Schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon
APA/AFP/Andy Buchanan
Schottland-Wahl

Zündstoff für Debatte über Unabhängigkeit

Mit dem Sieg bei der Parlamentswahl in Schottland erhöht die regierende SNP den Druck auf London für ein neues Unabhängigkeitsreferendum. Regierungschefin Nicola Sturgeon kündigte an, eine Volksabstimmung voranzutreiben. Zwar reichte es für die SNP knapp nicht für eine Absolute, doch spielen den Unabhängigkeitsbefürwortern die Zuwächse der Grünen in die Hände.

„Absolut niemand hätte das Ausmaß und die Rekordhöhe unseres Sieges bei dieser Wahl vorhergesagt“, sagte die SNP-Vorsitzende Sturgeon Samstagabend mit dem Blick auf leichte Zuwächse. Sie erneuerte ihre Forderung, dass London einem Referendum zustimmen müsse. Premierminister Boris Johnson drohe ein „Kampf mit den demokratischen Wünschen des schottischen Volkes“, wenn er versuche, eine Abstimmung zu blockieren, sagte Sturgeon.

An den britischen Premier gerichtet sagte sie: „Sie werden keinen Erfolg haben. Die einzigen Menschen, die über die Zukunft Schottlands entscheiden können, sind die Schotten.“ Der Zeitpunkt eines Referendums sei Sache des schottischen Parlaments und „keine Entscheidung von Boris Johnson oder irgendeinem Politiker in Westminster“. Das britische Parlament hat seinen Sitz im Londoner Bezirk Westminster.

SNP schrammte knapp an Absoluter vorbei

Laut Angaben der Wahlkommission in Edinburgh kam die SNP auf 64 Sitze, für eine „Absolute“ wären 65 der 129 Sitze nötig gewesen. Das schottische Wahlsystem erschwert eine absolute Mehrheit, da schwächere Parteien Ausgleichsmandate erhalten. Doch kommen dem Anliegen der SNP die Zugewinne der Grünen zugute, die sich ebenfalls für eine Loslösung von Großbritannien aussprechen. Die Grünen erhielten acht Mandate. Die Konservativen wurden mit 31 Mandaten zweitstärkste Partei.

Stimmenauszählung
Reuters/Russel Cheyne
Pandemiebedingt dauerte die Auszählung länger

Johnson: „Unverantwortlich und rücksichtlos“

Johnson lehnte ein neues Referendum ab: Eine Volksbefragung sei „unverantwortlich und rücksichtlos“, sagte Johnson der Zeitung „Daily Telegraph“ (Samstag-Ausgabe). „Jetzt ist nicht die Zeit, verfassungsrechtliche Auseinandersetzungen zu führen und darüber zu sprechen, unser Land auseinanderzureißen, wenn es den Menschen doch vielmehr darum geht, unsere Wirtschaft zu heilen und gemeinsam voranzukommen.“

Ohne Zustimmung aus London – so die Meinung der meisten Expertinnen und Experten – wäre ein Referendum nicht rechtens. Doch das Ergebnis der Parlamentswahl könnte den Druck auf Johnson erhöhen, eine erneute Volksabstimmung zuzulassen. Die Grünen bekräftigten bereits ihre Unterstützung für die Unabhängigkeit, Koalitionsgespräche gebe es aber noch nicht.

Johnson kein „Lehensherr Schottlands“

Ein Nichterreichen der „Absoluten“ werde in der Debatte über eine Volksabstimmung Johnson in die Hände spielen, sagten britische Medien bereits im Vorfeld der Verkündung des Resultats. Hingegen betonen die SNP sowie parteinahe Expertinnen und Experten, dass nicht das SNP-Ergebnis allein entscheidend sei. „Boris Johnson ist nicht irgendeine Art Lehensherr Schottlands“, sagte Vizeregierungschef John Swinney. Er verwies auf die Wichtigkeit einer Mehrheit im Parlament.

Aufgrund der Pandemie hatte die Auszählung der Abstimmung vom Donnerstag erst am Freitag begonnen und war über Nacht unterbrochen worden. Dominierendes Wahlkampfthema war die Unabhängigkeit. Der renommierte Wahlforscher John Curtice beobachtete taktische Abstimmungen in mehreren Wahlkreisen: Dort hätten Anhänger einer Union mit Großbritannien oft nicht für ihre eigentliche Partei gestimmt, sondern für den Vertreter der Unabhängigkeitsgegner mit der größten Siegeschance. Die Wahlbeteiligung war mit mehr als 63 Prozent so hoch wie nie zuvor.

SNP peilt ein Referendum bis Ende 2023 an

Möglicherweise entscheidet schließlich der Oberste Gerichtshof über ein Referendum. Sturgeon bekräftigte im Sender Channel 4, sie werde ein Gesetz für eine neue Volksabstimmung einbringen. „Wenn Boris Johnson das stoppen will, muss er vor Gericht gehen. In fast jeder anderen Demokratie wäre das eine absurde Debatte. Falls die Menschen in Schottland für eine Prounabhängigkeitsmehrheit im schottischen Parlament gestimmt haben, hat kein Politiker das Recht, dem im Wege zu stehen.“ Die SNP peilt ein Referendum bis Ende 2023 an.

Die britische Regierung betonte, die Unabhängigkeitsfrage sei 2014 geklärt worden. „Es wäre unverantwortlich, ein weiteres Referendum und eine weitere Debatte über die Verfassung zu führen, wenn wir uns auf den Weg aus dieser Pandemie machen und uns auf die wirtschaftliche Erholung konzentrieren sollten“, sagte Kabinettsmitglied George Eustice dem Sender Times Radio. Die SNP beharrt hingegen darauf, dass sich die Ausgangslage durch den Brexit verändert habe. Die Schottinnen und Schotten hatten einen EU-Austritt mehrheitlich abgelehnt, wurden aber überstimmt.

„Dazu wird es nicht kommen“

„Dazu wird es nicht kommen“, sagte auch Staatsminister Michael Gove am Sonntag im Sender Sky News auf die Frage nach einem erneuten Referendum. Gove vermied aber eine klare Antwort auf die Frage, ob die Regierung vor Gericht ziehen würde, um eine Volksabstimmung zu verhindern. Solche Spekulationen seien „nichts anderes als massive Ablenkung“, sagte der Vertraute von Premierminister Johnson.

Gove forderte, die britische und die schottische Regierung sollten sich auf „die Dinge konzentrieren, die uns einen,“ anstatt verfassungsrechtliche Auseinandersetzungen zu führen. „Wenn wir in Debatten über Referenden und Verfassungen verwickelt werden, lenken wir die Aufmerksamkeit von den Themen ab, die für die Menschen in Schottland und im gesamten Vereinigten Königreich am wichtigsten sind“, so Gove.