EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
Reuters/Olivier Hoslet
Impfpatente aussetzen

EU gibt sich gesprächsbereit

Nachdem sich die USA für ein Aussetzen der Patente für Coronavirus-Impfstoffe ausgesprochen haben, zeigt sich auch die EU kompromissbereit. Man sei offen für eine Debatte über die Patentfrage, so EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Mehrere EU-Staaten spielen eine wichtige Rolle in der Impfstoffproduktion. Sie mahnte aber auch, dass kurzfristig lediglich mehr Export helfe. Auch die Pharmabranche betonte, dass ein Aussetzen der Patente kein rasches Plus an Impfstoff bringen werde.

„Die Europäische Union ist bereit, jeden Vorschlag zu diskutieren, der diese Krise wirksam und pragmatisch angeht“, sagte von der Leyen am Donnerstag. Man müsse sehen, wie der US-Vorschlag diesem Ziel dienen könne. „Kurzfristig rufen wir jedoch alle Länder mit Impfstoffproduktion auf, Exporte zu erlauben und alles zu vermeiden, was Lieferketten stören könnte.“

Von der Leyen betonte in ihrer online übertragenen Rede für eine Konferenz in Italien: „Um es klar zu sagen: Europa ist die einzige demokratische Region der Welt, die Exporte im großen Maßstab erlaubt.“ Bisher seien mehr als 200 Millionen Dosen Coronavirus-Impfstoff in den Rest der Welt geliefert worden. Das sei fast so viel, wie hier in der EU verabreicht worden sei. Die USA exportieren hingegen so gut wie keinen Impfstoff.

USA für Aussetzen von Impfpatenten

Die USA vollziehen im Kampf um die Eindämmung der Pandemie einen Kursschwenk: Wie zahlreiche andere Staaten und Hilfsorganisationen fordert jetzt auch die Regierung von Präsident Joes Biden die Aussetzung von Patenten für CoV-Impfstoff. Damit soll die weltweite Impfstoffproduktion angekurbelt werden.

Das Thema soll jedenfalls auf dem EU-Gipfel in Porto am Freitag und Samstag diskutiert werden. Im Vorfeld sagte etwa Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, er sei „absolut dafür“. In Deutschland waren die Meinungen eher gespalten. Außenminister Heiko Maas (SPD) war offen für den Vorschlag, Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) dagegen bremste.

Die EU-Kommission verwies bisher auf die Komplexität der Produktion von Coronavirus-Impfstoff. Nach Angaben von Kommission und Mitgliedsstaaten würde es auch nach Aufhebung des Patentschutzes noch Monate oder Jahre dauern, bis andere Firmen tatsächlich produzieren könnten.

USA stellten sich hinter Forderungen

Die US-Handelsbeauftragte Katherine Tai hatte am Mittwoch Unterstützung für die Aussetzung von Impfstoffpatenten signalisiert, die viele Länder seit Langem fordern. Die USA stünden hinter dem Schutz geistigen Eigentums, die Pandemie sei aber eine globale Krise, die außerordentliche Schritte erfordere, so Tai. Das Ziel sei, „so viele sichere und wirksame Impfungen so schnell wie möglich zu so vielen Menschen wie möglich zu bringen“. Man werde sich im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) für ein Aussetzen der Patente aussprechen, hieß es. Positive Signale dazu sendeten auch Russland und China. Die Idee verdiene Beachtung, sagte Kreml-Chef Wladimir Putin der Agentur Interfax zufolge.

US-Handelsbeauftragte Katherine Tai
AP/Sarah Silbiger
Handelsbeauftragte Tai verkündete die US-Kehrtwende in der Patentfrage

Mehr als 100 WTO-Mitgliedsländer wollen die Patente aussetzen, damit mehr Firmen in mehr Staaten Impfstoffe herstellen können. Wichtige Herkunftsländer der Pharmaindustrie wie auch die USA blockierten das von Südafrika und Indien angestoßene Vorhaben bisher. Ärmere Staaten werfen den Industrieländern vor, die vorhandene Impfstoffproduktion aufgekauft zu haben und eine Erhöhung der Produktion durch den Schutz der Patente unmöglich zu machen.

