Polizeieinsatz in Rio
AP/Silvia Izquierdo
Razzia in Rio de Janeiro

Polizei werden „Exekutionen“ vorgeworfen

In Brasiliens Metropole Rio de Janeiro ist einmal mehr ein Polizeieinsatz in einer Favela, der sich vorgeblich gegen Drogenhändler richtete, offenbar völlig ausgeartet. 25 Menschen wurden bei der Schießerei getötet, unter ihnen ein Polizist. Die Bewohnerinnen und Bewohner werfen den Einsatztruppen Misshandlungen und „Exekutionen“ vor. Auch das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte kritisierte den Polizeieinsatz scharf.

Es war die tödlichste Polizeioperation in der Geschichte der Stadt. Laut Anrainern erschoss die Polizei Verdächtige, die sich ergeben wollten, und drang ohne Durchsuchungsbefehl in Häuser ein. Die Polizei dagegen dementierte laut BBC jedes Fehlverhalten und betonte, die Einsatzkräfte hätten sich nur selbst verteidigt.

Große Teile von Rio, einer der Städte mit der höchsten Gewaltrate des Landes, befinden sich unter Kontrolle krimineller Organisationen, viele von ihnen mit Verbindungen zur mächtigen Drogenmafia. Sicherheitskräften wird häufig unverhältnismäßige Gewaltanwendung vorgeworfen.

200 Polizisten und Scharfschütze in Helikopter

Beim Einsatz in einer der größten Favelas der Stadt, Jacarezinho, waren rund 200 Polizisten im Einsatz, dazu ein Helikopter mit Scharfschütze. Jacarezinho wird von einer der größten brasilianischen Verbrecherbanden, Comando Vermelho (Rotes Kommando), beherrscht.

Mahnwache für Tote Zivilisten bei Polizeieinsatz in Rio
Reuters/Ricardo Moraes

Ein TV-Helikopter filmte schwer bewaffnete Verdächtige, die von Häuserdächern sprangen, während verzweifelte Anrainer Videos von den heftigen Schusswechseln auf Sozialen Netzwerken posteten und der Polizei vorwarfen, unerlaubt in ihre Häuser einzudringen und exzessiv Gewalt anzuwenden.

Liveberichte von Anrainern

„Da sind Burschen, die in einer Ecke des Hauses zusammengedrängt wurden und sich ergeben wollen“, sagte ein Anrainer. „Und die Polizei will sie ermorden. Sie haben sogar mehrere vor unseren Augen getötet.“ In einem anderen Video filmte ein Anrainer einen Polizisten bei einem Haus und sagte: „Sie drängen (die Verdächtigen, Anm.) zusammen. Sie wollen den Burschen nicht erlauben, sich zu ergeben.“

Die Staatsanwältin Maria Julia Miranda schilderte, Anrainer hätten ihr gesagt, ein Verdächtiger sei im Zimmer eines achtjährigen Mädchens getötet worden. Blutspuren hätten sich auf dem Boden und im Bett des Mädchens befunden, und die Familie habe die mutmaßliche Hinrichtung mitansehen müssen.

Polizeieinsatz in Rio
Reuters/Ricardo Moraes
Eine Frau und ein Bub beobachten einen Soldaten während der Razzia

„Riesige Blutlachen“

Miranda sagte, sie sei schockiert gewesen, „riesige Blutlachen (…) und Einschüsse an den Wänden“ zu sehen, als sie die Favela nach der Razzia besuchte. Es gebe auch Hinweise darauf, dass Tatorte von Tötungen nicht gesichert und Leichen entfernt wurden. „In diesen Fällen gab es wahrscheinlich Hinrichtungen.“

Menschenrechtsgruppen, unter ihnen Amnesty International, erhielten laut eigenen Angaben Berichte und Fotos von Bewohnern der Favela. Laut den Berichten drangen Polizisten in ihre Häuser ein und töteten Menschen, die bereits keine Gefahr mehr darstellten. Brasiliens Amnesty-International-Chef Jurema Werneck sprach von einem „Massaker“.

Das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR) forderte eine unabhängige Untersuchung. Es sprach von einem „lang andauernden Trend zu unnötiger und unverhältnismäßigen“ Polizeieinsätzen vorwiegend in armen Wohnvierteln. Die staatlichen Institutionen schafften es nicht, diese „wirklich verstörenden, überzogenen, tödlichen Operationen“ zu stoppen. „Da läuft ganz eindeutig etwas schief“, so OHCHR-Sprecher Rupert Colville.

Polizeieinsatz in Rio
Reuters/Ricardo Moraes
Die Polizei präsentierte nach der Razzia sichergestellte Waffen und Drogen

Auch ein Polizist wurde erschossen

Unter den 25 Toten befindet sich auch ein Polizist. Er wurde durch einen Schuss in den Kopf getötet, als er eine von Kriminellen errichtete Straßensperre beseitigen wollte. Vizepolizeichef Rodrigo Oliveira verteidigte den Einsatz. „Die einzige Hinrichtung, die stattfand, war jene des Polizisten.“

Anwohner luden in Onlinenetzwerken auch Videos von Explosionen und schweren Gefechten hoch. Mindestens zwei Passagiere einer U-Bahn gerieten in die Schusslinie und wurden verletzt, wie die Nachrichtenwebsite G1 berichtete. Die Razzia richtete sich gegen Drogenhändler, die beschuldigt werden, Minderjährige für ihre illegalen Aktivitäten zu rekrutieren.

Polizeieinsatz in Rio
Reuters/Ricardo Moraes
Ein Polizist während der Razzia

Vorwurf des Rassismus

Menschenrechtsaktivisten kritisierten den Einsatz nicht nur als unverhältnismäßig, sondern sehen diesen auch rassistisch begründet: „Wer sind die Toten? Junge Schwarze. Deswegen spricht die Polizei von ‚24 Verdächtigen‘“, sagte die Leiterin des Netzwerks der Beobachtungsstellen für öffentliche Sicherheit an der Universität Candido Mendes, Silvia Ramos. Die Behörden würden „Leichen anhäufen“ und ständig sagen: „Das sind Kriminelle.“

Nach Angaben der Menschenrechtsgruppe Instituto Fogo Cruzado (Kreuzfeuer-Institut), die Daten zur Waffengewalt in Brasilien sammelt, war es der tödlichste Einsatz seit Gründung der NGO vor fünf Jahren. Das brasilianische Verfassungsgericht hatte kürzlich entschieden, dass solche Polizeieinsätze während der Coronavirus-Pandemie nur unter „außergewöhnlichen Umständen“ zulässig seien.