Zerstörtes Gebäude nach Detonation einer Autobombe
Reuters
Truppenabzug angelaufen

Lage in Afghanistan bleibt angespannt

Die Lage in Afghanistan ist weiter angespannt. Nach dem Autobombenanschlag mit mindestens 30 Toten und mehr als 60 Verletzten am Freitag wurden am Samstag beim Luftwaffenstützpunkt Bagram mindestens zwei Soldaten getötet und 18 verletzt. Gleichzeitig lief am Samstag der nun bis September ausgelegte Abzug der internationalen Truppen an.

Früheren Plänen zufolge hätte dieser bereits mit 1. Mai abgeschlossen sein sollen. Daran erinnerten am Samstag auch die radikalislamischen Taliban – wie sie auf den aus ihrer Sicht nun verspäteten Abzug reagieren wollen, bleibt weiter offen. Rund 10.000 NATO-Soldaten der Ausbildungsmission Resolute Support, darunter 2.500 Soldaten aus den USA und rund 1.100 aus Deutschland, sollen nun bis spätestens 11. September das Land verlassen haben.

Da der Abzug ausländischer Streitkräfte somit nicht wie im USA-Taliban-Abkommen am 1. Mai abgeschlossen sei, habe dieser „Verstoß“ den Taliban „im Prinzip den Weg geebnet, jegliche Gegenmaßnahme“ gegen die internationalen Truppen zu ergreifen, die man für angemessen halte, teilte Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid am Samstag via Twitter dazu mit.

Sicherheitskräfte am Ort Detonation einer Autobombe
APA/AFP
Am Freitagabend starben in der Provinz Logar Dutzende Menschen bei einem Anschlag

Am Samstag twitterte ein Sprecher des US-Militärs, der Flugplatz Kandahar sei am Nachmittag (Ortszeit) mit „ineffektivem indirekten Feuer“ beschossen worden. Es habe keine Verletzten und keine Schäden gegeben. Bisher bekannte sich niemand dazu. Wenige Stunden später zerstörten US-Streitkräfte zusätzliche Raketen, die auf den Flugplatz gerichtet gewesen seien. Auf dem Flugplatz Kandahar sind lokalen Behördenvertretern zufolge weiter US-Soldaten stationiert.

Schon lange laufende Vorbereitungen

Die USA, Russland, China und Pakistan hatten am Freitag gemeinsam die Taliban dazu aufgerufen, den Abzug nicht durch Anschläge zu stören. Nach einem Vierertreffen in Doha appellierten sie an die Konfliktparteien, das Ausmaß der Gewalt zu verringern und eine Verhandlungslösung zu suchen. Eine gewaltsam installierte Regierung werde man nicht unterstützen.

Die Vorbereitungen für den Abzug sind schon lange angelaufen: Seit Wochen wird Material aus dem Land gebracht. Von der NATO hieß es, da die Sicherheit der Truppen höchste Priorität habe, würden keine Details zu der Operation mitgeteilt, etwa zu Truppenzahlen oder Zeitplänen für einzelne Staaten. Zuletzt waren 36 NATO-Staaten und Partnerländer, darunter auch Österreich mit 16 Soldaten, in Afghanistan im Einsatz.

„Kein sonderlich gutes Gefühl“

Unter Soldaten der afghanischen Streitkräfte wächst indes die Sorge vor einer weiteren Gewalteskalation. Man habe „kein sonderlich gutes Gefühl“, sagte laut dpa ein in Kabul stationierter Soldat der namentlich nicht genannt werden wollte.

Lediglich die Spezialkräfte seien wirklich in der Lage, das Land zu verteidigen. Seine Einheit verharre seit der Ankündigung des Abzugs in Schockstarre. Man habe bis zuletzt nicht geglaubt, dass die USA wirklich abziehen würden. Man wisse aber, man müsse für das Land kämpfen – „sei es jetzt mit oder ohne Amerikaner“. Er habe auch Sorge, dass nun Munitions- und Waffenbestände der Armee zunehmend „verschwinden“ und sich manche seiner Kameraden schon auf einen Bürgerkrieg vorbereiten.

Grafik zum Krisengebiet Afghanistan
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: cfr.org

Laut einem Kommandeur der afghanischen Streitkräfte fehle es vor allem in den ländlichen Gebieten an adäquater Ausrüstung und gut trainierten Soldaten. Wenn eine Truppe, von der man jahrelang mit Logistik, Treibstoff, Fahrzeugen, Waffen, Ausrüstung und Schulungen unterstützt worden sei, plötzlich das Land verlasse, habe das natürlich negative Auswirkungen.

Noch unter Trump geschlossenes Abkommen

Die USA und die Taliban hatten im Vorjahr – noch unter Präsident Donald Trump – im Golfemirat Katar ein Abkommen unterzeichnet und einen Abzug aller US- und NATO-Truppen bis 1. Mai vereinbart. Allerdings hat der neue US-Präsident Joe Biden den Abzug verschoben – dieser soll nun bis spätestens 11. September abgeschlossen sein. Dafür setzte Biden den offiziellen Beginn des endgültigen Truppenabzugs auf den 1. Mai.

Warnung vor Wiederaufstieg von al-Kaida

Zehn Jahre nach dem Tod von Al-Kaida-Chef Osama bin Laden warnt der Terrorexperte Guido Steinberg von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) unterdessen auch vor einem möglichen Wiederaufstieg der Dschihadisten. Nach dem geplanten US-Abzug aus Afghanistan werde es Steinberg zufolge schwer, die Extremisten dort zu bekämpfen. Zudem hätten die militant-islamistischen Taliban keinen Grund, ihr Bündnis mit al-Kaida aufzugeben.

Vielmehr sei davon auszugehen, dass sich die Taliban in Afghanistan durchsetzten. „Das könnte zu einem Weckruf für Dschihadisten weltweit werden.“ In einem UNO-Bericht vom Mai 2020 heißt es, die Führungsriege von al-Kaida sei weiter in Afghanistan präsent. Insgesamt sei das Terrornetzwerk in zwölf der 34 afghanischen Provinzen aktiv. Die Beziehungen zwischen den Taliban und der Organisation seien weiter eng. Die Taliban hatten sich im Februar 2020 in einem Abkommen mit den USA eigentlich dazu verpflichtet, ihre Zusammenarbeit mit al-Kaida zu kappen.

2001 hatten die Taliban noch die Auslieferung des Drahtziehers der 9/11-Anschläge in New York und Washington verweigert, was in direkter Folge zur US-Intervention in Afghanistan führte. Der Al-Kaida-Chef war bis zum 2. Mai 2011 der meistgesuchte Terrorist weltweit. Vor zehn Jahren wurde Osama bin Laden von einer US-Spezialeinheit im pakistanischen Abbottabad getötet.