Mädchen hält EU-Fahne
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Zukunftskonferenz

Auf „Tuchfühlung“ mit der EU gehen

Über 1.200 Ideen sind bisher auf der Plattform der Konferenz zur Zukunft Europas eingelangt. In Bereichen wie Gesundheit, Klima, Bildung, Migration, Jobs und Wirtschaft können EU-Bürger und -Bürgerinnen Vorschläge machen, um das Leben in Europa zu verbessern. Am 9. Mai, dem Europatag, soll die Zukunftskonferenz offiziell starten. Begonnen hat sie mit einem Streit und fast einem Jahr Verzögerung.

Das Besondere an dieser Initiative: Sie wird von allen drei EU-Institutionen – Parlament, Kommission und Rat – getragen. Diese Abstimmung braucht ihre Zeit. Nicht nur die Pandemie, sondern auch die fehlende Einigung über den Vorsitz der Konferenz waren daher Ursache für die Verspätung. Als Kompromiss leiten nun alle drei Institutionen die Konferenz gemeinsam.

Eigentlich soll es aber darum gehen, mit den in Europa lebenden Menschen einen Dialog zu starten. „Je mehr mitmachen und sich – am besten gemeinsam mit anderen – für konkrete Reformen aussprechen, desto erfolgsversprechender ist diese Konferenz“, sagte die Europaexpertin und stellvertretende Obfrau der überparteilichen Plattform BürgerInnen Forum Europa, Verena Ringler, im ORF.at-Interview. Es dürfe kein reines Spartenevent von EU-Insidern und EU-Institutionen sein.

Erwartungen gering halten, Austausch zulassen

Wichtig sei, dass sich in diesen EU-Zukunftsgesprächen auch die entscheidenden Akteure wie nationale Politiker, die Unternehmer und gesellschaftliche Vorbilder aus Kunst, Kultur, Sport und Literatur einbringen. Die Krux sei, die demografisch unterrepräsentierte Gruppe der Jugend zur Teilnahme zu motivieren und glaubwürdig miteinzubeziehen und diese zur Teilnahme zu motivieren.

„Akteure auf beiden Seiten – den Bürgern hier, den Institutionen dort – tun gut daran, wenn sie die Erwartungen in puncto Ergebnissen gering halten, und eher die Gelegenheit für den interkulturellen Kontakt und den Austausch nützen – also auf Tuchfühlung gehen“, sagte Ringler. Entscheidend sei nun, Gespräche zu führen, Austausch zuzulassen und voneinander zu lernen. „Es ist nicht trivial, 450 Millionen Menschen zu einem Gespräch über die Zukunft Europas einzuladen.“

Ana Paula Zacaria, Dubravka Suica und Guy Verhofstadt
AP/Francois Walschaerts
Die Vertreter des Exekutivausschusses bei der ersten offiziellen Präsentation der Konferenz: Portugals Europastaatssekretärin Zacarias, EU-Kommissionsvizepräsidentin Suica, EU-Parlamentarier Verhofstadt (v. l. n. r.)

Übersetzung in alle EU-Amtssprachen

Über eine bereits Mitte April gestartete Plattform, die Drehscheibe der Konferenz, können schon jetzt Ideen zur Verbesserung der EU von jedem einzelnen hochgeladen und Veranstaltungen zu Europa gesammelt und besucht werden. Durch die Übersetzung in alle 24 EU-Amtssprachen ist auch ein Austausch über nationale Grenzen hinweg – zumindest virtuell – möglich.

„Ziel ist, dass die Bürger das Gefühl haben, beeinflussen zu können, wie europäische Politik ausgearbeitet wird“, erklärte EU-Kommissionsvizepräsidentin Dubravka Suica. So viele Bürger wie möglich sollten mitmachen. Die EU will „zuhören“. Das müsse tatsächlich passieren, so Ringler und spricht von „Beziehungsarbeit“ auf beiden Seiten. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will die „stille Mehrheit“ erreichen.

Späterer Schulbeginn, weniger Bürokratie

Die Ideensammlung auf der Plattform wächst. So schreibt etwa ein Schüler aus Deutschland, dass er ständig mit Schlafmangel kämpfe, weil die Schulen so früh starten. Er plädiert für einen EU-weit späteren Schulbeginn. Ein anderer fordert kostenlose Interrail-Tickets für alle 18-Jährigen. Andere machen sich Gedanken über eine bessere EU-weite Antwort auf Gesundheitskrisen.

Ein EU-Bürger gibt einen Denkanstoß, was man gegen den ständig auftauchenden Bürokratievorwurf tun könne: "Warum hat der Rechnungshof 27 Vollmitglieder auf politischer Ebene, jedes mit seinem eigenen privaten Personal („Kabinett")? (…) Warum 27 Kommissare, wenn es in Wirklichkeit nur etwa ein Dutzend echte Ressorts gibt?“ In beiden Fällen könne ein nationales Gleichgewicht auf andere Weise erreicht werden, als dass jedes Land jeweils ein Mitglied stellt, so der Vorschlag.

