Das Parlamentsgebäude in Edinburgh
Reuters/Paul Hackett
Unabhängigkeitsfrage

Schottische Parlamentswahl als Gradmesser

Schottland wählt am Donnerstag ein neues Regionalparlament. Die Abstimmung gilt auch als Gradmesser in puncto Unabhängigkeitsbestrebungen, die in den vergangenen Monaten Aufwind bekamen. Die separatistische Schottische Nationalpartei (SNP) von Regierungschefin Nicola Sturgeon dürfte letzten Umfragen zufolge die absolute Mandatsmehrheit erreichen. Aus London kamen bereits Warnungen.

Im Regionalparlament Holyrood in Edinburgh sind insgesamt 129 Sitze zu vergeben. Die linksgerichtete SNP verfügt aktuell über 61 Abgeordnete, gefolgt von den Konservativen mit 30 Mandataren, Labour mit 23 sowie den Grünen und den Liberaldemokraten mit je fünf Sitzen.

Umfragen zufolge dürfte die seit 14 Jahren regierende SNP auch diesmal stärkste Kraft bleiben – laut einer YouGov-Befragung kommt sie sogar auf 68 Sitze und erreicht damit die absolute Mehrheit. Für die SNP, die derzeit mit Duldung der schottischen Grünen regiert, wäre das ein klares Mandat für die geplante Volksabstimmung über die Unabhängigkeit.

Sturgeon will vor Referendum Pandemie überwinden

An den Plänen für ein Unabhängigkeitsreferendum hält Sturgeon fest, will aber erst die Pandemie überwunden wissen, wie sie in Interviews mit dem „Guardian“ und der BBC sagte. Der Verweis sollte wohl auch Sturgeons Kritiker besänftigen: Als sie ein weiteres Votum vor wenigen Monaten aufs Tapet brachte, wurde sie dafür von Labour- und Tory-Politikern kritisiert.

Ein neues Referendum strebt die SNP bis Ende 2023 an, auch wenn die britische Regierung das nicht zulassen will. Als Argument für ein weiteres Referendum nach jenem 2014 – damals stimmten 55 Prozent für einen Verbleib im Vereinigten Königreich – bringt die Partei die geänderten Rahmenbedingungen vor.

Schottland wählt neues Regionalparlament

Die amtierende Regierungschefin Nicola Sturgeon verspricht eine weitere Volksabstimmung über die Frage, ob Schottland unabhängig vom Vereinigten Königreich werden solle. 2014 haben 55 Prozent der Schotten gegen die Abtrennung gestimmt.

Das Land trat entgegen dem Willen einer Mehrheit in Schottland aus der EU aus. Beim Brexit-Referendum 2016 stimmten immerhin 62 Prozent in Schottland für den Verbleib in der EU. Zuletzt machten auch die schottischen Fischer Stimmung: Der Londoner Regierung werfen sie vor, ihre Brexit-Versprechungen nicht eingehalten zu haben.

Auch Sturgeons politischer Ziehvater im Rennen

Die SNP ist dabei nicht die einzige separatistische Bewegung, die ins Rennen geht: Bei der Wahl tritt auch die neu gegründete Partei von Sturgeons Vorgänger und politischem Ziehvater Alex Salmond an. Salmond gründete die Partei Alba (schottisch-gälisch für Schottland) nach Zerwürfnissen mit Sturgeon im März. Alba will für die Unabhängigkeit kämpfen und in weiterer Folge über eine Rückkehr in die EU abstimmen. Der Ex-SNP-Vorsitzende Salmond war von 2007 bis 2014 Regierungschef, trat nach einem gescheiterten Unabhängigkeitsreferendum aber zurück.

Nicola Sturgeon mit Alex Salmond 2015
Reuters/Russell Cheyne
SNP-Chefin Sturgeon mit ihrem Vorgänger und neuem Konkurrenten Alex Salmond im Jahr 2015

Mit Sturgeon hat er sich im Streit über Vorwürfe der sexuellen Belästigung gegen ihn überworfen. Er wurde später von den Anschuldigungen freigesprochen – Sturgeon selbst stand ob ihrer Rolle in der Causa in der Kritik. In einem Interview forderte Salmond die Wähler auf, ihre Erststimme der SNP oder einer anderen Partei zu geben, die für die Unabhängigkeit eintritt.

Alba wolle nur Kandidaten für regionale Listen aufstellen. Sturgeon hat laut Medienberichten bereits erklärt, nicht mit Salmond zusammenarbeiten zu wollen. Als wahrscheinlicher gilt – für den Fall, dass die SNP keine absolute Mehrheit erzielt – hingegen eine neuerliche Pro-Unabhängigkeitsmehrheit mit den Grünen.

London lehnt Abstimmung kategorisch ab

Die britische Regierung lehnt ein weiteres Referendum kategorisch ab. Erst am Mittwoch bekräftigte Premier Boris Johnson seine ablehnende Haltung. „Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, um ein skrupelloses und, wie ich finde, unverantwortliches zweites Referendum abzuhalten“, sagte Johnson vor Reportern. Johnson steht aktuell wegen Enthüllungen zur Renovierung seiner Londoner Dienstwohnung in der Kritik – auch der schottische Tory-Chef Douglas Ross ging zuletzt auf Distanz.

