Eine Inderin vor einem geschlossenem Impfzentrum in Mumbai
Reuters/Francis Mascarenhas
Indien

Debatte über Impfgerechtigkeit neu entfacht

Aufgehobene Lockdowns, gelockerte Maßnahmen und steigende Impfquoten – während man in Europa wegen der vorsichtigen Rückkehr zur Normalität fast den Eindruck bekommen könnte, die Pandemie neige sich langsam dem Ende zu, eröffnet ein Blick über die Grenzen ein völlig anderes Szenario. Vor allem in Indien ist die Lage dramatisch und wirft einmal mehr die Frage nach der gerechten Verteilung von Impfstoffen auf.

In Indien folgt ein Tagesrekord an Neuinfizierten und Coronavirus-Toten dem nächsten, weil die Krematorien überfüllt sind, finden Massenverbrennungen in öffentlichen Parks statt. Krankenhausbetten sind längst ebenso Mangelware wie Sauerstoff und Medikamente in dem Land, das eigentlich als „Apotheke der Welt“ gilt.

„Sehr besorgniserregend“ ist die Lage in Indien auch für Afrika, wie es seitens der Gesundheitsbehörde CDC kürzlich hieß. Man befürchte, dass es auch in Afrika zu einer ähnlichen Entwicklung kommen könnte. Ähnlich düster wie in Indien ist die Lage bereits in Lateinamerika. Hier gilt Brasilien als Brennpunkt der Pandemie. Unterdessen leidet Peru unter der weltweit höchsten Sterberate, während Venezuela mit einem kollabierenden Gesundheitssystem kämpft.

Inder und Inderinnen warten auf eine Impfung in Mumbai
Reuters/Niharika Kulkarni
„Indien brennt, und der Westen hortet weiterhin Impfstoffe“, schreibt „Politico“ über die ungerechte Verteilung der Vakzine

Große Unterschiede bei Impfquoten

Doch egal, ob man die Situation in Indien, Afrika oder Lateinamerika betrachtet, überall zeigt sich das gleiche Bild: Die betroffenen Staaten bräuchten viel mehr Impfdosen, als sie eigentlich besitzen. Zum Vergleich: Während in Großbritannien bereits über die Hälfte der Bevölkerung zumindest eine Impfdosis erhielt und in Österreich rund ein Viertel, sind es in Indien nicht einmal zehn Prozent. Und in den USA liegt die Impfquote bei 44 Prozent, in Afrika nicht einmal bei einem Prozent.

Grafik zur Impfdosisrate
Grafik: ORF.at; Quelle: ourworldindata.org

Dazu kommt, dass sich die reichen Industrieländer insgesamt 1,9 Milliarden Impfdosen mehr gesichert hätten, als sie für eine Herdenimmunität in den eigenen Staaten benötigten, sagte der Geschäftsführer der Entwicklungsorganisation One, Tom Hart, Ende April. Eine Analyse zeige, dass zum Ende des Sommers alle G-7-Staaten ihre Bedürfnisse erfüllt hätten und dann Lager mit Überkapazitäten aufbauen würden. Auch „Politico“ schrieb: „Indien brennt, und der Westen hortet weiterhin Impfstoffe.“

Globale Ungleichheit als Risiko für alle

Die globale Ungleichheit bei der Verteilung der Impfstoffe könnte aber nicht zuletzt auch für die bereits geimpften Bevölkerungen reicherer Länder zur Gefahr werden, wie Fachleute nicht müde werden zu betonen: Denn je weniger geimpft wird, also je länger die Pandemie andauert, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Mutationen entstehen. Das wiederum birgt das Risiko, dass Impfstoffe unwirksam werden. So schreibt auch die „Zeit“ in dem Kommentar mit dem Titel „So nah ist Indien“: „Wenn irgendwo Eigennutz und Gerechtigkeit Hand in Hand gehen, dann in dieser Pandemie.“

Ein Inder vor einem geschlossenem Impfzentrum in Mumbai
Reuters/Francis Mascarenhas
„Keine Impfung vorrätig“, heißt es auf den Schildern eines geschlossenen Impfzentrums in Mumbai, Indien

Einzelne Impfstofflieferungen „keine Lösung“

Im Fall von Indien kündigten viele Staaten zwar bereits Hilfe an, das allein dürfte aber nicht reichen, um die Krise zu überwinden. „Politico“ zitierte hierbei etwa die Gesundheitsexpertin Winnie Byanyima, der zufolge die Pandemie nicht dadurch gelöst werden könne, Impfstoffe immer dorthin zu schicken, wo die Sterberaten gerade am höchsten seien. Schließlich könne das keine zukünftigen Ausbrüche verhindern, so „Politico“. Was es wirklich brauche, sei ein globaler Plan, so Byanyima.

