Seit zumindest letztem Jahr versucht die Oscar-Akademie näher an die gesellschaftlichen Realitäten heranzukommen. Für die Jury werden zunehmend jüngere Filmschaffende mit möglichst vielfältiger Herkunft neu eingeladen und ältere, nicht mehr aktive Filmschaffende vom Wahlprozess ausgeschlossen. Dazu wurde im September 2020 bekanntgegeben, dass ab dem Jahr 2024 für die Kategorie „Bester Film“ neue Bedingungen gelten.
Auf der Leinwand, in der Crew, im Studio oder bei Fortbildungsmöglichkeiten müssen „unterrepräsentierte Gruppen“ wie Frauen, Nichtweiße, LGBTQ+ und Menschen mit Behinderung eine vorgegebene Anzahl von Stellen bzw. Rollen bekommen – und ein Film, der als bester Film infrage kommt, muss die Vorgaben in zumindest zwei dieser vier Bereiche erfüllen.
Klassenverhältnisse und Rassismus als große Themen
Diese Stoßrichtung schlug sich bereits in den diesjährigen Auszeichnungen nieder. Mit Zhao gewann erstmals eine nicht weiße Frau die Regiekategorie. Ihr Film „Nomadland“, der die zunehmende Armut zwischen Wohnungslosigkeit und Lohndumping bei Versandhandelsriesen bis hinein in die amerikanische Mittelschicht einfühlsam porträtiert, entschied die Wertung für den besten Film für sich und bescherte Frances McDormand ihren dritten Oscar als beste Hauptdarstellerin.
In dieser Kategorie stand McDormand starker Konkurrenz gegenüber. Von den fünf Nominierten traten mit Viola Davis („Ma Rainey’s Black Bottom“) und Andra Day (für „The United States vs. Billie Holiday“) zwei schwarze Frauen in Filmen mit ähnlicher gesellschaftlicher Relevanz an.
Politisches Statement bei Kurzfilmoscar
Die Auszeichnung in der Sparte „Bester Kurzfilm“ kam jedenfalls einem politischen Statement der Jury gleich. Vergeben wurde er an „Two Distant Strangers“, einen halbstündigen Spielfilm über Polizeigewalt und Rassismus.
Sichtlich gerührt dankten die Macher von „Two Distant Strangers“ hinter den Kulissen der Filmakademie. „Es ist erstaunlich, dass wir hier einen Oscar in der Hand halten, für einen Film über Polizeibrutalität“, sagte der Afroamerikaner Travon Free vor Journalisten: „Das ist unglaublich.“
US-Rapper Joey Badass spielt darin einen Mann, der in einer Zeitschleife feststeckt und täglich neu von einem Polizisten getötet wird. Die Idee dazu sei ihm bei den Demonstrationen der „Black Lives Matter“-Bewegung nach den vielen Fällen von tödlicher Polizeigewalt gegen Schwarze gekommen, sagte Free.
In seiner Dankesrede auf der Bühne hatte der Filmemacher dazu aufgefordert, gegenüber der täglichen Gewalt nicht gleichgültig zu werden. Jeden Tag würden Polizeibeamte in den USA im Durchschnitt drei Menschen töten. Das seien rund 1.000 Opfer jedes Jahr, mahnte Free.
Auszeichnungen für Nichtweiße
Bei den Nebendarstellerinnen konnte sich eine Asiatin durchsetzen: Die Südkoreanerin Youn Yuh Jung wurde für ihren Part als aggressive Großmutter im Immigrantendrama „Minari“ aus den Händen von Brad Pitt mit der Statuette gewürdigt. Nachdem sie die Gala in Südkorea stets im Fernsehen verfolgt habe, sei es nun umso surrealer, diese live zu erleben. „Ich glaube nicht an Wettbewerb“, zeigte sich die Gewinnerin konziliant.
Hinter den Kulissen outete sich Youn als großer Fan von Hollywood-Star Brad Pitt. Sie habe es nicht glauben können, als Pitt ihren Namen verlas. „Ein paar Sekunden lang war ich fast ohnmächtig“, erzählte die 73-jährige Südkoreanerin nach ihrem Oscar-Gewinn. „Er muss viel geübt haben, denn er hat meinen Namen nicht falsch ausgesprochen“, sagte Youn.
Zuvor hatte der Brite Daniel Kaluuya für seine Rolle im schwarzen Bürgerrechtsdrama „Judas and the Black Messiah“ die Statuette als bester Nebendarsteller entgegengenommen. Dabei hatte sich der 32-Jährige anfangs mit einem kleinen Gebet bei Gott bedankt. Kaluuya spielt in dem Film über die Black Panther Party den Aktivisten Fred Hampton. Er wurde bereits 2018 für seine Rolle in dem Horrorfilm „Get Out“ für den Oscar nominiert.
Die Verlierer des Abends
Die Verlierer des Abends waren einige Nominierte, die als Favoriten ins Rennen gegangen waren. So wurde der im August 2020 verstorbene Chadwick Boseman nicht postum als bester Hauptdarsteller geehrt – die Kategorie gewann überraschend Antony Hopkins für seine von der Kritik hochgelobte Darstellung eines Demenzkranken in „The Father“.
Mit zehn Nominierungen ging David Finchers „Mank“ ins Rennen. Das Drama, in dem Gary Oldman als Drehbuchautor Herman J. Mankiewicz mit Orson Welles um das Skript für „Citizen Kane“ ringt, gewann lediglich in den Kategorien „Beste Kamera“ und „Bestes Szenenbild“ – und zählt damit zu den Verlierern der Oscar-Gala.
