Der britische Premier Boris Johnson
AP/Phil Noble
Johnson unter Druck

Angeblicher „Leichen“-Sager empört Briten

Die Serie an unangenehmen Enthüllungen für Großbritanniens Premier Boris Johnson setzt sich fort: Am Montag sorgte ein angebliches Zitat Johnsons vom Herbst für Wirbel. „Keinen verdammten Lockdown mehr – sollen sich doch die Leichen zu Tausenden stapeln“, soll er Berichten zufolge gesagt haben. Johnson streitet das jedoch ab.

In einer internen Diskussion über den dritten Lockdown, den Johnson zu Beginn des Winters noch unbedingt verhindern wollte, soll der Premier gesagt haben, dass er eher „Leichen sich stapeln“ lassen würde, als ein weiteres Mal einen Lockdown zu verhängen. Der Satz soll laut „Daily Mail“ im Oktober gefallen sein, nachdem sich Johnson entschlossen hatte, im November einen zweiten einmonatigen Lockdown zu verhängen. Der dritte Lockdown kam nichtsdestoweniger.

Zunächst hatte die „Daily Mail“ unter Berufung auf Quellen aus Regierungskreisen darüber berichtet. Später legten auch die TV-Sender BBC und ITV unter Berufung auf eigene Quellen nach. Johnson habe den Satz gesagt, berichtete BBC etwa.

Johnson zu Berichten: „Nein“

Auch der Premier selbst äußerte sich zu den Berichten bereits: „Nein“, sagte er am Montag bei einem Besuch im walisischen Wrexham auf die Reporterfrage, ob er den despektierlichen Kommentar gemacht habe. Er fügte hinzu: „Aber, noch einmal, ich denke, das Wichtigste ist, dass die Menschen wollen, dass wir weitermachen und als Regierung dafür sorgen, dass Lockdowns wirken, und das haben sie, und ich zolle den Menschen in diesem Land wirklich Respekt, unserem ganzen Land, dass sie sich zusammengerissen haben.“

Johnsons Sprecher Ben Wallace
Reuters/John Sibley
Verteidigungsminister Ben Wallace nahm Johnson in Schutz

Zuvor hatten bereits Johnsons Sprecher und Verteidigungsminister Ben Wallace dementiert, dass der Satz jemals so gefallen sei. Auch der britische Staatsminister Michael Gove sprang Johnson zur Seite: Er selbst sei während der Debatte über einen dritten Lockdown anwesend gewesen – eine „derartige Ausdrucksweise“ Johnsons habe er aber nicht gehört.

„Zutiefst abscheulich“

Der Fraktionsführer der schottischen SNP im britischen Unterhaus, Ian Blackford, bezeichnete die angebliche Aussage Johnsons als „zutiefst abscheulich“. Sollten die Berichte tatsächlich zutreffen, müsse der Premier zurücktreten, schrieb er bei Twitter. Johnson müsse dem Parlament zu den „schockierenden Behauptungen“ und den anderen Skandalen seiner Regierung Rede und Antwort stehen, forderte Blackford weiter. Auch Labour-Chef und Oppositionsführer Keir Starmer verlange eine umfassende Untersuchung aller Anschuldigungen.

Auch Angehörige von Menschen, die an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung verstorben waren, meldeten sich am Montag zu Wort. Die angebliche Aussage des Premiers sei ein „Schlag in die Magengrube aller Trauernden“, werden diese vom britischen „Guardian“ zitiert. „Wenn nachgewiesen werden kann, dass (die Aussagen, Anm.) so gefallen sind, dann muss er zurücktreten“, sagte ein Mann, dessen Ehefrau an Covid-19 verstarb. Eine Witwe sagte, sie sei „angewidert“, eine weitere sagte, sie habe angesichts der Aussage „Tränen des Schmerzes“ geweint.

Mit insgesamt 127.000 Todesfällen ist Großbritannien das am schwersten von der Pandemie betroffene Land Europas. Wegen seines Umgangs mit der Krise war Johnson lange Zeit scharf kritisiert worden. Angesichts der erfolgreichen Impfkampagne stieg seine Popularität zuletzt jedoch wieder deutlich.

