Israels Premier Benjamin Netanjahu
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Netanjahu-Prozess

„Der Große“ und die Zähmung der Medien

In Israel läuft seit Wochen der erste Korruptionsprozess gegen Regierungschef Benjamn Netanjahu. Der zentrale Zeuge schilderte dabei im Detail, wie ein Regierungschef versucht, sich Medien gefügig zu machen: mit dem Versprechen, dem Inhaber via Medienbehörde lukrative Vorteile zu verschaffen, und gleichzeitigen Drohungen, ständigen Interventionen zu Artikeln und enormem internem Druck – dokumentiert in Telefonaufzeichnungen und Chatverläufen, in denen Netanjahu als „der Große“ bezeichnet wird.

Es ist der erste von insgesamt drei Prozessen gegen den längstdienenden Regierungschef des Landes. Der Prozess geht seit Anfang April – parallel zu den komplizierten Koalitionsverhandlungen nach der vierten Parlamentswahl binnen zwei Jahren. Diese Verhandlungen hängen gleich aus mehreren Gründen ganz unmittelbar mit dem Prozess zusammen. Die Koalitionen unter Netanjahus Führung zerfielen zuletzt auch deshalb, weil dieser sich – durch einen Beschluss in der Knesset – Schutz vor Strafverfolgung sichern möchte.

Doch zunächst zum Prozess selbst: Netanjahu ist wegen Bestechung, Betruges und Veruntreuung angeklagt. Er habe Gefälligkeiten als „Währung“ begriffen und gewusst, dass diese ihm wegen seines Amtes geleistet würden, so der Vorwurf der Anklage.

Positive Berichte für behördliche Bestätigungen

Im „Fall 4000“ – die anderen sind als „Fall 2000“ und „Fall 1000“ bekannt – geht es um den Vorwurf eines informellen Deals, den Netanjahu laut Anklage mit dem Eigentümer der Nachrichtenwebsite Walla!, Schaul Alovitsch, einging: Im Gegenzug für unkritische, positive Berichterstattung durch Walla! habe Netanjahu – unter anderem via die ihm damals direkt unterstehende Medienbehörde – Alovitsch geschäftliche Vorteile im Wert von insgesamt 1,8 Mrd. Schekel (460 Mio. Euro) verschafft. Walla! ist eine der größten Nachrichtenwebsites des Landes.

Diese gegenseitige „Hilfe“ zum je eigenen Nutzen blieb laut Anklage de facto über einen Zeitraum von rund vier Jahren wirksam – von 2013 bis 2017. Laut den Vorwürfen gab es vor allem in den Wahlkämpfen 2013 und 2015 auffallend positive Berichterstattung über Netanjahu und seine Familie – und besonders negative Berichte über seine Konkurrentinnen und Konkurrenten.

Hauptzeuge mit Aufnahmen und Chats

Hauptzeuge in dem Fall ist der ehemalige Geschäftsführer von Walla!, Ilan Jeschua. Er schilderte in der mehrtägigen Befragung durch die Staatsanwaltschaft im Detail, wie dieser Deal im Alltag funktionierte – und welche Auswirkungen er auf die journalistische Arbeit und die Berichterstattung einer der größten israelischen Nachrichtenwebsites hatte.

Ab Dienstag werden Netanjahus Verteidiger Jeschua ins Kreuzverhör nehmen. Sie dürften vor allem darauf verweisen, dass Jeschua nie eine direkte Verbindung mit den Netanjahus hatte, und darauf bestehen, dass diese sich nie in redaktionelle Angelegenheiten eingemischt hätten. Das Verbindungsglied war laut Staatsanwaltschaft vor allem Nir Chefez, damals Medienberater Netanjahus, zudem mehrere Mitarbeiter von Netanjahus Stab. Um selbst einer Anklage zu entgehen, stellte sich Chefez als Kronzeuge der Anklage zur Verfügung und wird im späteren Verlauf des Prozesses gegen Netanjahu aussagen.

„Das ging ziemlich automatisch“

Die Dimension von Netanjahus Interventionen in die Berichterstattung skizzierte Jeschua gleich zu Beginn: Von allen anderen Politikerinnen und Politikern zusammen habe er in all den Jahren in seiner Funktion etwa so viele Bitten und Interventionen bekommen wie von den Netanjahus in einer Woche.

Die Erwartung von Netanjahus Mitarbeitern, mit denen er Kontakt hatte, insbesondere von Chefez, sei klar gewesen: „Ihre Forderungen und Bitten zu erfüllen. Das ging ziemlich automatisch. Er musste nichts schreiben. Er schickte mir irgendeinen Artikel, und es war klar, dass ich den offline nehmen muss.“

Auftrag, Wünsche in Redaktion umzusetzen

Auch intern war es ähnlich: Der frühere Walla!-Geschäftsführer belegte sein Verhältnis mit dem ebenfalls angeklagten Eigentümer Schaul Alovitsch und dessen Frau Iris mit zahlreichen Aufzeichnungen von Telefonaten und WhatsApp-Nachrichtenverläufen.