Genau aus diesem Grund wurde im April vergangenen Jahres die internationale Impfallianz Covid-19 Vaccines Global Access (COVAX) gegründet, die einen weltweit gerechten Zugang zu Covid-19-Impfstoffen gewährleisten will. Bei der Finanzierung sollen reichere Länder helfen, so das Konzept.

Doch hat COVAX Schwierigkeiten mit dem Nachschub – nicht zuletzt, weil die Initiative stark auf die Produktion in Indien gesetzt habe, wo nun die eigene Bevölkerung beliefert werden müsse, wie „Politico“ berichtete. Unterdessen kündigte Moderna am Montag an, bis zu 500 Millionen Impfdosen an COVAX zu liefern. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte zuletzt an reichere Länder appelliert, so schnell wie möglich Impfstoff zu spenden.

TRIPS-Abkommen

Beim TRIPS-Abkommen handelt es sich um das Übereinkommen zu handelsbezogenen Aspekten der Rechte des geistigen Eigentums. Mit diesen und anderen Vereinbarungen will die WTO den freien Handel regeln.

Rufe nach Aussetzen der Patente

Immer lauter werden unterdessen die Rufe nach dem Aussetzen der Impfstoffpatente (TRIPS-Ausnahmeregelung). So appellierten Mitte April etwa 170 frühere Staats- und Regierungsspitzen sowie Nobelpreisträger für diese Maßnahme, da dadurch die Produktion der Vakzine weltweit beschleunigt werden könne, hieß es in dem offenen Brief.

Wenn die internationale Impfkampagne weiter so langsam laufe wie bisher, bestehe die Gefahr, dass auch im nächsten Jahr nur zehn Prozent der Menschen in ärmeren Staaten immunisiert werden könnten. Es gehe darum, „das kollektive Recht aller auf Sicherheit über die wirtschaftlichen Monopole einiger weniger zu stellen“.

100 Länder unterstützen, Pharmaindustrie blockiert

Ein entsprechender Antrag für die temporäre Aussetzung wurde bereits im Oktober 2020 von Indien und Südafrika eingebracht und wird von mittlerweile mehr als 100 Ländern unterstützt. Länder mit Pharmaindustrie sowie die Industrie blockieren das bisher. Gegner der Aussetzung argumentieren, die Patente seien nötig für eine fruchtbare Kooperation zwischen Impfstoffentwicklern und -herstellern.

Auch bringe die Aufhebung der Patente nicht mehr Impfstoff. Alle qualifizierten Hersteller seien bereits mit Lizenzen in die Fabrikation eingebunden. Die Chefin der Welthandelsorganisation (WTO), Ngozi Okonjo-Iweala, hält jedoch die schnelle Umrüstung bestehender Fabriken für die Impfstoffproduktion für möglich. Die Verhandlungen der WTO zum Thema blieben bisher erfolglos, am Mittwoch und Donnerstag sollen erneut Beratungen stattfinden.

Pandemie „dann zu Ende, wenn sie überall beendet wurde“

Seitens von Ärzte ohne Grenzen (MSF) fordert man bereits seit Beginn der Pandemie eine Aussetzung der Patente. Gegenüber ORF.at hieß es: „Alle Menschen weltweit müssen den gleichen Zugang zu lebensrettenden Medikamenten, Hilfsmitteln und Impfstoffen im Kampf gegen Covid-19 haben.“

Auch die österreichische Regierung sei gefordert, dieses „richtungsweisende Abkommen“ zu unterstützen und das Recht auf Gesundheit aller Menschen in den Vordergrund zu stellen. Denn: „Eine Pandemie ist erst dann zu Ende, wenn sie tatsächlich überall beendet wurde.“ Deshalb brauche es jetzt weltweite Solidarität.