Elina Garanca als Kundry
ORF/Unitel/Staatsoper
Neuer Wiener Inszenierung

Der „Parsifal“-Triumph der Elina Garanca

In herausfordernden Zeiten wie der Pandemie der Gegenwart laden sich Kulturevents mit noch mehr Bedeutung auf als sonst. Der neue Wiener „Parsifal“ in der Erzählart des russischen Dissidenten Kirill Serebrennikow hat in der Lesart des Wagner’schen „Bühnenweihspiels“ einige Überraschungen gebracht. Allerdings, so darf man behaupten, durchaus im Sinne des Komponisten. Herausragend in jeder Hinsicht in dieser Inszenierung, die eine Gesellschaft in Gefangenschaft zum Zentrum hatte: Elina Garanca. Sie sang erstmals die Kundry. Und sie überzeugte darin nicht nur stimmlich in atemberaubender Weise.

Am Ende kein Gral, kein Speer. Sondern offene Gefängnistüren und der Weg ins Licht. Ein „Parsifal“ ohne seine beinahe heiligen Symbole, das las die „Parsifal“-Zentralautorität Hans Knappertsbusch wie einst in seiner Bayreuther Auseinandersetzung mit Wieland Wagner noch als Kriegserklärung.

In Wien nimmt Regisseur Serebrennikow der Gralsgesellschaft ihre vielleicht größte Last aus der Hand. Der „Parsifal“, er wird hier als Befreiungsoper gelesen. Anders als im Fall von Beethovens „Fidelio“ geht es hier nicht um die Befreiung von fremden Mächten, sondern um die Befreiung von sich selbst und die Erkenntnis, dass der Weg in die Freiheit nur selbst in Angriff genommen werden kann. Ob mit Läuterung, ob mit Willen und einer neuen Leitfigur moralischer Reinheit – all diese Interpretationen muss man für sich entscheiden.

Gruppe der Gralsritter im Gefängnis im Finale
ORF/Unitel/Staatsoper
Der Moment der Erlösung: Die Aufforderung, den Gral zu zeigen, führt zum Öffnen der Gittertüren. Hier liegt die Symbolik, die Serebrennikow auf seiner Bühne zwischen Zelle und Video-Triptychon bedient.

Die zentralen Scharniere dieser Inszenierung sind: der gedoppelte Parsifal, der sein altes Ego der Vergangenheit mit sich herumschleppt, um es am Ende zurückzulassen: Jonas Kaufmann hat immer sein junges Ich mit sich, das er in Gestalt des russischen Schauspielers Nikolaj Sidorenko hinter sich lassen wird. Sein wahres Gegenüber und seine am Ende größte Kraft ist Kundry.

Hinweis

Der gesamte neue „Parsifal“ ist noch sieben Tage in tvthek.ORF.at abrufbar und nachzusehen.

Aus Mitleid wissend wird auch Kundry

Sie, die noch in Lumpen fast nicht ablassen kann von ihrer einstigen Bestimmung selbstverbrennender Lust, hat am Ende die Kraft des Speers, „der die Wunde schließt“. Wenn die zentrale Erkenntnis des „Bühnenweihspiels“ darin besteht, aus Mitleid wissend zu sein, dann trifft dieser Vorgang ebenso Kundry wie Parsifal.

Das Beziehungsdreieck Parsifal-Kundry-Amfortas löst sich am Ende durch die Erkenntnis der Kraft des Mitgefühls. In diesem Moment liegt das Überzeugende der Inszenierung und nicht in der Überhöhung irgendeines Purifikationskitschs. Die Gesellschaft der Gralsritter, die knapp davor war, sich selbst zu zerfleischen (sehr überzeugend wie fast furchteinflößend im Finale dieser „Eastern Promises“-Ästhetik dargestellt), sie richtet sich auf am Vorbild, das aufgrund innerer Erkenntnis einen Weg zu weisen weiß. Dass das ohne Kitsch abgeht, ist einer der überzeugenden Momente dieser Umsetzung.

„Der Fall Parsifal“

2021 bringt die Wiener Staatsoper Richard Wagners letztes musikdramatisches Werk „Parsifal“ in der Regie von Kirill Serebrennikow auf die Bühne, der die Gralsgesellschaft mit der Topografie einer Maison centrale assoziiert. Mit dem Dualismus von Moral und Erotik, Glaube und Atheismus, Leiden und ewiger Erlösung werden die großen Fragen des 19. Jahrhunderts behandelt und auf den Anspruch einer Kunstreligion verwiesen. Wagners Bühnenfestspiel, das zunächst nur im Bayreuther Festspielhaus aufgeführt werden durfte, besticht dabei durch mystisch-sakrale Klangwelten und eine mannigfaltige Leitmotivik. Der ORF überträgt eine ganz besondere Version des Monumentalwerks und gewährt dabei Einblicke in Wagners Mythenkosmos.

