Hans und Sophie Scholl mit Christoph Probst
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Sophie Scholl 100

Die Frau hinter der Ikone

Mit 21 Jahren wurde Sophie Scholl beim Verteilen von Flugblättern gegen das NS-Regime verhaftet und vier Tage später hingerichtet. Sie wurde zur Ikone des Widerstands. Zwei Biografien, die im Vorfeld von Scholls 100. Geburtstag erschienen sind, räumen mit Legenden auf und kommen nicht umhin, am Mythos Sophie Scholl zu kratzen. Scholls Vermächtnis wird dadurch nicht geschmälert – im Gegenteil.

Ihr Gesicht ist auf Briefmarken abgebildet, Schulen sind nach ihr benannt, ihr Leben ist Stoff zahlreicher Bücher und Filme. Obwohl Scholl erst später zur Widerstandsgruppe Weiße Rose stieß, deren treibende Kraft ihr Bruder Hans Scholl und dessen Freund Alexander Schmorell waren, dominiert die Studentin die kollektive Erinnerung an die Münchner Widerstandsgruppe.

Wie sehr, zeigte sich einmal mehr, als der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Weiße Rose vor zwei Jahren im Rahmen einer Gedenkveranstaltung als „Gruppe um Sophie Scholl“ bezeichnete. Als entschlossene Kämpferin für die Freiheit wird Scholl zudem gerade heute auch von jenen vereinnahmt, die nichts mit ihren Werten gemein haben.

Vom Bund Deutscher Mädel zum Widerstand

„Jeder meint die Szene zu kennen, in der sie noch im Angesicht der Gefahr die Flugblätter in den Lichthof der Universität hinunterstößt. Es scheint, als wäre diese junge Frau zur Heldin geboren“, schreibt der Historiker und Theologe Robert M. Zoske in „Sophie Scholl: Es reut mich nichts. Porträt einer Widerständigen“. Scholl sei „zu einem Klischee für das Gute und Einfache geworden, eine Heilige ohne negative Züge“. Sie habe aber viele Facetten gehabt, von denen „die todesmutige Gefangene, wie sie am Ende vor dem Volksgerichtshof steht, nur eine von vielen“ sei.

Sophie Scholl im Jahr 1941 beim Lesen eines Buchs
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Scholl, die am 9. Mai 1921 im deutschen Forchtenberg geboren wurde, auf einer Aufnahme aus dem Jahr 1941

Anhand zahlreicher, auch bisher unveröffentlichter Quellen beschreibt Zoske den langen und „zum Teil schmerzhaften Entwicklungsprozess“, den Scholl durchlebte: vom „begeisterungsfähigen, mitunter naiven Mädchen“, das sich viele Jahre beim Bund Deutscher Mädel engagierte, dem weiblichen Zweig der Hitlerjugend, hin zur „kritischen und charakterstarken Frau“, die sich dem Widerstand anschloss.

Verklärte Heldinnenfigur

Dem Menschen hinter der verklärten Heldinnenfigur spürt auch die Historikerin Maren Gottschalk in „Wie schwer ein Menschenleben wiegt. Sophie Scholl. Eine Biographie“ nach. Um Scholls Leistung für den Widerstand in vollem Umfang würdigen zu können, müsse man verstehen, wie „modern und frei“, aber auch „wie kompliziert und selbstquälerisch, wie wütend und entschlossen“ sie gewesen sei.

Scholl sei „in der ersten Reihe des Widerstands“ gestanden – „weder vor noch hinter, sondern neben ihren Gefährten“, so Gottschalk. Dass sie so einen prominenten Platz in der Erinnerung an die Widerstandsgruppe einnimmt, habe nicht zuletzt mit ihrer Schwester Inge Scholl zu tun. In deren bereits 1952 publiziertem Buch „Die Weiße Rose“ porträtiert Inge Scholl ihre kleine Schwester als Menschen, dem man von klein auf angemerkt habe, dass er zu Höherem berufen ist. Und sie tut Scholls Begeisterung für den Nationalsozialismus als „kurze Episode“ ab.

Sie habe, so Zoske, „den Wendepunkt Sophies – und ihren eigenen – so früh wie möglich ansetzen“ wollen. Laut Inge Scholl lehnte ihre Schwester schon 1936 das nationalsozialistische Regime ab. Scholls Äußerungen in ihren Tagebüchern und in Briefen zwischen 1938 und 1941 widersprechen dieser Deutung klar.

Aufnahme aus dem Jahr 1942 mit Sophie Scholl und ihrem Bruder Hans mit weiteren Soldaten am Münchner Osbahnhof
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Juli 1942 auf dem Münchner Ostbahnhof: Scholl verabschiedet Hans Scholl (2. v. l.) und Alexander Schmorell (ganz rechts), die als Sanitäter an die Ostfront abkommandiert waren

Schlüsselszene im Lichthof der Universität

Sowohl Zoske als auch Gottschalk beschönigen nichts: Sie überprüfen Legenden auf ihren Wahrheitsgehalt und dekonstruieren so den Mythos, der über die Jahrzehnte um Scholl entstanden ist. Am mutigen Handeln von Scholl und ihren Gefährtinnen und Gefährten ändert das nichts. „Sie alle stammten aus dem Bürgertum, und es ging ihnen materiell gut. Sie hätten das Kriegsende – von dem sie glaubten, dass es nahe sei – einfach abwarten und versuchen können, bis dahin ohne größere Schäden durchzukommen“, schreibt Gottschalk. Die Mitglieder der Weißen Rose seien nicht die Einzigen gewesen, die das NS-Regime ablehnten, „aber sie gehörten zu den wenigen, die ein hohes Risiko auf sich nahmen, um auf das schreiende Unrecht hinzuweisen“.

