Masseneinäscherungen der CoV-Toten in Indien
Reuters/Adnan Abidi
CoV in Indien

Die vielen Fehler der Regierung Modi

Die CoV-Lage in Indien ist äußest angespannt. In den Spitälern fehlt es offenbar an allem: von Sauerstoff bis hin zu freien Betten und Intensivbetten. Masseneinäscherungen der CoV-Toten finden in provisorischen Einrichtungen statt. Noch zu Beginn des Jahres präsentierte die hindu-nationalistische Regierung unter Narenda Modi Indien als Pandemiemusterkind. Doch das ist nun verspielt – durch einige gravierende Fehler und mit möglichen Konsequenzen für die Welt.

Die offizielle Zahl der seit Pandemiebeginn Infizierten belief sich am Mittwoch auf 18 Millionen. Doch allein in diesem Monat kamen fast sechs Millionen neue Fälle hinzu. Mehr als 200.000 Menschen sollen offiziell an Covid-19 gestorben sein. Doch man geht von einer noch höheren Dunkelziffer auf. So soll laut „Financial Times“ („FT“), die sich auf Umfragen in Leichenhäusern bezieht, die tägliche Zahl der Toten zwei- bis fünfmal höher sein als von der Regierung angeben. Das Land hat knapp 1,4 Milliarden Einwohner. Das ohnehin schlecht ausgestattete Gesundheitssystem Indiens steht angesichts der rapide steigenden Infektionszahlen vor dem Zusammenbruch. Besonders dramatisch ist die Lage in der Hauptstadt Neu-Delhi.

Der sprunghafte Anstieg der Infektionszahlen in Indien seit März könnte auch auf die neue Virusvariante B.1.617 zurückzuführen sein. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beobachtet B.1.617 derzeit, hat sie aber noch nicht als besorgniserregend eingestuft. Bisher sei nicht klar, in welchem Ausmaß die Variante für den rapiden Anstieg der Fälle in Indien mitverantwortlich ist. Es gebe viele Faktoren, die dazu beigetragen haben könnten. Ob die Virusvariante mehr schwere Krankheitsverläufe auslöse und damit zu höheren Todeszahlen beitrage, sei bisher ebenfalls nicht klar.

Patienten bekommen im Lok Nayak Jai Prakash (LNJP) Sauerstoff
Reuters/Danish Siddiqui
Patienten bekommen in einer Klinik in Delhi Sauerstoff

Massenveranstaltungen aus politischem Kalkül

Zu viele gravierende Fehler sind der Regierung Modi in den letzten Monaten passiert. So rief man zu früh das Ende der Krise aus, und auch die Öffnungsschritte kamen dementsprechend schnell. Dahinter stand wie etwa in Sachen Massenveranstaltungen auch politisches Kalkül. In Indien wird derzeit in fünf Bundesstaaten gewählt, insgesamt sind 175 Millionen Menschen zur Stimmabgabe aufgerufen. Die Wahlen im Bundesstaat Westbengalen haben zudem eine besondere politische Brisanz, da hier die hindu-nationalistische BJP-Partei von Modi versucht, erstmals die Macht zu erlangen.

Narendra Modi
AP/Bikas Das
Modi bei einer seiner Reden

Der Sieg in dem ostindischen Staat, in dem etwa 90 Millionen Menschen leben, wäre ein großer symbolischer Erfolg für die BJP. Im Zuge der Wahlen wurden auch zahlreiche Massenkundgebungen abgehalten. Modi selbst sprach in Westbengalen und war von der Menschenansammlung „begeistert“. Er soll in Kolkata vor rund 800.000 Menschen gesprochen haben. Auch bei der Kumbh Mela, einer der größten religiösen Feiern der Welt, drängten sich zwischen Jänner und Mitte/Ende April geschätzte 25 Millionen Pilger dicht an dicht, die meisten ohne Maske.

„Impfstoffdiplomatie“ zum Schaden der Bevölkerung

Die Regierung verabsäumte es auch, nach den sinkenden Zahlen der ersten Welle sich richtig und durchdacht auf die zu erwartende zweite Welle vorzubereiten. So war bereits damals laut „FT“ klar, dass die Sauerstoffversorgung im Notfall eindeutig zu niedrig war. Ungeachtet auch der Tatsache, dass Indien der größte Hersteller von Schutzimpfungen und Vakzinen aller Art ist, bestellte die Regierung CoV-Impfstoffe nur zögerlich und zu langsam bei den Produzenten in Indien. Zusätzlich, offenbar aus Patriotismus, verlangsamte die Modi-Regierung auch die Zulassung bewährter ausländischer Impfstoffe wie der von Biontech und Pfizer. Gleichzeitig förderte sie einen experimentelleren indischen Impfstoff.

