Jahren

Fortsetzung zu Renate Welshs Klassiker

1979 ist „Johanna“ erschienen – Renate Welshs Erfolgsroman über ein Mädchen in den 1930er Jahren. Mit „Die alte Johanna“ gab die Schriftstellerin dem Klassiker der österreichischen Jugendliteratur nun eine Fortsetzung. Darin spannt Welsh den Bogen ins neue Jahrtausend und erzählt mit der Lebensgeschichte von Johanna auch die Geschichte vieler Frauen der Zwischenkriegsgeneration.

Im über 40 Jahre alten Roman „Johanna“ sucht eine 13-Jährige in einem Dorf in Niederösterreich eine Ausbildung. Doch statt Schneiderin oder Friseurin zu werden, landet das bei Pflegeeltern aufgewachsene, uneheliche Kind auf einem Bauernhof, wo es in den nächsten Jahren ohne Bezahlung als Magd arbeiten muss. Während Armut und der aufkommende Nationalsozialismus den Alltag im Dorf bestimmen, kämpft Johanna für ein selbstbestimmtes Leben.

Schließlich gewinnt sie diesen Kampf, doch der Satz, den sie zu oft hören musste, wird sie – wie die Leserinnen und Leser im zweiten Teil, erschienen am Mittwoch im Czernin Verlag, erfahren – noch Jahrzehnte verfolgen: „Das wäre ja noch schöner, wenn ledige Kinder schon was wollen dürften!“

„Authentisches österreichisches Frauenschicksal“

Bis heute sei „Johanna“ ein einzigartiger Jugendroman, der auf eine politische Zeit blickt, die in der Jugendliteratur kaum Beachtung findet, so Heidi Lexe, Leiterin der Studien- und Beratungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur (STUBE) im Interview mit ORF.at: „Das Buch ist ein ganz wesentliches Stück österreichischer Erinnerungskultur und sollte als historischer Roman viel nachhaltiger zu Schullektüre werden.“

Buchcover „Die alte Johanna“ und „Johanna“ von Renate Welsh
Czernin Verlag/Christopher Mavrič
Anlässlich der Fortsetzung wurde auch „Johanna“ von 1979 neu aufgelegt

„Johanna“ nehme ein authentisches österreichisches Frauenschicksal wertschätzend und literarisch differenziert in den Blick und erzähle dabei auch von einem geglückten Leben. „Und ich denke, genau das könnte anlassgebend für ,Die alte Johanna‘ gewesen sein – ein Leben in seiner Ganzheit zu Ende zu erzählen.“

Überrascht war Lexe nicht, als sie erfuhr, dass Welsh mit über 80 Jahren eine Fortsetzung von „Johanna“ veröffentlicht: „Wenn man heute den ersten Teil liest und weiß, dass sich dahinter eine reale Frauenbiografie verbirgt, fragt man sich unweigerlich, wie das Leben dieser Frau wohl weiter verlaufen ist.“

Nachbarinnen im niederösterreichischen Dorf

Denn die Frau, deren Lebensgeschichte Welsh erzählt, gab es wirklich, wenn sie auch nicht Johanna hieß. Als die Schriftstellerin in den 1960er Jahren in ein altes Bauernhaus in Niederösterreich zog, wurden die beiden Frauen Nachbarinnen. „Sie war so ungeheuer kompetent in allen Dingen, es ging eine Sicherheit von ihr aus, die ich nur bewundern konnte. Es schien mir, dass ihr jeder Zweifel fremd und sie völlig eins war mit ihrer Rolle als Mittelpunkt einer großen Familie, und ich beneidete ihre Töchter um diese Mutter“, schreibt Welsh im Vorwort zu „Die alte Johanna“.

