Statue von Milan Stefanik
Drahoslav Ramik / EPA / picturedesk.com
„Tahiti Utopia“

Die Slowakei und ihr mythischer Flieger

Die Geschichte des Nachbarlandes Slowakei ist tief verwoben mit einer mythischen Gründerfigur: Milan Rastislav Stefanik. Sein Absturz mit einer Doppeldecker-Caproni in der Nähe von Bratislava 1919 unter immer noch ungeklärten Umständen beflügelt seit hundert Jahren Fantasie und auch Verschwörungsmythen. Der slowakische Autor und Journalist Michal Hvorecky greift genau diese Legendenbildung um den Flieger und Südsee-Abenteurer Stefanik auf – und schreibt die Geschichte der Slowakei der letzten hundert Jahre in einem fulminanten Roman neu. Ein Exodus nach Tahiti spielt hier eine Rolle. Samt Flüchtlingsstrom über Österreich hinweg. Das rüttelt an Tabus wie auch Wunden der jüngeren Zeitgeschichte.

Im österreichischen Geschichtsbild werden die Gründungsväter der Tschechoslowakischen Republik 1919 gerne mit dem Attribut „nationalistisch“ im Sinn einer Abkehr vom Vielvölkerstaat der Monarchie geführt. Der im Wiener Akademischen Gymnasium ausgebildete Tomas Garrigue Masaryk ist hier ebenso ein guter Bekannter wie Edvard Benes, der durch die späteren „Benes-Dekrete“ ohnedies einen Spezialstatus im zeitpolitischen Diskurs in Österreich einnimmt. Der Dritte im Bunde bei der Gründung der Tschechoslowakei, Milan Rastislav Stefanik, ist weitgehend unbekannt. Dabei spielte dieser Astronom, Weltbürger, Flieger und Bonvivant eine entscheidende Rolle im Entstehen eines slowakischen Teilstaates – und einer slowakischen Identität.

An den Stellschrauben der Geschichte

„Ich wollte der Figur Stefanik ein etwas längeres Leben geben“, sagte Autor Hvorecky, der als Intellektueller in zwei Kulturen und im deutschsprachigen Raum durch Essays in der „Zeit“ und Co. kein Unbekannter ist. Im Moment, wo Stefanik nach den Friedensverhandlungen in Paris in seine Heimat zurückkehrte, ereignete sich ein Unglück, das bis heute die Kollektivseele der Slowaken beschäftigt: Seine Doppeldeckermaschine wurde unweit von Bratislava abgeschossen. Die italienischen Hoheitszeichen an den Flügeln der Maschine habe man als ungarische Symbole gedeutet, lautet ein Narrativ zu diesem Absturz.

Buchcover mit Doppeldecker und slowakischem Kreuz über Tahiti
Palo Balik / Maencin Media / Tropen Verlag
Ausschnitt aus dem Buchcover von „Tahiti Utopia“: Staatsgründer an Bord einer Doppeldeckermaschine. Und über allem Exotismus wird das slowakische Doppelkreuz aufgestellt.

Symbolfigur in einem Land mit wenigen Helden

Stefanik wurde jedenfalls auf dem Berg Bradlo in der Westslowakei ein monumentales Heldengrab errichtet – und noch heute schart sich das Land zu symbolischen Terminen gerne mit den Landesflaggen und dem Doppelkreuz um diesen Ort. „Stefanik ist einer der wenigen Integrationsfiguren und Helden, den dieses Land mit seiner jungen Geschichte hat“, erläuterte Hvorecky im Gespräch mit ORF.at. Dabei habe die breite Öffentlichkeit immer noch ein unklares Bild von diesem zum Mythos erstarrten Ex-General, Flieger und Weltreisenden, der, so fügte Hvorecky an, „eigentlich kein Demokrat gewesen sei“; Stefanik habe an eine gelenkte Übergangszeit auf dem Weg zur Demokratie gedacht. „Auch das Wahlrecht für Frauen war ihm, der zeitlebens eine beinahe toxische Maskulinität lebte, komplett fremd“, ergänzte der Autor. „Auch eine kritische Biografie fehlt bisher“, sagte Hvorecky, der nun mit seinem Roman das Leben Stefaniks über ein paar veränderten Stellschrauben neu perspektiviert – und damit ein über die Slowakei hinauswirkendes Buch geschaffen hat, weil es an ganz heiklen Fragen der mitteleuropäischen Zeitgeschichte ankommt.

