Kinder in einem SOS-Kinderdorf.
AP/Brennan Linsley
In Afrika und Asien

Gewalt, Missbrauch in SOS-Kinderdörfern

In 20 Ländern in Afrika und Asien sollen in Einrichtungen von SOS-Kinderdorf betreute Kinder und Jugendliche Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch geworden sein – und das offenbar teils über viele Jahre. SOS-Kinderdorf Österreich machte den Skandal am Donnerstag selbst publik und zeigte sich tief betroffen. Eine „schonungslose Aufarbeitung“ sowie ein Entschädigungsfonds wurden angekündigt.

Eine unabhängige Kommission unter der Leitung der ehemaligen steirischen Landeshauptfrau Waltraud Klasnic (ÖVP) soll die Vorwürfe aufarbeiten. Außerdem soll es zu Misswirtschaft gekommen und Gelder veruntreut worden sein. SOS-Kinderdorf-Geschäftsführerin Elisabeth Hauser berichtete von „schwerem Fehlverhalten von Mitarbeitern“.

Kindern sei „Gewalt angetan worden, bis hin zu sexuellem Missbrauch“, sagte sie. Sie versicherte eine „schonungslose und transparente Aufarbeitung“ der Vorfälle. Welche Länder genau betroffen sind, gab sie aber ebenso wenig bekannt wie die Zahl der bisher bekannten Opfer. Das müsse erst alles im Detail geprüft werden. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen „dürfte sich sehr klein halten“, sagte Hauser.

Erste Untersuchung begann vor drei Jahren

Mit einer ersten Untersuchung sei bereits vor drei Jahren begonnen worden, die nunmehrigen Unterlagen gehen auf eine Überprüfung vom November 2020 zurück. Die Vorfälle würden sie erschüttern, es sei „eklatant gegen Werte und Standards verstoßen“ worden, sagte Hauser.

Mitarbeiter in den einzelnen Ländern, die die Vorfälle ansprachen, wurden laut der Geschäftsführerin „rausgedrängt, und den Kindern wurde nicht geglaubt“. Es sei eine „untragbare Situation“. Die Vorfälle reichen „bis in die 90er Jahre oder in die jüngere Vergangenheit zurück“, sagte Hauser. Jeder einzelne Fall sei einer zu viel.

Kind wegen mangelnder Leistung eingesperrt

Als Beispiel führte sie an, ein Kind, dessen Leistungen in der Schule sich verschlechtert hätten, sei eingesperrt worden und habe die eigenen Eltern nicht mehr besuchen dürfen. Für die Opfer wurde ein Entschädigungsfonds eingerichtet – „in Millionenhöhe“.

Außerdem sollen Mitarbeiter von SOS-Kinderdorf International Geld veruntreut haben. Hier nannte Hauser als Beispiel, dass bei Vergabeverfahren Bauprojekte in der Verwandtschaft in Auftrag gegeben wurden. „Wir werden das prüfen, ob österreichische Spendengelder veruntreut wurden“, sagte sie auf entsprechende Nachfrage.

Klasnic: Personelle Konsequenzen, Anzeige als erster Schritt

Um alle Vorwürfe aufzuarbeiten, wird die ehemalige steirische Landeshauptfrau und Leiterin der Unabhängigen Opferschutzkommission (UOK) der katholischen Kirche, Klasnic, eine unabhängige Kommission einrichten. Sie spüre Willen und Wollen von SOS-Kinderdorf, „alles zu tun, dass Ordnung hergestellt wird“, sagte sie.

Einige Unterlagen habe sie schon gesichtet, kommende Woche soll sich die Kommission konstituieren. „In einem ersten Schritt muss rasch festgestellt werden, in welchen Fällen personelle Konsequenzen gezogen oder strafrechtliche Ermittlungen angestoßen werden müssen“, sagte die 75-Jährige.

„In einem zweiten Schritt werden wir klare strukturelle Empfehlungen zur Veränderung der Organisation erarbeiten, sodass sich die Organisation nachhaltig strukturell und regulatorisch verändern und vergleichbare Missstände in Zukunft rasch identifizieren, aufklären und nötigenfalls sanktionieren kann“, erläuterte Klasnic.

Hauser will sich an Empfehlungen halten

„Wir setzen uns für einen schonungslosen Veränderungsprozess der gesamten Organisation ein und werden uns an die definierten Kriterien und Empfehlungen der Kommission verbindlich halten“, sagte Hauser. „Wenn einzelne Länderorganisationen diesen Weg nicht mitgehen, halten wir uns die Möglichkeit offen, ihnen in allerletzter Konsequenz das Recht, unter dem Namen von SOS-Kinderdorf zu arbeiten, zu entziehen.“

Dachorganisation soll teils Aufarbeitung behindert haben

SOS-Kinderdorf ist weltweit als Föderation organisiert, unter dem Dach von SOS-Kinderdorf International. Die SOS-Kinderdorf-Organisationen in den einzelnen Ländern können sehr autonom entscheiden und handeln. „Das ist grundsätzlich auch sinnvoll. Allerdings wurde das Gleichgewicht zwischen Autonomie und Verantwortung in einzelnen Ländern nicht so gelebt, wie es den strengen Richtlinien von SOS-Kinderdorf entspricht. Hinzu kommt, dass es auch in der Struktur der Dachorganisation SOS-Kinderdorf International offensichtlich Mängel gibt. Es gibt auch Vorwürfe, dass Führungskräften von SOS-Kinderdorf International ein Teil der Vorfälle bekannt war und die Aufarbeitung und Verfolgung unterdrückt wurde“, sagte Hauser.

Ob es gegen Mitarbeiter bereits personelle Konsequenzen gegeben hat, „kann ich im Einzelfall nicht sagen“. Das müsse jetzt untersucht werden. SOS-Kinderdorf International habe ebenfalls bereits Schritte gemacht. Eine „Special Commission“ soll die Vorfälle prüfen. Die Klasnic-Kommission hat bereits eine E-Mail-Adresse eingerichtet, an die sich Menschen wenden können, um Vorfälle bei SOS-Kinderdorf außerhalb von Österreich zu melden: klasnic@childprotection.at.

Gewaltfälle auch in Österreich

Auch im Gründungsland Österreich wurden Kinderrechte verletzt und Gewalt angewendet. 2014 erschien das Buch „Dem Schweigen verpflichtet. Erfahrungen mit SOS-Kinderdorf“ des Tiroler Historikers Horst Schreiber. Die Studie arbeitete gewaltbesetzte Vorfälle bei SOS-Kinderdorf in Österreich auf.