Glenn Close ging auch im Jahr ihrer achten Nominierung (als Nebendarstellerin in „Hillbilly Elegy“) leer aus. Dafür wurde sie zum Liebling des Abends: Während der Show sprang die 74-Jährige von ihrem Platz auf und ließ ihre Hüften zum Song „Da Butt“ kreisen, was in Sozialen Netzwerken zu Begeisterungsstürmen führte.
Bestes Drehbuch für „Promising Young Woman“
Emerald Fennell war mit ihrem Debütfilm „Promising Young Woman“ neben Zhao als zweite Frau in der Kategorie „Beste Regie“ nominiert gewesen. Ihr Vergewaltigungs-Rache-Movie sicherte ihr die Goldstatue für das bestes Originaldrehbuch. Fennel zeigte sich überwältigt. „Sie sagten: Schreib eine Rede! Aber natürlich habe ich keine geschrieben, weil solche Dinge normalerweise nicht passieren.“ Die Statue sei „so schwer und so kalt“, lachte die Filmemacherin.
Netflix als Gewinner
Aufgrund der Pandemie durften für die 93. Academy Awards erstmals Filme nominiert werden, die davor nicht im Kino zu sehen gewesen waren. In vergangenen Jahren war diese Regel von Streaminganbietern nur pro forma erfüllt worden. Beispielweise ermöglichte Netflix 2018 Alfonso Cuarons Drama „Roma“ nur ein kurzes Kinofenster in ausgesuchten Programmkinos. „Roma“ gewann 2019 die Oscars für den besten Film und die beste Kamera und den Auslandsoscar.
Diese Jahr war Netflix einer der Hauptgewinner. Ganze sieben Oscars gingen an Produktionen des Streamingriesen – allerdings nicht in den Hauptkategorien. Zu den Preisen gehörten zwei Oscars für die Hollywood-Hommage „Mank“ (Kamera und Produktionsdesign) und zwei für das Drama „Ma Rainey’s Black Bottom“ (Kostümdesign und Make-up/Frisur). Oscars gewannen außerdem die Dokumentation „My Octopus Teacher“ sowie die Kurzfilme „Two Distant Strangers“ und „If Anything Happens I Love You“. Ins Rennen gegangen war Netflix aber mit insgesamt 36 Nominierungen .
Vinterberg ehrt verstorbene Tochter
Österreichs kleine Oscar-Hoffnung, Jasmila Zbanics rot-weiß-rot koproduziertes Bosnien-Kriegsdrama „Quo vadis, Aida?“ musste sich in der Kategorie des Auslandsoscars geschlagen geben. Das Werk war von Bosnien-Herzegowina eingereicht worden, zog aber gegen Thomas Vinterbergs Trinkerparabel „Der Rausch“ aus Dänemark in der Kategorie „Bester internationaler Spielfilm“ den Kürzeren.
Vinterberg widmete den Auslandsoscar seiner verstorbenen Tochter Ida. Sie sollte Teil des Films werden, starb aber kurz nach Beginn der Dreharbeiten bei einem Verkehrsunfall. „Wir vermissen sie, und ich liebe sie“, sagte er unter Tränen in Hollywood. „Wenn wir uns nur trauen zu glauben, dass sie auf eine Weise hier bei uns ist – dann könntet ihr sie hier mit uns klatschen und jubeln sehen.“
Der mit zehn Nominierungen als Spitzenreiter in den Abend gegangene Hollywood-Historienfilm „Mank“ konnte ebenfalls zwei Auszeichnungen einfahren: Kamera und Produktionsdesign gingen an David Finchers Schwarz-Weiß-Drama. Bei den Animationsfilmen gab es einen Favoritensieg, konnte sich doch Pixars neues Werk „Soul“ gegen die Konkurrenz durchsetzen.
Selbiges gilt für „Mein Lehrer, der Krake“, der als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde. Und die Rassismusanklage „Ma Rainey’s Black Bottom“ konnte in den beiden Kategorien Make-up und Haare sowie Kostüme zwei Trophäen für sich reklamieren.
Wenig Show, lange Reden
Die Gala verlief aufgrund der CoV-Pandemie grundlegend anders als in den Jahren zuvor. Das Bahnhofsgebäude der Union Station in Los Angeles diente, anders als traditionell, heuer nämlich anstelle des Dolby Theatre in Hollywood als Hauptaustragungsort des Events. 170 Stars samt Anhang fanden sich in dem historischen Bahnhofsgebäude ein, während im Dolby Theatre die Showelemente stattfanden.
Im Vorfeld war die Gala als erstes großes Showevent in der Coronavirus-Krise gedacht gewesen. In der Durchführung der „Ausnahme-Oscars“ verzichtete man aber nicht nur auf Showelemente, Musikbeiträge und meist auch auf Ausschnitte aus den nominierten Werken, sondern vor allem gänzlich auf Humor. Die Dankesreden fielen dafür besonders lang aus – das hing auch damit zusammen, dass das typische Oscar-Orchester fehlte. Damit fehlte folglich auch die Möglichkeit, den Stars des Abends akustisch zu signalisieren, dass ihre Redezeit zu Ende war.
Trotz der langen Reden vermisste man über weite Strecken klare Worte. Weder spielte die Rassismusdebatte in den USA eine nennenswerte Rolle, noch wurde die Hintergrundfolie der speziellen Oscar-Ausgabe angesprochen. Das Wort „Covid“ wurde einzig vom Produzenten Tyler Perry in den Mund genommen, der mit dem Sonderpreis des Humanitarian Award für sein soziales Engagement ausgezeichnet wurde.