Menschen auf der Straße in Wien
AP/Florian Schroetter
Sprenger im Interview

Die vergessene soziale Frage der Pandemie

Der Public-Health-Experte Martin Sprenger sieht in der mangelhaften Berücksichtigung der sozialen Faktoren einen der größten Fehler in der Bewältigung der Coronavirus-Pandemie. „Das hat viele Schäden unnötig verstärkt, aber auch den Erfolg vieler Maßnahmen deutlich geschwächt“, sagt er im Interview mit ORF.at. Weiters beklagt Sprenger die lückenhaften Daten und deren schlechte Qualität. Dennoch ist er zuversichtlich, dass das Infektionsgeschehen bald auf ein „akzeptables Hintergrundrauschen“ reduziert werden kann.

„Eine Pandemie ist immer auch ein soziales Ereignis“, sagt Sprenger: „Seit dem Frühjahr 2020 wissen wir, dass das Infektionsrisiko sozial ungleich verteilt ist, weil sich Menschen in prekären Wohn- und Arbeitsverhältnissen einfach leichter infizieren. Aber das Gleiche gilt auch für das Erkrankungsrisiko.“

Ärmere Menschen seien erwiesenermaßen auch häufiger chronisch krank, häufiger übergewichtig, gingen später zum Arzt und seien zumeist schlechter informiert. Doch nicht nur direkt vom Krankheitsgeschehen seien sie stärker beeinflusst: „Auch die Nebenwirkungen der Maßnahmen sind sozial ungleich verteilt. So sind ärmere Menschen häufiger von Arbeitslosigkeit und Delogierung bedroht oder betroffen.“

Auswirkungen auf Maßnahmen

Die soziale Dimension der Pandemie zu missachten habe auch zur Folge, dass die Verhaltensprävention und die Risikokommunikation darunter leide. „Und dann bleibt der Erfolg der Eindämmungsstrategie, Schutzstrategie und Folgenminderungsstrategie immer unter den Möglichkeiten“, so der Gesundheitswissenschaftler. Erst jetzt tauche das Thema in Studien und in Medienberichten langsam auf. Dabei hätte man, so Sprenger, die Sozialwissenschaften schon von Anfang mit an Bord holen müssen, stattdessen habe sich ein „virologisch-medizinisch-mathematischer Imperativ“ festgesetzt.

Nebenwirkungen beachten

Konkret seien wohl viele Kinder und Jugendliche „mittel- und langfristig geschädigt“ worden. Natürlich seien viele auch ganz gut durch die Pandemie gekommen, aber in sozial prekären Verhältnissen seien mitunter „Biografien massiv beeinflusst worden“, etwa weil Schulkarrieren jetzt anderes und schlechter verlaufen oder weil sich die Rahmenbedingungen durch Arbeitslosigkeit der Eltern geändert hätten. Dort hätten „Kinder und Jugendliche auch eine höhere Wahrscheinlichkeit, früher Alkohol- oder Tabakprobleme oder eine chronische Krankheit zu entwickeln.“ Die Folgen sehe man aber erst in weiter Zukunft, wo man dann wohl gar keinen Zusammenhang mit Pandemiejahr mehr herstellt.

Sprenger geht davon aus, dass sich datenbasiert nachweisen lasse, dass durch die Maßnahmen mehr gesunde Lebensjahre verloren gegangen seien als durch Covid-19 selbst. Natürlich sei es keine Option gewesen, keine Maßnahmen gegen das Virus zu treffen. Es gehe aber um ein smartes Risikomanagement und um die Verhältnismäßigkeit, betont Sprenger wie schon im Interview mit ORF.at vor einem Jahr. „Man wird immer schauen, dass man die Wirkung maximiert und die Nebenwirkungen minimiert.“ Das mache man als Arzt bei jeder Therapie auch so.

Die „verschwundene“ Frage der Gesundheit

Und ein Thema sei „vor 14 Monaten erstaunlicherweise fast vollkommen von der Bildfläche verschwunden“ – nämlich ausgerechnet die Gesundheit: „Die Frage ‚Was erhält Menschen gesund?‘ spielte plötzlich genauso keine Rolle mehr wie die Prinzipien der Gesundheitsförderung, die Kriterien für gute Gesundheitsinformation oder die zehn österreichischen Gesundheitsziele“, so Sprenger.

