Start der chinesischen Rakete vom Typ „Langer Marsch 5B“
APA/AFP
Absturzort ungewiss

Chinesische Raketentrümmer fallen auf Erde

Der Start der chinesischen Trägerrakte vom Typ „Langer Marsch 5B“ Ende April war für die Raumfahrtnation ein Erfolg. Sie brachte das erste Modul der neuen chinesischen Raumstation ins All. Zum Problem könnten aber die Nachwehen des Raketenstarts werden. Die Hauptstufe der Rakete stürzt derzeit unkontrolliert zurück zur Erde. Wo mögliche Trümmerteile landen könnten, weiß niemand.

Die Saturn-Reihe war es für die USA, die Sojus-Raketen bildeten es für die Sowjetunion und sind es noch immer für Russland: das Rückgrat des eigenen Weltraumprogramms. In China trägt die Raketenreihe seit den 1970er den Namen „Langer Marsch“ – benannt nach dem Ursprungsmythos der Kommunistischen Partei Chinas.

„Langer Marsch 5B“ heißt der jüngste Spross des chinesischen Raketenprogramms. Mit 53 Metern reiht sich die „CZ-5B“ abgekürzte Trägerrakte in die Gruppe der wenigen derzeit im Betrieb befindlichen Großraketen ein. Am 29. April war erst zum zweiten Mal eine Rakete von diesem Typ gestartet und hatte das erste Modul der neuen chinesischen Raumstation in den Orbit gebracht. In der Erdumlaufbahn ist nun aber auch die 30 Meter hohe Antriebsstufe der Rakete – also jener Teil aus Treibstofftanks und Raketendüsen, mit dessen Hilfe die Rakete die Erdanziehung überwindet. Dieser Raketenteil ist es, den Raumfahrtexperten nun mit Sorge beobachten.

Die chinesische Rakete vom Typ „Langer Marsch 5B“ vor dem Start
AP/Xinhua/Guo Wenbin
Raketen vom Typ „Langer Marsch 5B“ werden nur von einer Antriebsstufe in den Orbit befördert

Im Unterschied zu anderen aktuellen Großraketen besitzt „CZ-5B“ keine weitere Raketenstufe. Die Triebwerke, die bereits beim Start zünden, bringen die Fracht der Rakete direkt in die Erdumlaufbahn. Erst dort wird die Hauptstufe abgetrennt. Das hat zur Folge, dass auch sie selbst sich erst einmal in einer niedrigen Umlaufbahn befindet. Dort wird sie von den obersten Schichten der Atmosphäre langsam gebremst und beginnt schließlich in Richtung Erde zu fallen. Eine Steuerung der Flugbahn ist allerdings nicht mehr möglich – der Wiedereintritt in die Atmosphäre erfolgt also unkontrolliert.

Breiter Korridor für möglichen Absturz

Der Großteil des 20 Tonnen schweren Raketenteils wird dabei zwar in der Atmosphäre verglühen. Einzelne hitzebeständige Teile dürften den Fall aber überstehen – und schließlich auf der Erdoberfläche aufschlagen. Wo das passieren wird, bleibt die große Frage. Da die Hauptraketenstufe etwa alle 90 Minuten um die Erde kreist, lässt sich nicht berechnen, wann und wo genau sie in die Atmosphäre eintreten und dort zumindest teilweise verglühen wird.

Das US-Militär gab dem Raketenteil mittlerweile den Namen 2021-035B. Seine Flugbahn lässt sich auf Tracking-Websites verfolgen. Ausgehend von ihrer derzeitigen Umlaufbahn überquert die Rakete die Erde im Norden bis nach New York, Madrid und Peking und im Süden bis nach Südchile und Wellington in Neuseeland. Sie könnte an jedem beliebigen Punkt innerhalb dieses Gebietes wieder eintreten.

Genaue Prognose (noch) nicht möglich

Aufgrund der hohen Geschwindigkeit könnte bereits eine kleine Änderung der Flugbahn einen Unterschied machen, wo die Trümmer am Ende landen. „Wir wissen nicht, wo“, sagte der Astrophysiker Jonathan McDowell am Dienstag gegenüber Medien. „Im schlimmsten Fall wird es wie der Absturz eines kleinen Flugzeugs, der sich aber über Hunderte Kilometer verteilt.“ Es sei ungewiss, wie viele Bruchstücke nach dem Wiedereintritt übrig bleiben. „Aber genug, um Schaden anzurichten“, so der Experte vom Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics in Cambridge im US-Bundesstaat Massachusetts.

Freilich ist der größte Teil der Erde von Ozeanen bedeckt. Auch ein Großteil der Landmasse stellt unbewohntes Gebiet dar. „Der wahrscheinlichste Vorgang sieht so aus, dass Trümmer, die die starke Hitze des Wiedereintritts überstehen, ins Meer oder auf unbewohnte Gegenden fallen“, schrieb Andrew Jones auf Spacenews.com. Doch es lasse sich nicht ausschließen, dass auch Menschen oder Eigentum zu Schaden kommen könnten, so der Kenner des chinesischen Raumfahrtprogramms.

