Wenn die ganze Welt eine Waldorfschule wäre, dann wäre der Rudolf-Steiner-Adept Beuys ihr Schuldirektor – und mitten drinnen: „Fettecke“, „Friedenshase“ und „Honigpumpe“. Wie wenigen Künstlern vor ihm war es Beuys gelungen, den Kunstdiskurs so zu verbreitern und damit auch alle zu meinen, sodass es erst recht unverständlich wurde. Jeder sollte Künstler sein (können), lautete eine seiner Maximen um die Demokratisierung der Kunst, die ohne eines nicht auskam: den Priester in der Mitte. Beuys, der vor 100 Jahren in Krefeld geboren wurde, dem katholischen Milieu entstammte und sich sehr früh für die Kunst interessierte, hatte wie wenige ein Bewusstsein von der Ikonografie des Künstlers, wenn er vor allem öffentliche Debatten anstoßen wollte.
Beuys, das war der Mann mit dem Hut, der Mann mit der Fischerweste, der ewige Diskutierer und Kettenraucher, der „kein Weekend“ kannte und sich so hielt, wie eines seiner Multiples, eine Wursttasse aus Papier, hieß: „Ich ernähre mich durch Kraftvergeudung.“ In 510 Interviews hat sich Beuys erklärt, mystifiziert – und immer auch verwirrt, als er von einem neuen Menschen träumte, einer neuen demokratischeren Gesellschaft, „jenseits von Kapitalismus und Marxismus“, aber auch von einem Europa, das, wie er sagte, nur an seiner „Wunde in der Mitte“, gemeint wohl die deutsche Teilung, genesen könne. Vielleicht war er, um es den Jüngeren heute zu vermitteln, ein Banksy des Guten, der immer eine Spur zu viel Sakralität in all seinen Performances auftrug. Und mitunter so viel redete, dass selbst Banalitäten wie Fragestellungen klangen.

Faszinierende, rätselhafte Welt
„Er eröffnete uns eine rätselhafte Welt voller unansehnlicher, schlecht riechender Materialien – Filz, Fett, Kupfer, Eisen“, skizzieren die heute weltberühmten Schweizer Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron ihre Begegnung mit Beuys im Basler Künstlerumfeld 1978 und bringen Faszination und Grenzgängertum dieses letztlich nie greifbaren Rastlosen auf den Punkt: „Wir waren fasziniert von der Mischung aus Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, Religion, Bildhauerei, Malerei, Medizin, aus Schönheit und Hässlichkeit.“
„Club 2“: Kunst oder Schwindel?
Einen legendären „Club 2“ gab es im Jänner 1983 zum Thema „Kunst oder Schwindel?“ Der Autor und Theologe Adolf Holl debattierte mit den Künstlern Joseph Beuys und Peter Weibel, dem Komponisten György Ligeti sowie den Kunstexpertinnen Hildegard Fässler und Annelie Pohl über die Wahrnehmung von Kunst.
Vielleicht brachte gerade erst Beuys das zu Bewusstsein, was Walter Benjamin vor ihm die Aura des Kunstwerks nannte. Obwohl ja Beuys die Grenzen öffnen, das Sehen schulen und die Kunst nicht als Werkstück, sondern als einen Prozess betrachten wollte. Wer sich Keilrahmen und Farbe kaufen ging, der hatte bei Beuys, so formulierte er es ja selbst, „schon verloren“. Oder war der Kunst verloren gegangen.
Seine Biografie sollte, wie man es in diesen Tagen gerne nennt, ebenfalls als Werkstück betrachtet werden. So sprach Beuys über seine Nazi-Vergangenheit und Beteiligung am Zweiten Weltkrieg, mitunter tat er das mystifizierend, teilweise aber auch sehr allgemein und für viele Kritiker zu unpräzise. Virulent wurden die Fragen zu seiner Vergangenheit besonders rund um die vielbeachtete Beuys-Schau im Guggenheim-Museum in New York 1979.
Zäsurerfahrung Krieg
Ein Jahr später bezeichnete Beuys in einem Interview mit Andre Müller den Punkt, an dem er sein Kunstschaffen starten habe müssen – und als Punkt benennt er die Zäsurerfahrung des Krieges: „Eigentlich ist dieser Schock nach Ende des Krieges mein Urerlebnis, mein Grunderlebnis, was dazu geführt hat, dass ich überhaupt begonnen habe, mich mit Kunst auseinanderzusetzen, also mich im Sinn eines radikalen Neubeginns wieder zu orientieren.“ Schuldgefühle habe er keine in Bezug auf seine Beteiligung des Krieges aufseiten der Nazis, sehr wohl „fühlte ich mich verantwortlich“.

Beuys benannte früh in einer Arbeit der späten 1950er Jahre die Folgen des Holocaust, ohne freilich von einer Singularität der Schoah (die man begrifflich erst ab den 1980er Jahren als solche benannte) auszugehen. Beuys’ „Auschwitz Demonstration“ (1956–63) gehörten ebenso wie Gerhard Richters „Tante Marianne“ (1965), so schreibt Philip Ursprung in seiner aktuellen Beuys-Monografie, „zu den wenigen Kunstwerken der BRD (in dieser Zeit, Anm.), die das Leid der Häftlinge in den Konzentrationslagern direkt oder indirekt thematisieren“.
Im Umgang mit seiner eigenen Rolle in der Nazi-Zeit neigte Beuys zur Selbstmystifizierung. Rührte also seine Leidenschaft für Filz und Fett aus der Erfahrung nach dem Abschusses seiner Junkers JU-87 über der Krim, die Beuys mit der nie belegten Erzählung über die Pflege in Zelten von Krimtataren und den dort herrschenden Gerüchen und Gebräuchen garnierte? War es nicht Beuys, der permanent die Grenze zwischen Leben und Werk niederriss und überschritt, in dem er seine Studenten mit ins Arbeits- und Wohnzimmer nahm?