Eine Gesundheitsorientierung sei durch eine Krankheitsorientierung, eine Pathologisierung der Gesellschaft, ersetzt worden. Ständig risikoorientiert zu denken und andere als Bedrohung wahrzunehmen, mache krank, meint der Public-Health-Experte. Er beklagt aber auch die „Politisierung der Krankheit“, etwa wenn von der Politik über eine Impfpflicht gesprochen werde, noch bevor ein Impfstoff zugelassen ist. „Das ist Politisierung, und die zerstört Vertrauen. Und wenn man Vertrauen bei einem so sensiblen Thema wie Impfungen zerstört, dann tut man sich nachher mit der Impfkommunikation auch natürlich schwer.“

Spaltung der Gesellschaft überwinden

Die Politisierung habe auch zur Polarisierung und Spaltung in der Gesellschaft geführt, meint Sprenger. Diese Spaltung müsse man spätestens nach dem Ende der Pandemie zu überwinden versuchen, etwa indem man wieder aufeinander zugehe. Auch glaubt er, dass Entschuldigen und Verzeihen notwendig sei, etwa bei den Älteren, die man isoliert habe, oder bei den Jungen, denen man ein Jahr ihres Lebens genommen habe. Überhaupt sei eine der großen Fragen, was wir als Gesellschaft aus der Pandemie lernen, so Sprenger. Jedenfalls brauche es eine Kultur für den Umgang mit Fehlern, und dabei sei wichtig, dass das nicht zwingend die Suche nach einem Schuldigen sei.

Und Fehler seien in der Pandemiebekämpfung freilich überall passiert. Aber: „Keine Gesellschaft kommt ohne Schaden durch eine Pandemie“, so der Experte. „Du kannst dich nur bemühen, diesen gesundheitlichen, psychischen, sozialen und wirtschaftlichen Schaden möglichst klein zu halten. Sowohl den, der direkt durch das Krankheits- und Sterbegeschehen, als auch den, der indirekt durch Maßnahmen entsteht. Das ist manchen Ländern besser, manchen schlechter gelungen.“

Datenlage als „unfassbar verfahrener Karren“

Erschwerend komme da die Datenlage dazu, so Sprenger. Das sei ein „unfassbar verfahrener Karren“: Die Datenbasis fehle, weil viele Daten nicht erhoben werden, die Datenqualität sei nach wie vor schlecht, auch wegen ungenauer Definitionen, und die Datentransparenz sei „eine Katastrophe“, weil vieles einfach nicht kommuniziert werde. Und in dieser Diagnose würden praktisch alle Experten übereinstimmen.

Dabei hätten bei positiv Getesteten unter anderem Alter, Geschlecht, Beruf, Symptome, Body-Mass-Index und Grunderkrankungen erhoben werden müssen, anonymisiert natürlich, wiederholt Sprenger die Forderung, die er bereits im Frühjahr 2020 erhoben hatte. Mit diesem Basisdatenset hätte man rasch viel gelernt und im Infektionsgeschehen zielsicherere Maßnahmen treffen können.

Im Cockpit mit nur zwei Instrumenten

Sprenger vergleicht das mit einem Cockpit eines Flugzeugs, mit dem man durch ein Unwetter fliegt, bei dem aber die meisten Instrumente fehlen. So habe man eigentlich nur die Hospitalisierungsdaten und die Zahl der positiven Tests, also im Wesentlichen die 7-Tage-Inzidenz. Und genau diese suggeriere – trotz der großen Zahl an Testungen – eine Genauigkeit, die sie nicht habe: Denn es hänge von vielen Parametern ab, wer positiv getestet werde. Dazu kämen auch immer wieder Datenfehler, auch wegen des großen Nachholbedarfs in Sachen Digitalisierung in Österreich.

Der Public-Health-Experte Martin Sprenger
Privat

Zur Person

Martin Sprenger ist Public-Health-Experte, unterrichtet an zahlreichen Fachhochschulen und Universitäten und war im Frühjahr 2020 Mitglied der Coronavirus-Taskforce des Gesundheitsministeriums.