Offen ist auch noch, wann genau sich der Absturz ereignet. Die Prognosen gehen vom 10. Mai aus – mit einer Unsicherheit von immerhin plus/minus zwei Tagen. Sobald der Tag feststehe, könnten Experten die Landezeit innerhalb eines Sechsstundenfensters voraussagen, so McDowell.

Bewusstes Risiko Chinas

McDowell kritisierte überdies, dass China das Risiko mit der Raketenkonstruktion bewusst in Kauf nehme. „Nach dem Skylab-Wiedereintritt entschied sich jeder andere, dass vermieden werden sollte, dass so etwas passiert“, so der Astrophysiker. Die von den Amerikanern in den Orbit gebrachte Raumstation war im Juli 1979 weitgehend unkontrolliert zum Absturz gebracht worden. Die 90 Tonnen schwere Station zerbrach dabei erst später als angenommen, die Trümmer gingen weiter östlich nieder als geplant.

Ausstellung mit einem Modell der chinesischen Raumstation
Reuters/Tingshu Wang
Das Ende April in den Orbit gebrachte Modul bildet den Grundstein für Chinas neue Raumstation

Seit 1990 sei nichts über zehn Tonnen absichtlich in der Umlaufbahn gelassen worden, um unkontrolliert wiedereinzutreten, so McDowell. Das Ende der 19 Tonnen schweren Saljut 7 ein Jahr später war der letzte unkontrollierte Absturz eines solch großen Objektes. Der Wiedereintritt der russischen Raumstation MIR erfolgte 2001 durch den Einsatz der Schubdüsen kontrolliert.

Bei den aktuell im Einsatz befindlichen Großraketen gelangen Hauptstufen gar nicht in den Orbit, sondern werden zuvor abgetrennt. Sie stürzen dann in einer berechenbaren Kurve auf die Erde zurück – die Trümmer gehen in einer im Vorfeld definierten Wiedereintrittszone nieder. Größere zweite Raketenstufen, die einen niedrigen Erdorbit erreichen, werden durch gezielte Zündungen der Triebwerke – „Deorbit-Burns“ genannt – in eine niedrige Flugbahn gebracht. Damit soll der Absturz so weit wie möglich kontrolliert werden.

„Mit der ‚Langer Marsch 5B‘ hat China keinen dieser Ansätze verfolgt“, sagte McDowell. Sie sei so gebaut, dass sie etwa eine Woche später durch die Anziehungskraft an einem „willkürlichen Ort“ wieder in die Atmosphäre der Erde eintrete. „Das Design ist fahrlässig im Vergleich zu gegenwärtigen Standards anderer Länder.“

Beschädigte Gebäude in der Elfenbeinküste

Im Vorfeld war sehr wohl darüber spekuliert worden, dass auch die Hauptstufe der „CZ-5B“ diesmal ein aktives Manöver durchführen und so aus dem Orbit geholt werden könnte. Das blieb aber offensichtlich aus. Auf einer Pressekonferenz in Wenchang sprach Wang Jue, Oberbefehlshaber des Raketenprogramms „Langer Marsch 5“, am Donnerstag von Verbesserungen gegenüber dem ersten Start der „CZ-5B“ vor einem Jahr. Ein mögliches Deorbit-Manöver erwähnte er aber nicht.

Bereits infolge des Raketenstarts im Mai 2020 war der Absturz der Hauptstufe nicht ganz glattgegangen. „Das letzte Mal, als sie eine ‚Langer Marsch 5B‘-Rakete starteten, endete es mit großen langen Metallstäben, die durch den Himmel flogen und mehrere Gebäude in der Elfenbeinküste beschädigten“, sagte McDowell. „Das meiste davon ist verglüht, aber es gab diese riesigen Metallstücke, die auf dem Boden aufschlugen. Wir hatten großes Glück, dass niemand verletzt wurde.“

Weitere Raketenstarts für Raumstation nötig

Fest steht bereits jetzt: Es wird nicht der letzte Start eine Rakete vom Typ „Langer Marsch 5B“ gewesen sein. Für Chinas neue Raumstation müssen zwei weitere Module ins All gebracht und angebaut werden. Die T-förmige Station soll „um 2022“ fertiggestellt werden und dann „Tiangong“ (Himmelspalast) heißen. Mit rund 60 Tonnen Gewicht fällt sie deutlich kleiner aus als die Internationale Raumstation (ISS).

Die ISS, deren erstes Modul 1998 gestartet wurde, kommt nach zahlreichen Ausbaustufen auf eine Masse von etwa 408 Tonnen. Die Station nähert sich aber dem Ende ihrer Lebenszeit. Spätestens 2030 soll sie nach den derzeitigen Plänen zum kontrollierten Absturz gebracht werden. Dann wäre China die einzige Nation, die eine ständig besetzte Station im Weltraum betriebe.