Ärztin berät Long-Covid-Patientin
AP/Michael Sohn
„Long Covid“ und ME/CFS

Genesen und doch krankhaft erschöpft

Genesen, aber nicht gesund, so lässt sich „Long Covid“ wohl am besten beschreiben. Betroffene haben die akute Coronavirus-Infektion zwar überstanden, leiden jedoch an schweren Langzeitfolgen – die meisten am chronischen Fatigue-Syndrom (ME/CFS). Manche sogar so stark, dass sie vor Erschöpfung kaum das Bett verlassen können. Angesichts der Öffnungen gelte es, sich dieses Risikos bewusst zu sein, so der Neurologe Michael Stingl gegenüber ORF.at.

„Ich verstehe die große Freude über Lockerungen der aktuellen Maßnahmen. Ich denke nur, dass es fair gewesen wäre, die Leute schon wesentlich früher auf die Möglichkeit hinzuweisen, dass es auch nach mildem Verlauf von Covid-19 zu möglicherweise chronischen Folgen kommen kann“, sagte der Wiener Neurologe.

Denn: Genesene mit „Long Covid“ seien „nicht gesund. Sie haben nur nicht mehr aktives Covid-19“, so Stingl. Laut der Berliner Charite ist das „häufigste Symptom“ der Coronavirus-Langzeitfolgen ME/CFS – die Myalgische Enzephalomyelitis beziehungsweise das chronische Fatigue-Syndrom, wohl besser bekannt als chronisches Erschöpfungssyndrom.

Wenn der Spaziergang „zu viel an Aktivität“ ist

Für viele Betroffene ist die Bezeichnung allerdings „verharmlosend“, handle es sich dabei doch um eine schwere Erkrankung, die mehrere Organsysteme gleichzeitig betrifft und mit starken körperlichen Einschränkungen einhergeht. „Die Erschöpfung bezieht sich generell auf alle Aspekte der Lebensführung“, sagt Stingl, Experte auf dem Gebiet. Bereits einfache Hausarbeit oder langsame Spaziergänge könnten „schon zu viel an Aktivität sein“.

Gastgarten am Herrenplatz in St. Poelten
ORF.at/Christian Öser
Ein Leben wie damals? Der Neurologe Stingl versteht die Freude über die Lockerungen, weist jedoch zugleich auf das Risiko von „Long Covid“ hin

Bei ME/CFS fühlt sich aber nicht nur der Körper, sondern auch der Geist schwer und müde an – „Brain Fog“ (zu Deutsch: „Gehirnnebel“) führe zusätzlich zu Problemen mit der Konzentration und Aufmerksamkeit. Und: Überschreitet man die eigenen engen Leistungsgrenzen, kommt es nicht zu Verbesserung, sondern zu einer „massiven Verschlechterung der Symptome“, wie Stingl erklärt. Auch im aktuellen ME/CFS-Report ist zu lesen, dass die Krankheit sowohl körperliche als auch geistige Erschöpfung und Schwäche umfasst und durch Ruhe nicht verbessert werden könne.

Medizin-Talk: Chronisches Erschöpfungssyndrom

Neurologe Michael Stingl erläutert, dass diese Erkrankung mittlerweile durch „Long Covid“ an Bekanntheit und an Bedeutung gewonnen habe, ist sie doch eines der Hauptmerkmale bei „Long Covid“-Patienten und -Patientinnen.

Von Covid-19 zu ME/CFS?

Die Ursachen für die Krankheit seien noch nicht genau geklärt, häufig gehe dem Fatigue-Syndrom jedoch ein Infekt voraus. So kann es eben auch sein, dass Covid-19-Patienten und -Patientinnen zu Betroffenen von ME/CFS werden. Stingl warnt jedoch davor, „Long Covid“ automatisch mit ME/CFS gleichzusetzen.

17 Mio. Betroffene

Weltweit sind etwa 17 Millionen Menschen, in Österreich Schätzungen zufolge rund 25.000 Patienten und Patientinnen von ME/CFS betroffen. Offizielle Zahlen gibt es nicht.

„‚Long Covid‘ ist primär einmal eine postvirale Fatigue, so wie sie nach einer Vielzahl von viralen Infekten vorkommen kann.“ ME/CFS sei letztlich die chronische Form davon, die jedoch erst nach sechs Monaten diagnostiziert werde, erklärt der Neurologe.

Inwieweit, so wie das Charite behauptet, ME/CFS die häufigste Langzeitfolge von Covid-19 ist und wie viele „Long Covid“-Patienten tatsächlich chronisch an ME/CFS erkranken, sei aufgrund der schlechten Datenlage aber „aktuell noch vollkommen unklar“. Stingl hoffe jedoch, dass sich bei vielen Betroffenen die Symptomatik noch zurückbilden werde.