Politische Schlammschlacht hält London in Atem

Doch das könnte sich bald wieder ändern: Denn im politischen London tobt seit Tagen eine Schlammschlacht. In britischen Medien tauchen immer wieder Insider-Informationen aus anonymen Quelle über angebliche Fehltritte des konservativen Premierministers auf. Der Regierungsapparat deutete hinter den Kulissen auf Johnsons früheren Topberater Dominic Cummings, der als Stratege hinter dem Brexit-Referendum und dem überwältigenden Wahlsieg Johnsons gilt, aber die Regierung Ende vergangenen Jahres im Streit verlassen hatte.

Johnsons früherer Chefberater Dominic Cummings
Reuters/Toby Melville
Johnsons Ex-Berater Dominic Cummings packte am Wochenende gegen seinen früheren Chef aus

Cummings wehrte sich öffentlich gegen die Vorwürfe und nahm sie zum Anlass, nun erst recht auszupacken. In einem Blogbeitrag vom Freitag warf er dem Premier vor, bei der teuren Renovierung der Dienstwohnung in der Londoner Downing Street Spendengelder eingesetzt zu haben.

Das sei „unethisch dumm, womöglich illegal und mit großer Wahrscheinlichkeit ein Bruch der Regeln über die ordnungsgemäße Bekanntmachung über die Verwendung von Spendengeldern“ gewesen, so Cummings. Wie viel genau die Arbeiten gekostet haben, ist nicht bekannt, der Betrag soll aber die für Ausbesserungsarbeiten jedem Premier jährlich zur Verfügung stehenden 30.000 Pfund (rund 34.500 Euro) wesentlich überschritten haben.

Cummings mit weiteren Vorwürfen

Cummings warf Johnson zudem vor, eine interne Untersuchung wegen eines Leaks im Zusammenhang mit CoV-Maßnahmen blockiert zu haben, weil der dafür Verantwortliche ein enger Freund seiner Verlobten Carrie Symonds gewesen sei. Die Regierung wies das indes zurück.

Cummings wehrte sich am Freitag überdies gegen den indirekt aus der Downing Street lancierten Vorwurf, hinter der Veröffentlichung vertraulicher Textnachrichten von Johnson und dem Unternehmer und Erfinder des beutellosen Staubsaugers, James Dyson, zu stecken. In dem Textnachrichtenaustausch von Johnson und Dyson aus dem vergangenen Jahr ging es um mögliche Steuererleichterungen für Dysons Unternehmen bei der Produktion von Beatmungsgeräten. Johnson bekannte sich zu den Nachrichten, verteidigte aber sein Vorgehen im Angesicht der Krisensituation.

Cummings Anschuldigungen dominierten am Wochenende die Titelseiten der Zeitungen. Auch einige Konservative schlossen sich der Kritik an. Der frühere Generalstaatsanwalt und langjährige Gegner des Premiers, Dominic Grieve, warf Johnson in Anspielung auf das englische Wort für Staubsauger (vacuum cleaner) vor, ein „Vakuum an Integrität“ zu sein. Die Wahlkommission, die Spenden an politische Parteien und deren Ausgaben regelt, bestätigte unterdessen, dass sie die Angelegenheit untersuche.

Minister nimmt Johnson in Schutz

Die Labour-Abgeordnete Kate Green bezeichnete die Vorwürfe gegen Johnson als „sehr beunruhigend“. Jede Spende von mehr als 7.500 Pfund (8.600 Euro) müsse angemeldet werden, so Green. „Es geht um den Kern von ethischem Handeln und Integrität in unserer Regierung und Transparenz.“

Verteidigungsminister Wallace nahm Johnson indes in Schutz. „Er hat mit seinem eigenen Geld bezahlt, um die Wohnung zu renovieren“, sagte Wallace in einem BBC-Interview am Montag über den Premierminister. Auf die Frage, ob Johnson direkt selbst bezahlte oder erst nachdem Vorwürfe laut wurden, ging der Minister nicht ein.