Beuys-Business 2021
Gerade zum Beuys-Geburtstag blüht das Beuys-Business, sind die Beuys-Multiples, die einst in hohen Serien über die Welt verstreut wurden, zu kostbaren Sammlerstücken geworden. Und es blüht das gerade beim Gedenkweltmeister Deutschland florierende Business der Aufarbeitung, die sich nicht selten als Abrechnung versteht. Kann man Beuys noch ausstellen? Warum hat Beuys selbst bei Einladungen und Performances nicht die Biografie von Mitstreitern, die wie er eine Nazi-Geschichte hatten, hinterfragt? Ist seine Werkstoff-, Filz- und Fettästhetik nicht zutiefst von einer Nazi-Ästhetik durchtränkt?
Sendungshinweis
Das Ö1-Kulturjournal widmet sich am Mittwoch um 17.09 Uhr dem Werk von Joseph Beuys. Am 1. Juni um 18.30 Uhr wird ein Ö1-„Artist-Talk“ mit Jonathan Meese zu Beuys aus dem Belvedere 21 gesendet – mehr dazu in oe1.ORF.at.
Beuys begeisterte sich an der Materialität der künstlerischen Kommunikation und ließ das Material selbst Geschichten erzählen: Gestapelte Zeitungen erzählen etwa von gelagerter Zeit und handeln von dem schwer Darstellbaren. Das Widerstreiten von Materialien wie Fett und Filz wiederum von Energie. Beuys erweiterte den Begriff des Kunstwerks um neue Fragestellungen, die vom Werk ausgehen konnten – aber immer auch die Teilnahme von Menschen brauchten. Bisherige Kunstformen wie Kinetismus, Fluxus und Landart griff Beuys auf für die Fortsetzung seines Spiels vom Fragestellen.
Auf seinem letzten documenta-Auftritt kam Beuys auch nicht mit Exponaten an, sondern seinem „Büro“, das er für den Diskurs über das Wesen der Demokratie nutzte. Bis zu sechs Teilnehmer konnten über 100 Tage hinweg mit Beuys über die Zukunft der Gesellschaft diskutieren. Er selbst tat das, wie vieles, bis zur Erschöpfung – oder eben aus Kraftvergeudung.

Beuys trat wie viele seiner Generation gerade in den 1950er und 1960er Jahren an, aus dem Mief und der Verfestigung der Gesellschaft und ihrer starren Konventionen auszubrechen. Seine Berufung als Professor an der berühmten Düsseldorfer Kunstakademie reizte Beuys so aus, um die Institution der Kunstakademie zu sprengen – später rief er die „Free International University“ ins Leben – und den damaligen österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky zu überzeugen zu suchen, doch ein übernationales Außenministerium einzurichten.

Philip Ursprung: Joseph Beuys. Kunst. Kapital. Revolution. C. H. Beck, 336 Seiten, 29,95 Euro.
Der Priester als Revolutionär
Beuys’ Ansatz, die Probleme der modernen Gesellschaft aus der Sicht des Künstlers zu bewerten und zu beheben, war so provokant wie letztlich folgenlos, wie der Kunsthistoriker Beat Wyss 2008 in einem viel diskutierten Beitrag im „monopol“ auf den Punkt brachte: „Mit seiner Fantasieuniform tritt der Akademieprofessor in Düsseldorf auf den Plan und trifft in der Hitze der Studentenbewegung auf ein kollektives Unbewusstes, das ihn sofort versteht. Der Künstler als Priester, ein eigentlich veralteter Topos aus dem romantischen 19. Jahrhundert, wurde über die paramilitärische Semantik der Kleidung wieder aktuell.“
Beuys habe „den individuelle Künstlerhabitus und die allgemeine Rhetorik der Revolution“ verschränkt: Resultat sei das autonome Polit-Kunst-Happening, jenes Paradox, wonach die Revolution, Inbegriff einer kollektiven Tat, sich zur symbolischen Handlung verwandelt, die auf gesellschaftlicher Ebene folgenlos bleibe. Der symbolische Handlungsraum der Kunst bleibe „eine geschützte Werkstatt für den Laiendiskurs über Gott und die Welt“. Am Ende stehe eine freie Kommunikation von Beobachtung – das sei „der Sinn der ganzen Veranstaltung und zugleich ihre nicht übersteigbare Grenze“.
Dass Beuys mit seiner Betonung des „Volkskörpers“ und seinen Materialschlachten „der ewige Hitlerjunge“ geblieben sei, klingt verführerisch, geht aber am Kern seiner Arbeiten vorbei. Manche von ihnen fallen aus der heutigen Zeit, manche laden sich mit neuen Bezügen auf. Wie sehr Beuys’ Kunst für sich steht, kann man an einer überschießenden Zahl an Ausstellungen im deutschsprachigen Raum ausmachen. Den Zugang zu Beuys kann jede(r) für sich selbst leicht finden – auch ohne toten Hasen in der Hand.