Müder Mann legt Kopf auf Hände
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Leitsymptom von ME/CFS ist eine „allumfassende“ körperliche sowie geistige Erschöpfung und Schwäche

Schwierige Diagnose und Behandlung

Denn weder die Diagnose noch die Behandlung ist einfach. Der Leidensweg ist folglich oftmals ein langer, wie sich nicht zuletzt auch in den Berichten Betroffener in diversen Selbsthilfe-Foren widerspiegelt. Zwar wurde ME/CFS von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bereits 1969 anerkannt und als neurologische Erkrankung eingestuft, nach wie vor gebe es aber Probleme bei der Wahrnehmung im Gesundheitswesen, so Stingl. Häufig werde die Krankheit daher auch falsch als psychosomatische Erkrankung diagnostiziert.

Der ME/CFS-Report weist auf die „belastenden sozialen und medizinischen Situationen“ hin, „da diese Erkrankung in den meisten Fällen zur Berufsunfähigkeit führt und oft nicht erkannt wird“. Schließlich könne ME/CFS „je nach Ausprägung zu einem hohen Grad körperlicher Behinderung bis hin zur Pflegebedürftigkeit führen“.

Doch wie kann man erkennen, dass man selbst betroffen ist? Wenn nach einer Virusinfektion (nicht nur Covid-19, Anm.), einem Infekt oder einem Trauma entweder eine „gesteigerte Erschöpfbarkeit“ vorhanden ist oder sich der Gesundheitszustand nicht normalisiert, „sollte man hellhörig werden“, rät Stingl. „Insbesondere dann, wenn es zu einer Verschlechterung des Zustandes nach oft banaler Aktivität, Problemen mit der kognitiven Funktion oder Problemen mit dem Kreislauf kommt.“

Vorbereitete Tische und Sessel eines Lokals am Wörthersee
APA/Barbara Gindl
„Pacing“ ist das Schlagwort bei der Behandlung – denn wer über seine Grenzen hinausgeht und sich überanstrengt, macht die Krankheit nur schlimmer

Energiemanagement „Pacing“ als Therapieform

Was die Therapie betreffe, so sei der „wichtigste Baustein“ das schonende „Pacing“ – eine Anpassung der Aktivität an die aktuellen Leistungsgrenzen, wie Stingl erklärt. Hierin liege auch genau der Unterschied zu anderen Krankheiten: „Die Fatigue bei Depression, Rheuma oder Multipler Sklerose wird durch leichtes Training oft besser. Bei ME/CFS und auch ‚Long Covid‘ passiert genau das Gegenteil.“

Stingl zufolge bedeute das aber nicht, „dass man den ganzen Tag im Bett liegen muss, sondern, dass Aktivität nur in dem Rahmen erfolgen soll, wo keine Verschlechterung des Zustandes eintritt“. Das Erkennen dieser Grenzen sei „oft nicht ganz einfach“. Dennoch sei es wichtig, Pausen nicht erst dann zu machen, wenn es zu spät ist. Hierbei könnten Hilfsmittel wie Pulsuhren unterstützen.

Langer Weg zurück – wenn überhaupt

„Es geht beim ‚Pacing‘ also vor allem darum, wieder ein Gefühl für den eigenen Körper und seine Grenzen zu bekommen“, so Stingl. Richtig angewandt, könne das zu einer langsamen Besserung des Zustands führen. Bis zur vollständigen Genesung – sollte diese überhaupt eintreten – könne es jedoch mehrere Monate dauern.

Zusätzlich gebe es natürlich eine symptomorientierte Behandlung. Im Report heißt es dazu aber: „Die Symptome können jahrelang bestehen bleiben, und die meisten Patienten und Patientinnen erreichen nie wieder ihr ursprüngliches Gesundheits- oder Funktionsniveau.“

Studie: Impfung auch gegen „Long Covid“-Symptome

Als junger Mensch sei die Wahrscheinlichkeit eine Covid-Erkrankung gut zu überstehen, „wesentlich größer, als dass es hier zu schwerwiegenden Problemen kommt“. Dennoch rechne Stingl „mittelfristig mit sehr hohen Absolutzahlen“ an „Long Covid“ bzw. in weiterer Folge möglicherweise auch an ME/CFS-Betroffenen.

Die gute Nachricht: Neuen Studien zufolge kann eine Covid-19-Impfung auch „Long Covid“-Symptome lindern. Der „Guardian“ berichtete am Dienstag etwa, dass insbesondere mRNA-Impfstoffe hier von Vorteil sein könnten, hätten doch 50 Prozent der Geimpften von einer Verbesserung der Symptome berichtet.

„Zu spät“?

Für den Neurologen Stingl war bereits vergangenen Sommer klar, „was da auf uns zukommen wird. Spätestens im Herbst hätte man auf ‚Long Covid‘ reagieren müssen. Ich fürchte, jetzt kommt diese Information zu spät, da viele es nach einem Jahr Pandemie nicht mehr wirklich ernst nehmen werden“.

Zumindest dürfte „Long Covid“ den Blick der Öffentlichkeit ein wenig auf ME/CFS gerichtet haben, fristete die Krankheit bisher doch eher ein Schattendasein. So bekundete auch Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) kürzlich auf Twitter seine Solidarität mit den Betroffenen und trat für einen „Ausbau der öffentlichen, medizinischen Anlaufstellen, Forschung und ein besseres Krankheits-Bewusstsein“ ein.