Wirecard-Zentrale in Aschheim bei München
Reuters/Michael Dalder
Wirecard

Millionen in Sackerln aus Zentrale gebracht

Die Causa rund um die Pleite des skandalumwitterten deutschen Zahlungsabwicklers Wirecard wird immer absurder: Wie die „Financial Times“ („FT“), die entscheidend an der Aufdeckung von Malversationen beteiligt war, berichtet, schleppten Wirecard-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter jahrelang mit Geldscheinen gefüllte Plastiksäcke aus der Münchner Zentrale. In Summe handelte sich dabei um mehrere Millionen, laut „FT“ möglicherweise sogar bis zu 100 Millionen Euro.

Der Digitalfinanzdienstleister, der zeitweise einen Börsenwert von 24 Milliarden Dollar (19,9 Mrd. Euro) erreichte, stürzte im Vorjahr im Zuge eines der größten deutschen Bilanzierungsskandale in die Pleite. Es war bekanntgeworden, dass 1,9 Milliarden Dollar Firmenkapital gar nicht existierten und dass Teile des Geschäfts in Asien Scheingeschäfte waren. Die beiden zentralen Figuren sind Österreicher: Ex-Geschäftsführer Markus Braun, der sich in U-Haft befindet, und das untergetauchte Ex-Vorstandsmitglied Jan Marsalek mit zahlreichen Verbindungen in Geheimdienstkreise. Auch Braun ist bzw. war in Österreich bestens mit Politik und Wirtschaft vernetzt.

Laut „FT“ sagten ehemalige Angestellte vor der Münchner Polizei aus, dass Mitarbeiter über Jahre regelmäßig große Geldmengen in bar in Supermarktplastiktaschen aus der Zentrale trugen. Die Praxis soll bereits 2012 begonnen haben. Wie viel Geld insgesamt und zu welchem Zweck aus dem Gebäude getragen wurde, sei unklar.

Die Münchner Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Bilanzfälschung, Betrug, Marktmanipulation und Geldwäsche. Mehrere Ex-Vorstände von Wirecard sitzen in Untersuchungshaft oder sind auf der Flucht. Der deutschen Finanzaufsichtsbehörde BaFin und damit auch dem Finanzministerium werden weitgehendes Versagen in dem Fall vorgeworfen.

Banklizenz und Safe, aber keine Filialen

Wirecard, dessen Hauptgeschäft die Abwicklung von Zahlungen von Onlinehändlern war, besaß eine eigene Bank und Banklizenz, allerdings keine Filialen. Als der Bedarf an Bargeld wuchs, wurde ein Safe für die Zentrale angekauft.

Laut dem „FT“-Bericht sagten Ex-Mitarbeiter aus, dass fast zwei Jahre lang bis 2018 Beträge bis 700.000 Euro aus der Zentrale getragen wurden – manchmal mehrmals pro Woche. Damit könnten mehr als 100 Millionen Euro an Bargeld aus der Wirecard-Zentrale geschafft worden sein. Interne Aufzeichnungen würden allerdings nur Abhebungen von rund sechs Millionen dokumentieren.

Mit Plastiktaschen voll Geld zum Flughafen

Viele der Bargeldbehebungen seien durch die Assistentin eines hochrangigen Wirecard-Managers, der für die in Dubai tätige Tochter tätig war, erfolgt. Sie habe die Plastiktaschen voller Geld zumindest in einem Fall zum Flughafen München gebracht. In einem anderen Fall soll ein sechsstelliger Betrag für den in Manila sitzenden Ex-Wirecard-Mitarbeiter Christopher Bauer bestimmt gewesen sein. Kurz nach dem Zusammenbruch von Wirecard wurde berichtet, Bauer sei gestorben.

Deutsche Regierungsspitze vor U-Ausschuss

Die ermittelnden Behörden stehen noch immer vor vielen offenen Fragen. Parallel zu den Ermittlungen versucht auch ein parlamentarischer U-Ausschuss in Berlin, die Vorgänge und insbesondere mögliche Verstrickungen der Politik zu beleuchten. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) verteidigte bei ihrer Befragung am Freitag ihren Einsatz für Wirecard bei einer China-Reise. Das Unternehmen habe „keine Sonderbehandlung“ genossen, so Merkel.

Am Donnerstag war bereits der Finanzminister und designierte SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz an der Reihe. Dieser wies dabei erwartungsgemäß eine Mitschuld für den milliardenschweren Wirecard-Skandal weit von sich.

Scholz-Vertrauter: Alle wurden getäuscht

Am Mittwoch hatte der Untersuchungsausschuss schon Finanzstaatssekretär Jörg Kukies, einen der engsten
Scholz-Mitarbeiter, neun Stunden lang bis tief in die Nacht befragt. Scholz sagte, er vertraue seinen Staatssekretären, die er sehr sorgfältig ausgewählt habe. „Das sind gute Leute.“ Kukies – ein früherer Topinvestmentbanker – hatte gesagt, in dem Fall seien alle getäuscht worden, die Regierung ziehe aber die richtigen Schlüsse.

„Wir haben es beim Fall Wirecard mit einem Fall von Bandenkriminalität zu tun“, so Scholz. „Wir müssen dafür sorgen, dass sich so etwas nicht wiederholt.“ Die Bonner BaFin sei durchaus gegen Wirecard vorgegangen und habe den Stein ins Rollen gebracht. Es sei nicht die schützende Hand über den Konzern gehalten worden. „Sie hat im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten gehandelt. Aber mit dem Wissen von heute ist klar: Das Aufsicht- und Kontrollgefüge ist für einen solch erheblichen kriminellen Angriff nicht gut genug gerüstet.“ Das werde mit dem Wirecard-Gesetz FISG verbessert. Dieses wird momentan im Bundestag beraten, Änderungen nicht ausgeschlossen.

Grünen-Kritik an Leerverkaufsverbot

Die Opposition und die Union halten die Bilanzkontrolle der BaFin zusammen mit der privatwirtschaftlichen DPR für ineffektiv. Danyal Bayaz von den Grünen bezeichnete zudem das Leerverkaufsverbot als fatal.

Damit hatte die BaFin im Februar 2019 – als es bereits Hinweise in Medien und von Investoren auf Ungereimtheiten bei Wirecard gab – alle Wetten auf Kursverluste mit Wirecard-Aktien untersagt. „Das Leerverkaufsverbot ist ein besonderer Fehler.“ Die BaFin habe sich damit auf die Seite von Kriminellen gestellt. CDU-Politiker Hauer sagte, Scholz sei darüber früh informiert worden: „Er hat nicht die Notbremse gezogen.“