Coronavirus-Intensivstation in Buenos Aires
Reuters/Agustin Marcarian
„Besorgniserregend“

Lateinamerika kämpft mit neuer Welle

Kein Tag vergeht ohne neue Hiobsbotschaften in Lateinamerika. Brasilien gilt dabei als Brennpunkt der außer Kontrolle geratenen Pandemie, doch auch im Rest des Kontinents ist die Lage düster: Peru leidet unter der weltweit höchsten Sterberate, Argentinien kämpft mit steigender Armut, Venezuela mit einem kollabierenden Gesundheitssystem, Mexiko mit Impfunwilligen und Chile trotz seiner hohen Impfquote mit vielen Neuinfektionen.

Während Europa langsam die Coronavirus-Maßnahmen lockert, spitzt sich die Pandemielage in Lateinamerika aufgrund einer weiteren Welle wieder zu. Die Direktorin der Pan-Amerikanischen Gesundheitsorganisation (PAHO), Carissa Etienne, sprach bereits Anfang April von besorgniserregend hohen Coronavirus-Infektionszahlen.

Besonders dramatisch ist die Situation derzeit in Brasilien, dem Land mit den absolut gesehen zweitmeisten Todesfällen weltweit. Seit Beginn der Pandemie starben hier fast 400.000 Menschen, über 14 Millionen Menschen haben sich seitdem mit dem Virus infiziert. Kürzlich baten Gouverneure brasilianischer Bundesstaaten um „humanitäre Hilfe“ bei den Vereinten Nationen – in den Krankenhäusern fehlten sowohl Sauerstoff als auch Medikamente.

Friedhof in Sao Paolo
Reuters/Amanda Perobelli
Ein Friedhof in Sao Paulo – durch die gefährliche Mutation kam es in Brasilien zu einem drastischen Anstieg des Pandemiegeschehens

Grenzschließungen und Lockdown in Chile trotz Impfungen

Experten und Expertinnen führen das hohe Infektionsgeschehen unter anderem auf die derzeit in Brasilien grassierende Virusvariante P.1 zurück. Diese ist offenbar deutlich gefährlicher als der ursprüngliche Erreger und beunruhigt Experten vor allem deshalb, weil sie hochansteckend ist. Aus diesem Grund und um auf die stark gestiegenen Infektionszahlen im eigenen Land in Schach zu halten, schloss etwa Chile seine Grenzen bis Ende April und verschärfte zudem den Lockdown.

Zwar verläuft die Impfkampagne in Chile äußerst zügig – bereits rund ein Drittel der 19 Millionen Einwohner und Einwohnerinnen konnte bereits immunisiert werden, laut Experten führte der rasche Impfverlauf jedoch dazu, dass sich in der Bevölkerung Sorglosigkeit ausbreitete. Das wiederum hatte den erneuten starken Anstieg der Infektionszahlen zur Folge. Mittlerweile gibt es in Chile über eine Million Fälle.

Ein weiterer Grund für den rasanten Anstieg könnte jedoch auch der Impfstoff selbst sein: Zum Einsatz kommt vor allem das Produkt des chinesischen Herstellers Sinovac. Der Impfstoff verhindert zwar schwere Verläufe, allerdings liegt der Schutz gegen eine Ansteckung laut einer brasilianischen Studie nur bei etwa 50 Prozent.

Impfunwillige Ortschaften in Mexiko

Während die Impfquote in Chile zu einer der höchsten der Welt zählt, gehört jene in Mexiko zu den niedrigsten. Auch sprachen sich bereits einige Gemeinden gegen die Impfung ihrer Bewohnerinnen und Bewohner aus. Die meisten der impfunwilligen Ortschaften liegen nach Angaben der Gesundheitsbehörden in den indigen geprägten südlichen Bundesstaaten Oaxaca und Chiapas.

Die ablehnende Haltung gegen das Impfen beruht auf kulturellen und religiösen Überzeugungen sowie auf Angst vor möglichen Nebenwirkungen. Um die Impfbereitschaft zu steigern, ließ sich Mexikos Präsident Andres Manuel Lopez Obrador kürzlich öffentlich mit dem Vakzin von AstraZeneca impfen: „Es gibt keinerlei Risiko“, sagte er.

Impfzentrum in chilenischer Hauptstadt Santiago
AP/Esteban Felix
Chilenen und Chileninnen warten auf ihre Impfung – obwohl das Land eine der höchsten Impfquoten aufweist, gehen auch hier die Zahlen nach oben

Weltweit höchste Sterblichkeitsquoten

Mexiko hat in absoluten Zahlen weltweit die drittmeisten Todesopfer in Zusammenhang mit Coronavirus-Infektionen registriert. Das Nachrichtenpool Lateinamerika (NPLA) führt das auf die lasche Coronavirus-Politik des Präsidenten zurück. Es gebe keine Maßnahmen zur Eindämmung, zudem lebe die Hälfte der Bevölkerung in Armut, „viele müssen sich auch in Coronazeiten in überfüllte U-Bahnen drängeln oder auf vollen Märkten ihre Waren verkaufen“.

