Eine Hand auf einer Wand mit einer von Kreide gezeichneten Hand
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Arbeitsmarkt, Armut, Bildung

EU-Gipfel sucht Antworten auf soziale Krise

Beschäftigung, faire Löhne, Anrecht auf Weiterbildung und Gleichbehandlung von Frauen und Männern sind schon als Europäische Säule sozialer Rechte 2017 im Rahmen der EU vereinbart worden. Mit den sozialen Auswirkungen der Pandemie haben diese Fragen noch mehr an Brisanz gewonnen. Vier Jahre später stellen sich die EU-Staats- und -Regierungschefs beim EU-Sozialgipfel am Freitag und Samstag im portugiesischen Porto erneut dieser Diskussion.

Der Gipfel gilt als Herzstück der mit Ende Juni zu Ende gehenden portugiesischen Präsidentschaft und wird der erste „physische“ Gipfel seit Dezember vergangenen Jahres sein. Besonders junge Menschen sollen mit Maßnahmen unterstützt werden, heißt es in einem Entwurf zur Gipfelerklärung. Diese seien durch die Pandemie „sehr negativ getroffen“. Ziel ist, die Umsetzung der Beschlüsse aus dem Jahr 2017 voranzutreiben.

Die Säule sozialer Rechte soll demnach ein „grundlegendes Element“ der wirtschaftlichen Erholung nach der CoV-Krise sein. Niemand solle zurückgelassen werden. Auf dem Gipfel soll ein Aktionsplan zur Europäischen Säule der Sozialen Rechte proklamiert werden. EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit forderte von den EU-Staaten „eine starke politische Botschaft“.

EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit
Reuters/Johanna Geron
EU-Sozialkommissar Schmit fordert von den EU-Staaten „eine starke politische Botschaft“ ein

Keine konkreten Maßnahmen erwartet

Die Auswirkungen der Pandemie seien für Teile der Bevölkerung zu „einer echten sozialen Notlage“ geworden. Zugleich dämpfte Schmit aber auch die Erwartungen an den Gipfel: Es gehe in Porto nicht darum, über „diese oder jene Maßnahme zu entscheiden“. Es gehe um die Erholung der Wirtschaft nach der CoV-Krise und eine „breite Perspektive“ zu Fragen der Sozial- und Arbeitnehmerrechte.

Aktionsplan soziale Rechte

Drei Hauptziele bis 2030:

  • Mindestens 78 Prozent Beschäftigungsquote
  • Fortbildung für mindestens 60 Prozent der Erwachsenen pro Jahr
  • Mindestens 15 Mio. Menschen weniger in Armut lebende und von sozialer Ausgrenzung bedrohte Menschen

2020 lag die Beschäftigungsquote im EU-Durchschnitt laut Eurostat bei 73,9 Prozent (Österreich: 76,7 Prozent). Allein in Österreich waren mehr als 1,4 Millionen Menschen laut Zahlen der Statistik Austria aus dem Jahr 2019 armuts- oder ausgrenzungsgefährdet.

Über die Kompetenzen der EU im Sozialbereich scheiden sich die Geister. Während Portugal und Spanien mehr EU-Engagement begrüßen, stellten andere Länder – darunter Österreich – bereits im Vorfeld klar, dass die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in der EU weiterhin in den Händen der Nationalstaaten liegen müsse.

Uneinigkeit bei „angemessenen Mindestlöhnen“

Neun Länder, darunter Österreich, Ungarn, Dänemark, Schweden, die Niederlande und Malta, warnten in einem Diskussionspapier zur Vorbereitung des Gipfels vor zu weitgehenden Eingriffen. Es müsse sichergestellt sein, dass die nationalen Sozialsysteme weiter funktionieren könnten. Die EU könne hier nationales Handeln nur ergänzen. Uneinigkeit herrscht auch beim Thema „angemessene Mindestlöhne“, die eine von der EU-Kommission im vergangenen Jahr vorgelegte Richtlinie vorsieht. Demnach sollen Geringverdiener überall in der EU mindestens 50 Prozent des Durchschnittslohns im eigenen Land bekommen.

Österreich sieht diesen Vorschlag kritisch, weil er die historisch gewachsene sozialpartnerschaftliche Struktur im Land gefährde, hieß es aus dem Bundeskanzleramt. Die Auswirkungen auf die österreichische Lohnfestsetzung seien nicht absehbar. Der Vorschlag stehe außerdem nicht in Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip und der Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedsstaaten. Österreich setzt sich daher für eine Empfehlung statt einer Richtlinie ein. Das könnte den Mitgliedsstaaten die notwendige Flexibilität geben.