Der Autor am Grab von Stefanik
Michal Hvorecky
„Wollte der Figur Stefanik ein etwas längeres Leben geben“: Autor und Journalist Hvorecky auf dem Berg Bradlo und der monumentalen Grabanlage für Stefanik

Stefanik war ausgebildeter Astronom – und er war zugleich Weltenreisender, Abenteurer, Bonvivant und Weltkriegspilot auf serbischer Seite. Knapp nach der Jahrhundertwende war er auch im Auftrag der Franzosen in Polynesien, baute auf Tahiti das erste Sternenobservatorium und notierte seine Erfahrungen auch in Tagebüchern. Aus einer Randnotiz, in der Stefanik während seines Tahiti-Aufenthaltes 1910/11 eine Aussiedlung der Slowaken nach Tahiti spintisierte, macht Hvorecky einen spielerisch postmodernen Plot: Stefanik lässt er von den ermüdenden Verhandlungen in Trianon in seine Heimat zurückkehren und mit seinen Landsleuten einen Exilplan – nicht zuletzt gegen großungarische Interessen – schmieden.

Milan Rastilav Stefanik (1880-1919)
Albert Harlingue / Roger Viollet / picturedesk.com
In vielen Rollen hat sich Stefanik in seinem Leben bewiesen. Die Rolle des Staatsmannes blieb ihm versagt.

Ein Exodus über Österreich

Nach Westen führt er sein Volk in einem großen Exodus, weg vom Zugriff großungarischer Träume, quer durch Österreich über München hinweg hin zu nicht genauer genannten Häfen, bevor dann eine endlose Schiffsreise nach Polynesien beginnt. Wohlhabende Slowaken „in Chicago“ finanzieren in diesem Roman die Flucht, die am Ende nicht in einem gelobten, sondern einem kolonialisierten Land mit entsprechenden Entfremdungserfahrungen mündet.

Dass er hier mit historisch ganz sensiblen Motiven und Zusammenhängen spielt, ist Hvorecky bewusst. Er streift ebenso am Traum Theodor Herzls und den traumatischen Erfahrungen des Judentums in Palästina an wie an den Erfahrungen der jüngeren Flüchtlingskrise. Die Slowaken, sie fallen in seinem Buch zuerst in Österreich sprichwörtlich ein, das Land, dem sie ja historisch den Rücken gekehrt haben. „Gerüchte von der Horde Osteuropäer auf dem Weg quer durch Österreich verbreiteten sich schnell und eilten ihnen schon einige Tage voraus“, liest man da im Roman, der nach einem fulminant halluzinatorischen Vorspiel die Geschichte einer nüchternen Historiografie einnimmt, so als beschriebe er tatsächliche Vorgänge: „Stefanik fielen die Artikel über diesen neuerlichen Massenexodus auf dem alten Kontinent ins Auge. Einige Zeitungen stellen seine Landsleute als Vergewaltiger, Diebe und Parasiten dar. Über den Dächern läuteten die Glocken.“

Hubschrauber über dem Grab von Stefanik bei seinem 100. Todestag
Dalibor Gluck / CTK / picturedesk.com
Das Stefanik-Grab auf dem Berg Bradlo in der Westslowakei. Es erinnert an das Grabmal eines anderen Fliegers mit Politambitionen: Gabriele d’Annunzio. Hier nimmt die offizielle Slowakei Aufstellung zum Gedenken an den 100. Todestag von Stefanik.

Für diese historische Darstellung konstruiert Hvorecky im Roman eine Historikerin, die am Anfang Hürden überwinden muss, diese Ereignisse aufzuschreiben. Geschickt wird hier ein Spiel mit Textpassagen und Perspektivierungen getrieben, die ebenso zu ganz anderen Umständen passen könnten.

Fragile nationale Identitäten

„Man darf nicht vergessen“, erinnerte Hvorecky, dass die Slowakei „ein Auswanderungsland“ sei. Über 300.000 Menschen hätten das Land in den letzten zehn Jahren verlassen; zugleich fahre man eine Nullimigrationslinie. „Dieses Niemand-darf-hinein ist fast schon ein Konsens zwischen allen Parteien“, schilderte er.