In Relation zur Einwohnerzahl weist Mexiko der „Financial Times“ („FT“) zufolge die fünfthöchste Sterblichkeitsquote der Covid-Erkrankten weltweit auf. An erster Stelle liegt Peru, gefolgt von Ecuador, Nicaragua und Bolivien. Sowohl Peru als auch Ecuador haben „mehr als 1.000 Todesfälle pro Million Einwohner“ zu verzeichnen, heißt es in dem Bericht.

Auch das Onlineportal Amerika21 schreibt über Peru: „Die Übersterblichkeit seit der Ankunft des Coronavirus im März vergangenen Jahres wird von der nationalen Statistikbehörde auf 153.000 beziffert. Demnach verstarb bereits einer von 200 Menschen im Andenstaat an direkten oder indirekten Folgen der Pandemie.“ Die Kliniken seien kurz vor dem Kollaps, heißt es seitens der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF).

Kampf gegen viele Krisen in Argentinien

Zu einem deutlichen Anstieg der Neuinfektionen und zu Höchstwerten bei den Todesfällen kam es zuletzt auch in Argentinien. Nach einem der längsten Lockdowns weltweit im vergangenen Jahr verhängte die Regierung nun wieder strenge Ausgangsbeschränkungen für große Teile des Landes. So ruhen auch hier die Hoffnungen auf der Impfung.

Als erstes Land in Lateinamerika begann Argentinien mit der Herstellung des russischen Coronavirus-Impfstoffs „Sputnik V“, der später in andere lateinamerikanische Länder exportiert werden soll.

In Argentinien wird zudem das Vakzin des Herstellers AstraZeneca produziert, das zur Abfüllung nach Mexiko geschickt wird. Bisher haben etwas mehr als zehn Prozent der Bevölkerung mindestens eine Dosis erhalten, rund zwei Prozent sind bereits vollständig geimpft – die meisten davon mit „Sputnik V“.

Neben der Coronavirus-Krise hat Argentinien aber vor allem mit dem Anstieg der Armut zu kämpfen. Diese befinde sich auf dem „höchsten Stand seit 2006“ wie das Onlineportal Amerika21 aus dem staatlichen Armutsbericht zitiert. „Mehr als die Hälfte der Kinder gilt als arm, mehr als 15 Prozent leiden unter extremer Armut“, heißt es dazu. Dazu komme noch die steigende Inflation, die 2020 rund 36 Prozent betragen habe.

Kliniken „komplett voll“ in Caracas

Unter einer dramatischen Wirtschaftskrise leidet seit Jahren auch Venezuela. Durch die Pandemie wurde diese noch einmal verstärkt, was unter anderem dazu führte, dass das Gesundheitssystem völlig zusammenbrach. Jaime Lorenzo von der Nichtregierungsorganisation Medicos Unidos Venezuela betonte Mitte April, die Nachfrage nach Klinikbetten übersteige das Angebot bei Weitem: „Der Kollaps ist gewaltig.“ Nach Angaben des Gewerkschaftschefs Mauro Zambrano sind in der Hauptstadt Caracas „die Kliniken komplett voll“.

Menschen warten in Caracas auf die Befüllung von Sauerstoffflaschen
Reuters
Die Kliniken in Caracas, Venezuela, sind überfüllt – viele Erkrankte werden daheim von Angehörigen betreut. Hier warten sie auf die Befüllung von Sauerstoffflaschen.

Offiziellen Angaben zufolge hat Venezuela 165.000 Infektionsfälle und fast 1.700 Tote, doch Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch halten diese Zahlen für viel zu gering. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass auch hier die zuerst in Brasilien nachgewiesene Mutation P1 wütet.

Die venezolanische Regierung will in diesem Jahr eigentlich 70 Prozent der 30 Millionen Einwohner und Einwohnerinnen des Landes impfen, erhielt bisher aber nicht einmal eine Million Dosen. Dieses rare Gut erhalten nun vorrangig an Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Gesundheitswesens, Lehrer und Lehrerinnen sowie Regierungsbeamte.

Kritik an ungerechter Impfstoffverteilung

Erst am Mittwoch prangerten zahlreiche Vertreter und Vertreterinnen lateinamerikanischer Länder bei der Generalversammlung des Iberoamerika-Gipfels in Andorra eine ungerechte Verteilung der Coronavirus-Impfstoffe an. „Die reichen Länder haben mehr als die Hälfte aller Impfstoffe gekauft, während sie nur 16 Prozent der Weltbevölkerung stellen“, sagte Boliviens Präsident Luis Arce.

Spaniens Regierungschef Pedro Sanchez versprach auf Twitter, sein Land werde Lateinamerika dieses Jahr 7,5 Millionen Impfdosen zur Verfügung stellen. Eine bessere globale Zusammenarbeit sei „unerlässlich“, betonte auch der portugiesische Regierungschef Antonio Costa. „Es darf nicht sein, dass einige das Recht haben, die Impfung ihrer Bevölkerung sicherzustellen und andere nicht.“ Das sei im Interesse aller. „Kein Land kann seine Grenzen für immer geschlossen halten“, warnte Costa. Auch der aus Argentinien stammende Papst Franziskus setzte sich in einer Grußbotschaft für eine gerechte Verteilung der Impfstoffe ein.