Der britische Premier Boris Johnson
AP/Frank Augstein
Boris Johnson übte an den Unabhängigkeitsbestrebungen in Schottland Kritik

Sturgeon selbst zeigte sich in dem „Guardian“-Interview überzeugt, dass London ein Votum über die Loslösung Schottlands nach einem Wahlsieg ihrer Partei letztlich nicht verhindern würde. „Wenn die Menschen in Schottland eine Partei wählen, die sagt: ‚Wenn die Zeit dafür gekommen ist, sollte es ein Unabhängigkeitsreferendum geben‘, kann man dem nicht im Wege stehen“, sagte sie. „Und ich glaube auch nicht, dass das passieren wird.“

Schottland laut Umfragen gespalten

Der Ausgang einer weiteren Volksbefragung scheint aktuellen Umfragen zufolge aber denkbar knapp: Die Zustimmung für eine Unabhängigkeit liegt laut Umfragen vom April sehr nahe bei 50 Prozent. In den Monaten zuvor war der Vorsprung noch größer. Im Herbst erreichten die Bestrebungen mit 58 Prozent auch den besten Wert in der Geschichte – dass er nun geschrumpft sei, führte der Konservative Murdo Fraser unter anderem auf die erfolgreiche Impfkampagne der Briten zurück. In Umfragen zum Krisenmanagement stand Sturgeon allerdings deutlich besser da als Premier Johnson.

WELTjournal: Schottland – unbeugsam und unabhängig

Fünf Monate nach dem Brexit herrscht in Schottland Hochspannung: Die Wahl Anfang Mai 2021 gilt als Stimmungsbarometer, ob die Schotten neuerlich die Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich wollen und ob sie eine Rückkehr in die EU anstreben. Die erfolgreiche Impfstrategie hat Großbritannien als erstem Land Europas eine Normalisierung des öffentlichen Lebens ermöglicht und könnte die Wahl mitentscheiden. Im Gegensatz zu den Lockdowns in der EU sind Schulen, Pubs, Handel und Friseure wieder offen und Großveranstaltungen in Planung. Doch Flötenbauer George Ormiston aus Sterling bleibt dabei: „Niemand, der hier in Schottland geboren ist, glaubt, dass er Brite ist. Wir sind Schotten und ich sehe keinen Grund, warum wir nicht unser eigenes Land regieren sollten“.

„Dieses Land ist schon seit ungefähr zwei Jahren zweigeteilt, und das hat viel mit dem Brexit zu tun. Der Brexit hat zu einer langfristigen Zunahme der Unterstützung für die Unabhängigkeit geführt, aber keiner von uns weiß, wie das Ergebnis eines Referendums aussehen würde, wenn es wirklich abgehalten würde“, sagte der Politologe John Curtice im APA-Interview. Er kritisierte, dass es in der Debatte meist nur darum gehe, ob es ein Referendum geben solle – nicht aber darum, ob eine Unabhängigkeit überhaupt eine gute Idee sei.

Rechtliche Fragen offen

Offene Fragen gibt es aber auch hinsichtlich der rechtlichen Umsetzung eines weiteren Referendums: „Britische Regierungen haben lange anerkannt, dass Schottland ein Recht auf Selbstbestimmung hat, dass es unabhängig werden könnte“, so der Politologe Michael Keating zur APA. „Es hat aber nie Einvernehmen darüber geherrscht, wie es dazu kommen könnte.“

Um den Weg frei für das Referendum von 2014 zu machen, kam der Artikel 30 des „Scotland Act“ zur Anwendung – der es dem Londoner Parlament ermöglicht, gewisse Befugnisse an das schottische Regionalparlament zu übertragen. Selbst die Frage, ob ein rein beratendes Votum ohne Zustimmung Londons rechtens wäre, müssten wohl die Gerichte entscheiden, so Keating.

Eine Loslösung Schottlands wäre auch auf anderen Ebenen keineswegs einfach: Die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Schottland und dem restlichen Königreich sind groß, der Handel beträgt ein Vielfaches des schottischen Handels mit der EU. Bis zu dreimal teurer als die Kosten des Brexits wäre eine Unabhängigkeit für Schottland laut Berechnungen von Wissenschaftlern der London School of Economics. Das gelte selbst für den Fall, dass Schottland wieder der EU beitritt.

Weitere Wahlen in Wales und England

Neben der Wahl in Schottland finden am Donnerstag unter anderem auch Wahlen zum neuen Regionalparlament in Wales sowie Kommunal- bzw. Bürgermeister-Direktwahlen in Teilen Englands statt. In Hartlepool an der Nordsee wird ein Nachfolger für den im März zurückgetretenen Labour-Abgeordneten Mike Hill bestimmt – die Nachwahl in der englischen Hafenstadt gilt als erster größerer Test an den Wahlurnen für Oppositionschef Keir Starmer, seit er vor einem Jahr die Labour-Führung übernommen hat.

Insgesamt sind laut BBC rund 48 Millionen Menschen in England, Schottland und Wales stimmberechtigt. In den meisten schottischen Wahlkreisen startet die Auszählung der Stimmen am Freitag, für mehr als die Hälfte sollen bis Ende des Tages die Ergebnisse feststehen. Ein weiterer Teil wird für Samstag erwartet.