Zweiter Akt als große Therapiesitzung

Davor muss der zweite Akt freilich wie eine ordentliche Therapiesitzung ablaufen. Er ist sowohl für Serebrennikow als auch für den musikalischen Leiter Philippe Jordan tatsächlich Dreh- und Angelpunkt für alles. Einerseits, weil Serebrennikow mit seiner Psychoanalyse des „Parsifal“, die sich noch in drei Oberprojektionen mit Videos bis tief in Lessings „Laokoon“ und Freud versteigt, so ziemlich alles ausleuchtet, was man an Triebhaftigkeit in diese Oper hineinlegen mag. Dass das nicht peinlich wird, liegt wieder an der furiosen Garanca, die alles Hin und Her von Entsagung und Rückfälligwerden so überzeugend singt, tief und dunkel bis grell und emotional sicher in den obersten Lagen interpretiert.

Szene aus „Parsifal“
Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
Zwei Menschen, die sich radikal von ihrer Vergangenheit trennen müssen: Jonas Kaufmann als Parsifal und Elina Garanca als Kundry

Musikalisch ist der zweite Akt das Glanzstück in der Dramatik der Auseinandersetzung zwischen Garanca und Kaufmann. Sie lockt, sie fordert ihn. Und er überzeugt auch darstellerisch, man nimmt ihm seinen Läuterungs- und Erkenntnisweg ab. Dieser Parsifal ist vorsichtig, er weiß zu nuancieren – um dann noch am Ende Kraft zur Überzeugung zu haben. Hier erweist sich Kaufmann sängerisch auch als gewiefter Stratege.

Die zentralen Rollen

  • Amfortas: Ludovic Tezier
  • Gurnemanz: Georg Zeppenfeld
  • Parsifal: Jonas Kaufmann
  • Klingsor: Wolfgang Koch
  • Kundry: Elina Garanca
  • Der damalige Parsifal: Nikolay Sidorenko
  • Titurel: Stefan Cerny

Auch Jordan als großer Gewinner dieses Abends

Jordan entscheidet sich für einen hellen, schnellen Wagner. Jetzt keinen, der das Tempo von Pierre Boulez gehen mag, aber einen, der sich zwei Antriebsmomenten verpflichtet: der Erlösung und Klarheit auf der einen Seite – und der Dramatik auf der anderen. Diese Vorentscheidung ist wichtig, denn man kann beim „Parsifal“ nicht alles haben. Oft genug ist das langsame Pathos dann in der Endung bei den Instrumentengruppen eine sehr, sehr große Herausforderung. Jordan ist da schlauer: Er will die helle Präzision, und die ist mitunter in der schnelleren Führung zu haben. Das wird besonders in den Akten zwei und drei deutlich.

Im ersten Akt wirkt sein Zugang noch widersprüchlich. Zwischen der As-Dur- und C-Moll-Motivgruppe setzt er eine längere Pause, ist im Vorspiel getragen, zieht aber dann sehr an Tempo an.

Mit Georg Zeppenfeld hat er einen brillanten Gurnemanz, der sich zwar in der Dramaturgie dieser Inszenierung nicht in den Vordergrund drängen kann, der aber für die musikalische Führung unerlässlich ist. Zudem weiß, wer an der Erzählung der Moderne geschult ist: Die scheinbare Nebenfigur ist der Strippenzieher, und dieser Rolle wird Zeppenfeld mit Stärke und Bestimmung voll gerecht. Was, wenn in ihm der heimlich Herrgott schlummert, der den göttlichen Plan zur Befreiung dieser in sich selbst Gefangenen als eine Art telos zu realisieren hat.

Jonas Kaufmann im Finale der Oper
ORF/Unitel/Staatsoper
Retter für eine sich selbst zerfleischende Gruppe: Die Gralsritter erwarten Parsifal, der sich am Ende auf die Stufen seiner Geschichte setzen wird, um gestisch anzudeuten: Oh what a day!

Das Finale dieser Oper wirkt wie eine gesungene Laokoongruppe der Empathie. Kundry heilt Amfortas und schließt ihn liebevoll in den Arm – Parsifal breitet schützend seine Hände über sie aus. Ludovic Tezier glänzt und überzeugt ebenso bei seinem Rollendebüt im „Parsifal“.

Es geht auch ohne erdrückende Symbolik

Vielleicht braucht es eben doch nicht die von Knappertsbuch gewünschte Taube, die Wieland Wagner damals nur so knapp vom Schnürboden runtergelassen hatte, dass sie der Regisseur, nicht aber das Publikum sehen konnte. „Ich will und kann Wagners ‚Parsifal‘ nicht eins zu eins illustrieren“, bekannte Serebrennikow und fügte hinzu: „Ich glaube vielmehr, dass sich die eigentliche Metaphysik im tatsächlichen Leben ereignet.“ Hier waren tatsächlich magische Momente einer Wandlung zu erleben.

Und auch wenn ein Stream keine Oper in Echtatmosphäre ersetzen kann: Dieser „Parsifal“ war gerade als Film mit unterschiedlichen Interpretationsflächen, einer Bühne und drei Überprojektionen ein neuer, unverbrauchter Weg zu einem in der Überhöhung auch zu Tode gerittenen Klassiker. Einmal mehr gilt: Wer neues Publikum will, der muss einen Weg weisen, wie es sich in dieser Heilserwartungswelt zurechtfinden könnte – Serebrennikow hat einen schlüssigen Weg dafür gezeigt.