Das Bild, das Jeschua zeichnete, ist folgendes: Auf ihn wurde regelmäßig und phasenweise ganz massiv Druck ausgeübt. Die Redaktion wurde gezielt im Dunkeln gelassen über die Vorgänge, auch wenn diese – die Interventionslust der Netanjahus ist seit Langem ein offenes Geheimnis – natürlich sehr wohl wusste oder ahnte, was im Hintergrund ablief. Es war laut seinen Angaben Jeschuas Auftrag, in der Redaktion für die Umsetzung der Wünsche Netanjahus zu sorgen.

Israels Premier Benjamin Netanjahu verlässt den Gerichtssaal
APA/AFP/Abir Sultan
Netanjahu beim Verlassen des Verhandlungssaals im Jerusalemer Bezirksgericht

Kontrolle bis in die Details

Wenn das Eignerehepaar Alovitsch vom Geschäftsführer Jeschua Eingriffe in die redaktionelle Arbeit forderte, begründeten sie das laut Jeschua immer wieder damit, das Ehepaar Netanjahu sei völlig außer sich. Und immer wieder hätten sie betont, das sei eine „besonders sensible Woche“, und: Wenn Jeschua Berichte nicht offline stellen oder umschreiben lasse, würde er den Alovitschs schweren wirtschaftlichen Schaden zufügen. Er habe die ganze Zeit Probleme mit „dem Großen“, klagte Schaul Alovitsch einmal. Mit „der Große“ sei Netanjahu gemeint, so Jeschua.

Die Vorgaben von Iris und Schaul Alovitsch seien zudem bis in kleinste Details gegangen: „Es gab eine Kontrolle über die detaillierte Aufmachung, über einzelne Wörter und welches Bild verwendet wird. Wie lange etwas wo auf der Website online ist und wann es offline zu nehmen ist – also eigentlich der diensthabende Redakteur der Website zu sein“, zitierte der öffentlich-rechtliche Rundfunk Kan aus Jeschuas Aussage.

Material und Auftrag für Schmierartikel über Gegner

Jeschua schilderte zudem, wie er aus dem Büro Netanjahu Material über dessen Kontrahenten Naftali Bennett und dessen Frau erhalten habe. Der Auftrag war laut Jeschua, einen Artikel zu schreiben, mit dem der religiöse Bennett – übrigens Ex-Stabschef Netanjahus – desavouiert werden sollte, da seine Frau in der Vergangenheit angeblich in einem nicht koscheren Restaurant gearbeitet hatte.

„Sie haben mich angeschrien“

Auf einer Aufnahme fordert Iris Alovitsch von Jeschua, eine Gegendarstellung zu einem kritischen Bericht über Netanjahu in einem TV-Sender zu bringen. „Ich schwöre dir, sie haben mich angeschrien!“ Mit „sie“ sei das Ehepaar Netanjahu gemeint, so Jeschua.

Es sei „schon zur Routine geworden“, dass Walla! kritische Berichte anderer Medien nicht zitierte oder wiedergab, so Jeschua. Im konkreten Fall sei dann „die zusätzliche Absurdität entstanden, dass wir eine Gegendarstellung veröffentlicht haben, aber die eigentliche Nachricht selbst nicht“.

Geschäftsführer vs. Chefredakteur

Er sei frustriert gewesen von diesen Vorgaben und davon, Iris Alovitsch, die formal gar nicht seine Chefin war, zufriedenstellen zu müssen und „den Prozess, in dem wir drin waren (eine Meldung über den TV-Bericht online zu stellen, Anm.), zu neutralisieren“. Auf die Frage, wessen Aufgabe es bei Walla! eigentlich sei, solche Anweisungen zu geben, antwortete der Ex-Geschäftsführer: „Der Chefredakteur“.

Ein anderes Mal schrieb Schaul Alovitsch Jeschua per WhatsApp: „Gib die Nachricht sofort von der Website, das wird die Bestätigung von Yes verhindern, ich bringe dich um.“ Yes war ein TV-Satellitenunternehmen von Alovitsch, für das er eine medienbehördliche Genehmigung von Netanjahu wollte.

„Bekomme eins auf den Kopf und gebe es weiter“

Jeschua betonte, der Druck sei sehr hoch gewesen. „Das zeigt sich darin, dass ich etwas sofort nach unten weitergebe. Ich bekomme eins auf den Kopf und gebe es weiter (an die Redaktion, Anm.).“

Berühmt-berüchtigt in der Geschichte israelischer Wahlkämpfe ist mittlerweile Netanjahus Slogan am Tag der Knesset-Wahl im März 2015, „die arabischen Wähler bewegen sich in riesigen Mengen zu den Urnen“, um seine eigene Wählerschaft zu mobilisieren. Jeschua hatte Netanjahus Medienberater Chefez angekündigt, dass das auf Walla! einer der Aufmacher sein werde. Dieser antwortete: „Habe Bibi gezeigt, was auf der Front ist, zufrieden.“

Ein Videointerview eine Woche vor der Wahl wollte Netanjahu dagegen stoppen. Jeschua betonte, es habe großen Druck von Alovitsch und Chefez gegeben, das Interview nicht online zu stellen bzw. es zu editieren und Teile herauszunehmen. Tatsächlich ging das Videointerview erst – in der bearbeiteten Fassung – online, nachdem eine Tageszeitung berichtet hatte, das Interview soll wegen Drucks Netanjahus nicht publiziert werden.