Die Trends bei den Inzidenzen hätten zwar eine Aussagekraft, aber: „Ich glaube, wir müssen uns von der Illusion verabschieden, dass wir das Infektionsgeschehen genau abbilden können.“ Repräsentative serologische Querschnittsstudien, wie jene in Ischgl, bei der Antikörpertests durchgeführt wurden, hätte man öfter machen müssen: „Gemeinsam mit dem Basisdatenset würden sie eine genauere Auskunft geben.“

Was ist akzeptables Maß an „Hintergrundrauschen“?

Dennoch ist Sprenger optimistisch: Mit der saisonalen Entspannung, den Impfungen und einem gewissen Maß an Durchseuchung sollte man auf ein Niveau kommen, dass das Infektionsgeschehen nicht noch einmal durchstartet. Man müsse zu einem akzeptablen Maß an „Hintergrundrauschen“ kommen. Und was akzeptabel ist, sei eine gesellschaftliche Entscheidung, genauso wie man sich entscheide, wie viele Verkehrsverletzte und Verkehrstote, Herzinfarkte und Krebssterbefälle man akzeptiere. Natürlich müsse man sich bemühen, mit präventiven Maßnahmen das alles zu minimieren. Aber sobald SARS-COV-2 „unter diese Wahrnehmungsschwelle fällt, werden wir einfach damit leben“. Dafür müsse dann aber auch der „Scheinwerfer“ darauf „ausgeknipst“ oder „zumindest gedimmt“ werden.

„Das Leben hat ein Restrisiko“

Dann könne man einen Umgang entwickeln, „der ebenfalls im Hintergrund läuft, weil wir ihn verinnerlicht haben – wie Ampeln, Zebrastreifen und Sicherheitsgurte im Verkehr“. Eine „Nullrisikogesellschaft“ gebe es nicht: „Das Leben hat ein Restrisiko, und der Staat ist nicht dafür verantwortlich, ein Nullrisiko zu erzeugen“, sagt Sprenger. Und sollte es in der Virensaison einmal nötig sein, Maßnahmen zu treffen, die erwiesenermaßen helfen, dann wird man vielleicht in öffentlichen Verkehrsmitteln wieder kurz eine Maske tragen. Aber es gelte jedenfalls dann, sich vor allem „um das kümmern, was uns wirklich gesund hält“: Soziale Beziehungen, Bewegung, arbeiten gehen können, um Geld zu verdienen, sozialer Zusammenhalt – „also eigentlich normal laufende Routinen in einer Gesellschaft“.

Influenza „ausradiert“, Coronavirus nicht

Ob er mit seinen Einschätzungen in der Pandemie auch manchmal falsch gelegen sei? „Meine Einschätzung für die Entwicklung des Infektionsgeschehens im Herbst war sicher viel zu positiv“, meint Sprenger. Er habe fest damit gerechnet, dass das Contact-Tracing und die Schutzstrategien für die Senioren- und Pflegeheime perfektioniert werden. Zusammen mit einem professionellen Infektionsmanagement im Gesundheits- und Pflegebereich, den geltenden präventiven Maßnahmen und der Vermeidung von Super-Spreader-Events habe er gedacht, dass das ausreichen werde, „um halbwegs gut über den Winter zu kommen“.

Doch beim Contact-Tracing sei man nie richtig schnell gewesen, und auch die Schutzstrategie in den Alters- und Pflegeheimen hätte nicht gut funktioniert, obwohl die Behörden sechs Monate Zeit gehabt hätten. Immerhin habe man mit den Maßnahmen die Influenza im Winter „ausradiert“, was ein „gewaltiger Kollateralnutzen“ gewesen sei. In der Steiermark sei das Aufkommen von Noroviren, die vor allem in Altersheimen und Spitälern fatale Folgen haben können, ebenfalls stark zurückgegangen. Das hänge mit Hygienemaßnahmen zusammen, meint Sprenger. Aber genau wisse man das nicht. Für die Verbreitung des Coronavirus im Herbst hätten die Maßnahmen aber leider nicht gereicht.