Appell von 21 Präsidenten

21 Staatspräsidentinnen und -präsidenten der EU, unter ihnen Bundespräsident Alexander Van der Bellen, riefen im Vorfeld gemeinsam alle Bürgerinnen und Bürger dazu auf, sich aktiv an der Konferenz über die Zukunft Europas zu beteiligen. Ziel der Staatsoberhäupter ist es, möglichst viele Menschen in die weitere Entwicklung der Europäischen Union einzubinden.

Charta gegen Spam und „Fake News“

Ein spezieller Feedback-Mechanismus soll garantieren, dass die „wichtigsten“ Ideen gesammelt werden – mit Hilfe von Moderatoren und Algorithmen. „Die Ideen, die am stärksten unterstützt werden, werden oberste Priorität haben“, sagte EU-Parlamentarier Guy Verhofstadt, Mitglied im Exekutivausschuss der Konferenz. In einer eigenen Charta festgeschriebene Regeln sollen Hassrede, „Fake News“ und Spam verhindern.

Die aus der Plattform entstehenden Kernthemen werden dann in eigenen Bürgerforen diskutiert. Jeweils 200 EU-Bürger und -Bürgerinnen werden zufällig ausgewählt und diskutieren bei mehreren, auch persönlichen, Treffen über Verbesserungen für Europa. Junge Menschen zwischen 16 und 25 Jahren sollen zumindest ein Drittel des gesamten Panels ausmachen. In den geplanten größeren Plenarsitzungen – mit Beteiligung von EU-Institutionen, nationalen Abgeordneten und Vertretern aus den Bürgerforen – sollen die konkreten Empfehlungen für Veränderungen in der EU entstehen.

Dabei gehe es um all jene Sachthemen, die uns jeden Tag begleiten – von Menschenrechten, über die unzureichend reformierte Agrarpolitik bis zur Frage von Grundrechten in Zeiten von künstlicher Intelligenz, erklärt Ringler und sie stellt zugleich fest, was diese Initiative nicht ist: eine Konferenz zum EU-Abstimmungsprozedere und zur Institutionenreform.

„Ergebnisoffen“, aber keine verpflichtende Umsetzung

Die Sammlung soll zwar „ergebnisoffen“ geführt werden. Doch eine Verpflichtung zur Umsetzung gibt es nicht. Gehen die Ideen zu sehr ans Eingemachte und würden sie eine Änderung der EU-Verträge notwendig machen, müssten die EU-Mitgliedsländer einstimmig zustimmen. Das ist eine sehr hohe Hürde, haben doch einige EU-Staaten dazu bereits abgewunken. Auch die Kommission gibt sich zurückhaltend.

Es sei aber nicht unmöglich gemacht worden in der gemeinsamen Erklärung, betonte der EU-Parlamentsvertreter Verhofstadt. Es gehe aber jetzt vor allem um Themen wie Gesundheit, Arbeitsplätze und Soziales, ließ Ana Paula Zacarias, portugiesische Europastaatssekretärin und damit Vertreterin des Rats, bei der Vorstellung des Projekts kürzlich wissen. Das sei im Moment wichtiger als Vertragsänderungen: „Aber wir werden zuhören und uns mit allem auseinandersetzen, was die Bürger uns vorlegen. Wir müssen verstehen, was die Menschen wirklich wollen.“

Europaexpertin Ringler sieht in der Konferenz eine Aufbruchsinitiative nach der Pandemie: „Europäischer Rat und Regierungen lassen sich kaum von den Bürgern dazu bringen, mehr Souveränität nach Brüssel zu geben.“ Umso mehr könne man bei konkreten Einzelthemen Reformen erzielen etwa bei der Kreislaufwirtschaft und der Digitalisierung. „Die Menschen in der EU sind die Seismografen. Sie zeigen die Schieflagen auf und weisen darauf hin, wo es klaffende Widersprüche zwischen modernen Lebensrealitäten und politischen Rahmen gibt.“

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
APA/AFP/Olivier Matthys
Emmanuel Macron gab den Anstoß für Reformen in der EU, Ursula von der Leyen nahm den Faden auf

Lange Anlaufzeit

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte bereits seit seinem Amtsantritt 2017 auf eine Reform der EU gedrängt und wollte schon 2018 mit einem Bürgerdialog starten. Mitte 2019 nahm die damals designierte EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen den Faden auf und schlug eine „Konferenz zur Zukunft Europas“ vor. Eineinhalb Jahre später ist es nun so weit. Am Sonntag gibt es den offiziellen Startschuss in Straßburg. In den nächsten Wochen sollen die Bürgerpanels beginnen.

Enden soll die Konferenz im Frühjahr 2022 während der französischen EU-Präsidentschaft und zum Zeitpunkt der nächsten Präsidentschaftswahl in Frankreich. Amtsinhaber Macron hofft hier zumindest auf Extrapunkte durch den von ihm angestoßenen EU-Reformprozess, wenn er auch um einiges später in Gang gesetzt wurde, als sich Macron vorgestellt hatte.