Eine Straßenbahn fährt in Porto am Gebäude, in welchem der Sozialgipfel der EU stattfindet, vorbei
Reuters/Violeta Santos Moura
Der EU-Gipfel in Porto wird erstmals seit Dezember nicht als reine Videoveranstaltung abgehalten

Gipfel ohne Sozialminister Mückstein

Während die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU) aufgrund der CoV-Lage in Deutschland nur per Video an dem Gipfel teilnehmen wird, werden für Österreich Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und ÖVP-Arbeitsminister Martin Kocher selbst nach Porto reisen. Kocher hatte zuvor ebenfalls kundgetan, dass er der geplanten EU-Richtlinie skeptisch gegenüberstehe – im Gegensatz zu Gewerkschaften und SPÖ. Diese fordern eine verbindliche Mindestlohnrichtlinie als Maßnahme gegen Lohndumping. Diese Richtlinie schaffe nur einen Rahmen, die Lohnniveaus würden den Lohnverhandlern in den EU-Staaten überlassen.

Auch SPÖ-Europasprecher Jörg Leichtfried kann die Argumentation aus dem Bundeskanzleramt nicht nachvollziehen. Es gehe nicht um konkrete Beträge für einen Mindestlohn, sondern um einen verbindlichen Rahmen für gerechte Löhne. Die SPÖ kritisiert zudem, dass Gesundheits- und Sozialminister Wolfgang Mückstein (Grüne) nicht nach Porto fahren wird.

SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner und SPÖ-EU-Delegationsleiter Andreas Schieder forderten am Donnerstag eine Umsetzung der Mindestlohnrichtlinie. Der Wiederaufbau eines „wirtschaftlich starken und sozial gerechten Europas“ müsse mit „mehr Steuergerechtigkeit“, „höheren Löhnen“ und „Zukunftsinvestitionen“ einhergehen, so Rendi-Wagner und Schieder. Sie forderten eine umfassende Digitalsteuer.

Mückstein für EU-Mindestlohn-Richtlinie

Im Gegensatz zu Kurz und Kocher sprach sich Mückstein vorab jedoch sehr wohl für die EU-Mindestlohn-Richtlinie aus. In einem offenen Brief mit grünen Ministern in Irland, Luxemburg, Finnland und Belgien zum bevorstehenden Sozialgipfel in Porto unterstützt Mückstein die Forderung, dass alle Arbeitnehmer „über die EU-Mindestlohn-Richtlinie für ihre Arbeit angemessen entlohnt werden“.

Der EU-Sozialgipfel in Porto müsse anerkennen, „dass soziale und ökologische Nachhaltigkeit komplementäre Ziele sind“, heißt es in dem offenen Brief weiter. Die grünen Minister fordern auch, dass sich die Europäische Union das Ziel setzt, Obdachlosigkeit bis spätestens 2030 zu beenden. „Mit mindestens 700.000 Menschen in der Europäischen Union, die nicht einmal ein Zuhause haben, müssen ehrgeizige Schritte gesetzt werden“, heißt es in dem Schreiben.

SPÖ: Mückstein von Gipfel „ausgesperrt“

Weitere Forderungen der Grünen umfassen gleichen Lohn durch eine Lohntransparenzinitiative, die Ratifizierung der Istanbul-Konvention zur Gewalt gegen Frauen, den Einsatz gegen Kinderarmut, Maßnahmen gegen Lohndumping in der EU und gemeinsame europarechtliche Schritte sowie verbindliche Ziele für öffentliche Investitionen in erschwinglichen Wohnraum und Mietkontrollen.

Die SPÖ bezeichnete die türkis-grünen Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf den EU-Sozialgipfel als „Farce auf dem Rücken europäischer Arbeitnehmerinnen“. SPÖ-Bundesgeschäftsführer Christian Deutsch sprach in einer Aussendung am Freitag von einer „türkis-grüne(n) Kindergartenpartie, die sich Bundesregierung nennt“. „Zuerst sperrt die ÖVP den grünen Sozialminister Mückstein vom EU-Sozialgipfel aus. Dann richtet dieser dem türkisen Kanzler von Wien nach Porto aus, dass Österreich eine zynische und arbeitnehmerfeindliche Position vertritt“, kommentierte Deutsch die Vorgänge aus Sicht der größten Oppositionspartei.