Cover des Buches „Wie schwer ein Menschenleben wiegt – Sophie Scholl – Eine Biografie“ von Maren Gottschalk
C. H. Beck

Maren Gottschalk: Wie schwer ein Menschenleben wiegt. Sophie Scholl. C. H. Beck, 347 Seiten, 24,70 Euro.

So auch am 18. Februar 1943: Sophie und Hans Scholl gingen zur Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, um Flugblätter aufzulegen. Als sie das Gebäude bereits wieder durch den Hinterausgang verlassen hatten, bemerkten sie, dass sie nicht alle Flugblätter verteilt hatten. Sie entschieden sich, zurückzugehen und die restlichen Flugblätter im zweiten Stock des Lichthofs auszulegen. Sophie Scholl gab dem Stapel auf der Balustrade einen Stoß, und die Flugblätter wirbelten in den Lichthof – eine Szene, die zu „einem Sinnbild für den Widerstand gegen das NS-Regime“ wurde, so Gottschalk. Und die zur Festnahme der Geschwister führte, denn der Hausmeister sah die herabfallenden Flugblätter und verständigte die Gestapo.

Stundenlange Verhöre

In den getrennt voneinander geführten Verhören leugneten beide Geschwister, etwas mit den Flugblättern zu tun zu haben. Als Hans Scholl aber mit Indizien konfrontiert wurde, gestand er – nicht zuletzt, um seinen Freund Christoph Probst, der Vater von drei Kindern war, zu schützen. Dieser wurde dennoch Stunden später ebenfalls festgenommen. Als Scholl erfuhr, dass ihr Bruder nicht mehr leugnete, gestand sie ebenfalls. Die Möglichkeit, die ihr von der Gestapo gegeben wurde, sich als Opfer ihres Bruders herauszureden, um ihre Strafe zu mildern, nutzte sie nicht.

„Seit ihren Geständnissen wussten Hans und Sophie, dass sie verloren waren“, schreibt Gottschalk. „Bedenkt man, dass das gesamte Netzwerk der Weißen Rose aus mehr als 50 Personen bestanden hat, ist es den Verhafteten jedoch gelungen, den Kreis der ersten Verdächtigen erstaunlich kleinzuhalten.“ In den Verhören der nächsten beiden Tage sei es nur noch darum gegangen, möglichst viele Freunde und Freundinnen zu schützen. „Verhandlungstaktisch verhielt er sich sehr geschickt“, sagte der Gestapo-Chef, der das Verhör führte, später über Hans Scholl.

Cover des Buches „Sophie Scholl: Es reut mich nichts“ von Rober M. Zoske
Ullstein Verlag

Robert M. Zoske: Sophie Scholl: Es reut mich nichts. Propyläen Verlag, 448 Seiten, 24,70 Euro.

Den Geschwistern Scholl und Probst wurden Hochverrat, Feindbegünstigung und Wehrkraftzersetzung vorgeworfen. Am 22. Februar um 9.00 Uhr wurde das Verfahren gegen sie eröffnet, wenige Stunden später wurden die drei Angeklagten zum Tod verurteilt und um 17.00 Uhr hingerichtet. Weitere Festnahmen und Todesurteile sollten folgen.

„Politisch war der Widerstand aussichtslos“

Gesichert könne heute gesagt werden, dass Scholl aus ethisch-religiöser Überzeugung handelte, so Zoske. Die Mitglieder der Weißen Rose habe ein ethischer Anspruch verbunden: „Diese bürgerliche Hochschulopposition war von Anfang an zum Scheitern verurteilt, weil sie die Macht des Wortes überschätzte und die Trägheit der Menschen unterschätzte. Politisch war der Widerstand also aussichtslos, moralisch aber für sie unausweichlich.“ Scholl und ihre Gefährtinnen und Gefährten waren „durchdrungen von einer hohen sittlichen Geisteshaltung, Verantwortungsbewusstsein, Empathiefähigkeit und Freiheitsleidenschaft“.

Eigenschaften, die gegenwärtig und zukünftig dringend gebraucht würden, so Zoske. Gerade deshalb sei das Bild der Widerstandsgruppe so anfällig für Überhöhung und Überfrachtung. Die Weiße Rose sei heute zu einem beliebig füllbaren Hohlraum für die verschiedensten gesellschaftlichen Problemlagen geworden. Scholl habe als Jüngste und als einzige Frau im innersten Kreis der Gruppe in dieser „kollektiven Erinnerungskonstruktion“ immer eine besondere Rolle gespielt. Um sie als Vorbild anzuerkennen, brauche es aber keinen Verweis auf Überirdisches.