Renate Welsh
Christopher Mavrič
Für „Johanna“ erhielt Renate Welsh 1980 den Deutschen Jugendliteraturpreis

Dass die Frau, die Welsh im Buch Johanna nennt, sich diese Sicherheit hart erarbeitet hatte und jeden Tag neu erarbeiten musste, merkte die Autorin, als sie eines Tages gemeinsam in die nächstgelegene Stadt Gloggnitz zum Einkaufen fahren wollten. Ihre Nachbarin sagte, sie müsse sich erst umziehen. Doch Welsh, selbst in „Arbeitsjeans und labbrigem Pullover“, meinte, das sei nicht nötig. „Sie können sich das leisten, ich nicht“, erwiderte die Nachbarin. Dieser Satz habe Welsh gezwungen, „darüber nachzudenken, warum sie ihre Fenster öfter putzte als andere Frauen, warum sie nie anders als mit sauberer Kleiderschürze durchs Dorf ging, warum ihr Hof immer makellos gefegt sein musste“.

Als Welsh mehr über das Leben ihrer Nachbarin erfuhr, begann sie zu ahnen, warum diese dachte, sie müsse der Welt etwas beweisen: „Dieser starken Frau, die ich bewunderte, von der ich so viel gelernt hatte, saß ihre Geschichte als Last im Nacken.“ Indem sie über sie schrieb, wollte Welsh ihr „das, was ihr widerfahren war, so zurückgeben, dass sie erkannte, wie stolz sie sein musste auf das, was sie aus dem Rohmaterial ihrer Erfahrungen gemacht hatte“.

„Dieser verdammte Satz“

In der Fortsetzung „Die alte Johanna“ ist Johannas Mann schon seit zehn Jahren verstorben und Johanna zu alt, um alleine in dem Haus im Dorf zu leben, in dem sie ihre acht Kinder großgezogen hat. Welsh verknüpft Johannas Erinnerungen – an die Hochzeit, die Geburten der Kinder, die Nachkriegszeit – mit Besuchen der Kinder und Enkelkinder. Im hohen Alter muss Johanna schließlich lernen, Hilfe anzunehmen. Doch dieser „verdammte Satz“ – „Das wäre ja noch schöner, wenn ledige Kinder schon was wollen dürften!“ – verfolgt sie noch immer.

Buchcover „Die alte Johanna“ von Renate Welsh
Czernin Verlag/Christopher Mavrič

Renate Welsh: Die alte Johanna. Czernin Verlag, 192 Seiten, 20 Euro.

Dass ihre Kinder nie hungrig schlafen gingen, darauf war sie stolz, obwohl es ihr immer ein Rätsel war, „wieso die Knödel nicht im Wasser zerfallen waren, so ganz ohne Ei“. Wütend wurde Johanna, wenn die Leute von der guten alten Zeit redeten – „die hatten ja keine Ahnung“. Mit ihrer jungen Enkelin spricht sie oft über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit und wie man eine starke Frau wird, auch wenn ihr die Diskussionen häufig zu anstrengend werden – „Herrschaft, Kind, du machst mich fertig!“

Literarischer Blick auf Bruchlinien im Leben

„Es scheint eine ganz andere Zeit zu sein, aus der Johanna stammt, und doch hat diese Frauenfigur uns gerade heute so vieles zu sagen“, so Lexe. Welsh habe eine besondere Gabe, literarisch auf prekäre Lebenssituationen und Bruchlinien im Leben zu schauen. „Sie blickt mit großer Empathie auf das Randständige; auf Menschen, die sonst gar nicht erst die Möglichkeit bekommen, ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu geraten.“

Dazu gehöre auch ihr ganz besonderer Blick auf „den Lebensernst“ von Kindern und Jugendlichen. Die Bedeutung, die Welsh für die österreichische Kinder- und Jugendliteratur hat, könne gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, so Lexe: „Sie gehört zu jenen, die dafür gesorgt haben, dass sich eine ernsthafte, ansprechende Kinder- und Jugendliteratur überhaupt erst herausgebildet hat.“