Warnung, es Redaktion nicht zu verraten

Jeschua betonte, er habe Chefez – ohne Wissen der Redaktion – das gesamte Interview vorab geschickt, dieser machte Anmerkungen dazu. Auf WhatsApp warnte Jeschua Chefez, dieser dürfe dem Walla!-Chefredakteur nicht sagen, dass er das Material vorab bekommen habe. Chefez antwortete: „Klar“. Und dann weiter: „Wenn einmal wer was sagen wird, stimmen wir beide die Antwort ab.“

Auf die Frage der Anklägerin Jehudit Tirosch, warum es ihm, Jeschua, so wichtig gewesen sei, das vor seinen eigenen Journalisten geheim zu halten, antwortete dieser: „Ich gebe es an den Medienberater des Regierungschefs weiter – damit dieser das Interview, das mit ihm gemacht wurde, bestätigt – nach den Veränderungen, die sie gefordert haben. Da war klar: Wenn das die Redaktion gewusst hätte, hätte sie gekocht.“

Nach dem Sieg Netanjahus gab es Lob von Or Alovitsch, dem Sohn des Walla!-Inhabers, für Jeschua. Sara Netanjahu habe sich bei seiner Mutter für die Hilfe bei der Wahl bedankt, schrieb er ihm per WhatsApp. Und weiter: „Du hast Bibi gerettet.“ Jeschua meinte zu Schaul Alovitsch dagegen: „Fehlt nur noch, dass der Große nicht liefert, nach allem, was wir für ihn getan haben.“ Jeschua profitierte selbst im Lauf der Jahre im Umfang von umgerechnet 3,8 Mio. Euro davon, dass er half, die redaktionelle Unabhängigkeit von Walla! zu zerstören.

Fotos verstorbener Mutter als Ausrede

Einen Großteil des Belastungsmaterials, Telefonmitschnitte und Chatverläufe, hatte Jeschua auf seinem Handy – und eigentlich sollte dieses gar nicht mehr existieren, wie er vor Gericht sagte. Das Ehepaar Alovitsch habe ihn, als sich abzeichnete, dass Ermittlungen eingeleitet werden, zu sich gerufen und gedrängt, alles zu löschen und dann das Handy zu zerstören, da ansonsten die Chats rekonstruiert werden könnten.

Jeschua weigerte sich und redete sich laut eigener Aussage schließlich heraus: Auf dem Handy seien auch Fotos seiner verstorbenen Mutter, die wolle er nicht verlieren. Er versprach aber, zu Hause, nach dem Sichern der privaten Fotos, alles zu löschen.

„Gespannt, wie lange das halten wird“

An diesem Punkt habe er allerdings beschlossen, nicht mehr mitzumachen, so Jeschua. Stattdessen sei er ins Büro zurückgekehrt und habe den Chefredakteur und den Leiter des Nachrichtendesks zu sich gerufen. „Ich sagte ihnen, dass die einseitige Berichterstattung mit diesem Augenblick beendet ist. Auch wenn ich etwas fordere, tut es nicht. Er (der Chefredakteur, Anm.) schaute auf die Uhr und meinte: ‚Bin gespannt, wie lange das halten wird.‘“

„Vorteile von Medieneigentümern verlangen“

Staatsanwältin Liat Ben-Ari sprach zu Prozessbeginn von einem „ernsten Fall von Korruption durch die Regierung“. Ben-Ari warf Netanjahu vor, die ihm anvertraute Regierungsmacht unter anderem dazu genutzt zu haben, „unzulässige Vorteile von Eigentümern großer Medien in Israel zu verlangen“. Er habe damit seine eigenen Interessen vorantreiben wollen, „auch bei seinem Bestreben, wiedergewählt zu werden“.

Damit spielte sie auch auf ein weiteres Verfahren – den „Fall 2000“ – an. Darin wird Netanjahu vorgeworfen, einen Deal mit dem Herausgeber der größten israelischen Tageszeitung „Jediot Achronot“ Arnon Moses, versucht zu haben. Netanjahu habe im Gegenzug für positive und unkritische Berichterstattung angeboten, ein Gesetz zu unterstützen, das Moses’ größten Konkurrenten, die Gratiszeitung „Israel Hajom“, verboten hätte.

Für Netanjahu eine „Hexenjagd“

Netanjahu sieht in diesem Prozess und den weiteren Anklagen eine „Hexenjagd“ gegen sich. Der Staatsanwaltschaft unterstellte er sogar einen „Putschversuch“. Der Prozess läuft parallel zu den äußerst komplizierten Koalitionsverhandlungen. Für Netanjahu – den ersten amtierenden Regierungschef, der wegen Bestechung und Korruption angeklagt ist – geht es dabei um viel: Schafft er es nicht, eine Koalition zu bilden, so wird es auch eng mit seinem wohl wichtigsten persönlichen Ziel: die Immunität vor der Strafverfolgung durch die Knesset zu erlangen.