Eine schnelle Lösung ist auch auf WTO-Ebene nicht zu erwarten. Denn erstens müssten mehr als 160 Länder zustimmen, dass internationale Copyright-Bestimmungen außer Kraft gesetzt werden. Und zweitens dürfte es ohne Unterstützung der Pharmafirmen kaum gelingen, die komplexen Rezepte der neuartigen Impfstoffe einfach nachzumachen. Die Pharmafirmen und -verbände laufen Sturm.

Pharmafirmen sehen Probleme andernorts

Der Dachverband der Pharmafirmen (IFPMA) kritisierte die Entscheidung der USA. Das werde die Impfstoffproduktion kaum ankurbeln, teilte der in Genf ansässige Verband in der Nacht auf Donnerstag mit. Problem seien vielmehr Handelsbarrieren sowie Mangel an Rohstoffen und Bestandteilen, die für die Herstellung der Impfstoffe nötig seien.

Impfstoffherstellung von BioNTech in Marburg
Reuters/Kai Pfaffenbach
Viele EU-Staaten gehören zu den wichtigsten Impfstoffproduzenten. Im Bild: ein Biontech-Labor in Deutschland.

Bei der Unterversorgung der ärmeren Länder könnten auch Regierungen reicher Länder in die Bresche springen und einen Teil der Impfdosen, die sie sich in bilateralen Verträgen gesichert haben, an ärmere Länder abgeben. Gerade weil ihre Patente geschützt seien, hätten Impfstoffhersteller bereits mehr als 200 Technologietransfer-Abkommen abgeschlossen, um mit Partnern in ärmeren Ländern mehr Impfstoffe bereitstellen zu können.

Der in Mainz ansässige Biontech-Gründer Ugur Sahin sah in der Patentfreigabe keine Lösung: Die Herstellung des Impfstoffs sei kompliziert, und die Qualität müsse sichergestellt werden. Auch eine Sprecherin von Pfizer sagte der „New York Times“, der Impfstoff habe 280 Komponenten von 86 Zulieferern aus 19 Ländern. Um das zu verarbeiten, seien komplexe Spezialanlagen und ausgebildetes Personal notwendig. Vom Pharmaverband IMFPA hieß es: „Selbst wenn die Patente ausgesetzt würden, würde in dieser Pandemie keine einzige zusätzliche Dosis die Menschen erreichen.“

„Kurzsichtige Forderung“

Auch Pharmig, die freiwillige Interessenvertretung der österreichischen Pharmaindustrie, stellte sich gegen den US-Vorstoß. Den Patentschutz auszusetzen sei für die pharmazeutische Industrie kein gangbarer Weg, um die Produktion von Impfstoff anzukurbeln. „Sie trägt nicht dazu bei, dass plötzlich weit mehr Impfstoffe produziert werden können als bisher“, sagte Pharmig-Generalsekretär Alexander Herzog am Donnerstag in einer Aussendung.

Hilfreicher sei das, was die Impfstoffentwickler bereits tun, nämlich mittels Vereinbarungen dafür Sorge zu tragen, ihr Wissen anderen Produzenten zur Verfügung zu stellen, damit auch diese in der Lage sind, einzelne Komponenten der Impfstoffe herstellen zu können. Ein Werk zur Produktion eines Impfstoffes aufzubauen dauere Jahre, brauche entsprechendes Personal und Know-how, so Pharmig. Ähnlich äußerte sich der Verband der österreichischen Impfstoffhersteller (ÖVIH): Die Produktion von Impfstoff sei ein äußerst komplexer Prozess, zu dem wesentlich mehr gehöre als das Patent auf den jeweiligen Impfstoff.