Masseneinäscherungen der CoV-Toten in Indien
AP/Channi Anand
Angehörige müssen unter schwersten Bedingungen Abschied von Verstorbenen nehmen

Nationalstolz spielt laut „FT“ auch eine große Rolle bei dem Export der in Indien hergestellen Vakzine, die selbst bei Knappheit in Indien selbst ins Ausland geschickt werden, da die Regierung den Ruf des Landes als „Apotheke der Welt“ weiter verbreiten will. Hier steht Indien in geopolitischer Konkurrenz mit China, das ebenfalls mit der „Impfstoffdiplomatie“ globalen Einfluss gewinnen bzw. diesen verstärken will.

Die Bereitschaft von Delhi, Impfstoffe in die Welt zu exportieren, stand auch im starken Gegensatz zu den Exportbeschränkungen bzw. -verboten in den USA und Großbritannien. Nach langem Zaudern wurde die Notbremse gezogen: Erst kürzlich verbot die indische Regierung den Export von Impfstoffen, und auch die Zulassung ausländischer Impfstoffe wurde beschleunigt, so die „FT“.

Bundesstaaten teils zu arm für Impstoffe

Angesichts der täglich neuen Höchstwerte rief Modi am Sonntag alle Bürger auf, vorsichtig zu sein und sich impfen zu lassen. Aber auch die Rohstoffe für die Impfstoffe werden knapp. Zusätzlich wird die Produktion von einem Feuer in einem Werk belastet, das das Vakzin von AstraZeneca herstellt. Mancherorts wurde das Impfen wieder eingestellt.

Masseneinäscherungen der CoV-Toten in Indien
Reuters/Adnan Abidi
Masseneinäscherungen von CoV-Toten in Neu-Delhi

Die indische Regierung will Insidern zufolge auch die Beschaffung ausländischer Impfstoffe den Bundesstaaten überlassen. Sie selbst wolle vielmehr indische Hersteller unterstützen, wie aus Regierungskreisen verlautete. Das könnte Experten zufolge die Impfkampagne weiter zurückwerfen, da einige Bundesstaaten den Zukauf aus dem Ausland nicht bezahlen könnten. Dann müssten sie die Kosten auf die Bevölkerung umlegen, die sich das wiederum auch nicht leisten könne.

Intransparenz soll Regierung vor Kritik schützen

Es können auch die Versuche der indischen Regierung, die Wahrheit über die CoV-Welle zu unterdrücken, nicht übersehen werden, so die „Washington Post“. So habe die Regierung von Modi Soziale Netzwerke wie etwa Facebook und Twitter angewiesen, Dutzende Beiträge über ihre Vorgehensweise bei der Pandemie zu entfernen, schrieb die Zeitung. Indiens Regierung scheine dabei die öffentliche Gesundheit als Vorwand zu nutzen, nicht um seine Bürger vor Schaden, sondern auch sich selbst mit dieser Maßnahme vor unliebsamen Enthüllungen und Schaden zu schützen. Doch niemand könne das wissen, da das Regime von Modi jeglichen Anschein von Transparenz meide. Den freien Informationsfluss einzuschränken, helfe jedoch nicht der öffentlichen Gesundheit; es schade nur, so die Zeitung weiter.

Es werde interessant sein, zu beobachten, welchen Spin die Regierungsparte BJP dem Umstand geben werde, dass Indien nun auf Hilfe angewiesen sei, so der „Zürcher Tagesanzeiger“. Indien müsse als Versuchslabor dafür dienen, was passiere, „wenn Politik in einer Krise weiter nach Umfragewerten und nicht nach wissenschaftlicher Realität gemacht wird“, so die Einschätzung der Zeitung.

Von Xi bis Trump und Bolsonaro

Und Modi weiß sich mit dem Versagen seiner Regierung in „guter Gesellschaft“. Er ist nicht der erste Staatschef, der in seinem Land den Preis dafür bezahlt, zu langsam reagiert zu haben – und zuvor den Sieg über das Virus zu früh ausgerufen zu haben, so die „FT“. In China habe die Regierung von Präsident Xi Jinping zuerst versucht, die schlechten Nachrichten zu unterdrücken – mit katastrophalen Konsequenzen. In den USA hatte der damalige Präsident Donald Trump zuerst vorhergesagt, dass das Virus einfach auf wundersame Weise verschwinden werde. In Brasilien hatte der ultrarechte Präsident Jair Bolsonara zu Beginn von einer kleinen Grippe gesprochen und Anti-Lockdown-Demonstranten mit seinen Reden die Stange gehalten.