Natürlich wolle er sein Buch nicht als eine Befreiung in Richtung eines Paradieses verstanden wissen. „Denn das Territorium, auf das Stefanik mit seinem Tross stößt, es ist ja kein unschuldiges Land mehr. Es wurde ebenso schon davor von einem Prozess der Kolonialisierung in die Knie gezwungen“, so der Autor zu seiner an Thomas Morus und Tommaso Campanella geschulten Utopie. Einmal mehr ist es eben die „Unmöglichkeit einer Insel“ und eines Neuanfangs, der wie ein Telos über allen Exodusträumen liegt. Ganz am Anfang lässt Hvorecky seinen Helden Stefanik über eine komplett unwirkliche Welt kreisen, die tief den Exotismus wie aus Herman Melvilles „Typee“ atmet: „Das Azurblau des Himmels war gestochen scharf. Über dem flachen Horizont strahlte jetzt am Vormittag eine kräftige Sonne. Es war brüllend heiß. Schwärme weißer Reiher flogen in Richtung Wasser. Das Dickicht aus Büschen und vorsintflutlichen Farnen zog sich bis in endlose Ferne.“

Buchhinweis:

Buchcover Tahiti Utopia
Tropen
Michal Hvorecky, Tahiti Utopia, aus dem Slowakischen von Mirko Kraetsch, 255 Seiten, Tropen, 20,60 Euro.

„Fühle mich immer noch als Tschechoslowake“

Für ihn sei dieses Buch samt seiner Was-wäre-wenn-Perspektive in gewisser Weise auch eine Auseinandersetzung mit der Welt seiner späten Jugend. Er fühle sich eigentlich immer noch als Tschechoslowake, als jemand, der immer mit zwei Sprachen aufgewachsen sei und zusätzlich durch die Familie des Großvaters noch das Deutsche mitbekommen habe, was die ganze Familie ja in der CSSR noch verdächtig gemacht habe. Die Konstruktion nationaler Identität ruhe auf einem sehr fragilen Boden, kann man mit Hvorecky folgern – und gerade für die Slowakei möchte er mit seinem Roman wohl auch einen Diskurs über die Identitätsbildung der letzten hundert Jahre befördern. Literarisch und in der Konstruktion fantastischer Abenteuerlichkeit verweist er jedenfalls auf die großen Bücher des tschechischen Nachbarn, nicht zuletzt jenen des „Seelenigenieurs“ Josef Skvorecky.

„Es ist so, dass wir ganz wenig Identitifikationsfiguren haben und diese nicht genau kennen“, skizzierte Hvorecky das nationale Selbstbewusstsein seiner Heimat. Wer den Roman liest, kann das Modell der Slowakei freilich auch als Schablone für jedes andere kleine Land nehmen, das unter Bedrohungsängsten leidet. Oder diese auch kultiviert.

„Aus dem chemischen Laboratorium des Verstandes“

Je länger man sich dem Sog dieses Buches ergibt, desto mehr wird man durch die europäische Geschichte zwischen den Kriegen und nach dem Zweiten Weltkrieg gespült. Geschickt skizziert Hovercky jedenfalls 1919 und die Gespräche in Paris zum Dreh- und Angelpunkt aller weiteren Entwicklungen. Mitunter hatte das Drehen an kleinen Stellschrauben große Auswirkungen. Gerade für kleine Länder. Was also, so fragt der Literat, wenn man an diesen Stellschrauben um 1919 weiter drehte – und ein paar Biografien ein anderes Leben gäbe. Es wäre wohl zu denselben Dramen gekommen. Aber die Gestalt von Problemen und Aufgaben würde plastischer. Mancher Mythos wäre wohl entzaubert. Auch der vom mythischen Flieger Milan Rastislav Stefanik.

„Ich räumte ein, die Geschichtsschreibung für das gefährlichste Produkt aus den chemischen Laboratorien des menschlichen Verstandes zu halten“, schreibt sich der Autor als Erzähler im Finale dieses Buches mit ins Geschehen und stellt damit Möglichkeiten und Fragwürdigkeiten seines eigenen Romans mit zur Debatte. Er zieht als auf Tahiti geborener Exil-Slowake zurück ins Zeitgeschehen der Gegenwart. Die Slowaken auf Tahiti standen zeitlebens unter französischem Kolonialmandat und konnten nie den Traum eigener Freiheit leben; auf dem Territorium der heutigen Slowakei hat sich Ungarn breitgemacht, das zu diesem Zeitpunkt bereits die EU verlassen hat. In einer abenteuerlichen Reise bricht der Erzähler noch einmal auf – und beginnt Umbrüche wie im Jahr 1919 zu erleben. „Der Blick zurück stachle zu unsinnigen Wünschen und Träumen an, berausche Völker, wecke falsche Erinnerungen, verstärke Reflexe, reiße Wunden auf, bringe einen um die Ruhe und stürze ganze Staaten in die Megalomanie“, liest man im finalen Teil dieses Buches, das weniger Provokation als Denkanstoß sein mag.