Es gibt aber eine ganze Reihe von Herstellern, die sich die Produktion zutrauen. Die WHO hat bereits eine Plattform für den Technologietransfer speziell für die neuartigen mRNA-Impfstoffe von Biontech und Pfizer sowie Moderna eingerichtet. Dort haben sich schon 50 Interessenten gemeldet, wie der verantwortliche Leiter bestätigt. Die meisten seien aber von Firmen, die um Technologietransfer bitten, oder Einrichtungen, die sich als Trainingszentren bewerben – nur wenige hätten Interesse ausgedrückt, Wissen zu teilen.

Mückstein und Kurz offen für Debatte

Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) zeigte sich auch für „unkonventionelle Wege“ offen, um die weltweite Pandemie so rasch wie möglich einzudämmen. „Die Aufhebung von Patenten kann so ein Weg sein. Allerdings kann das nur mit internationaler Solidarität und Zusammenarbeit funktionieren“, sagte Mückstein gegenüber der APA. „Daher begrüße ich die Initiative der Kommissionspräsidentin in dieser Frage.“

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) zeigte sich offen für eine Debatte über den US-Vorstoß. „Wir unterstützen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und sind offen für Gespräche sowie den WTO-Prozess, den die Amerikaner vorschlagen. Es ist wichtig, dass so viele Menschen wie möglich weltweit so rasch wie möglich geimpft werden, um die Pandemie zu besiegen“, hieß es am Donnerstag dazu aus dem Bundeskanzleramt.

Die SPÖ sprach dagegen von einem „Durchbruch bei den Gesprächen zur internationalen Impfsolidarität“ und forderte von Kurz die Unterstützung des Vorstoßes. SPÖ-EU-Delegationsleiter Andreas Schieder erklärte im Zuge einer Pressekonferenz: „Es wäre sehr sinnvoll, die Patente auszusetzen, auch um einen vermehrten Einsatz im globalen Süden zu gewährleisten. Auch damit nicht weitere Virusvarianten in Umlauf kommen. Auch die EU-Kommissionspräsidentin sollte diesbezüglich aktiv werden.“

Gegen eine Freigabe ist allerdings NEOS: „Patentschutz ist die Voraussetzung dafür, dass Investitionen auch in Zukunft in Innovation fließen“, so NEOS-Gesundheitssprecher Gerald Loacker. Er forderte stattdessen einen Ausbau der Produktion.

WHO sieht „historische Entscheidung“

Begeistert zeigte sich hingegen der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus. Er sprach von einer „historischen Entscheidung“. Hilfsorganisationen, darunter zum Beispiel Ärzte ohne Grenzen, hatten zuvor vehement ein Aussetzen der Patente gefordert.

UNO-Generalsekretär Antonio Guterres sagte, der US-Vorstoß „eröffnet Impfstoffherstellern die Möglichkeit, das Wissen und die Technologie zu teilen, um den effektiven Ausbau örtlich hergestellter Impfstoffe zu ermöglichen“. Es müsse dabei sichergestellt werden, dass den Ländern alle notwendigen Materialien zur Verfügung stünden.

NGOs erfreut

Auch bei Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen stieß die Ankündigung der USA auf Jubel. Seitens Ärzte ohne Grenzen hieß es etwa, dass die Impfstoffhersteller mit Steuergeldern subventioniert worden seien. „Die Früchte von daraus resultierender Forschung müssen mit kompetenten Herstellern geteilt werden“, forderte die NGO.

Der Weltärztebund forderte die Hersteller auf, Patente eigenständig freizugeben. „Die Pharmaindustrie könnte jetzt die ganze Menschheit voranbringen, wenn sie freiwillig auf die Ausübung ihrer Patentrechte für die Impfstoffe verzichtet“, sagte der Vorsitzende Frank Ulrich Montgomery den Zeitungen der Funke Mediengruppe.

Die Kehrtwende der USA setzte die Aktien von Impfstoffherstellern unter Druck. Die Papiere von Biontech verloren am Donnerstag im deutschen Börsenhandel gut zwölf Prozent, die Titel von Curevac büßten mehr als zehn Prozent ein. Bereits am Mittwoch waren die Aktien von Pfizer und Moderna im US-Handel abgerutscht.