Zusammenstöße zwischen Palästinenser und israelischen Militärs in der Al Aqsa Moschee
AP/Mahmoud Illean
Nahost

Gewalt droht außer Kontrolle zu geraten

Die Gewalt in Nahost droht außer Kontrolle zu geraten. Militante Palästinenser im Gazastreifen setzten am Dienstag ihre Raketenangriffe auf Israel fort und weiteten sie nach Norden aus. Israel hatte in der Nacht mit Luftangriffen darauf geantwortet. Die Polizei meldete erneut gewaltsame Demonstrationen im ganzen Land.

Im Süden Israels wurden zwei Frauen durch Raketen aus dem Gazastreifen getötet. Wie der israelische Rettungsdienst Roter Davidstern mitteilte, starben die beiden 65 und 40 Jahre alten Frauen am Dienstag in der Küstenstadt Aschkelon. Ein Sprecher machte den Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen für die Todesfälle verantwortlich.

Nach Angaben der Armee ertönten Dienstagmittag auch in der Hafenstadt Aschdod Warnsirenen. Die Polizei suchte nach Orten, an denen Raketen eingeschlagen sein sollen. Die Al-Kassam-Brigaden, der militärische Flügel der im Gazastreifen herrschenden, islamistischen Hamas, bekannten sich zu den Angriffen. Ein Hamas-Sprecher sagte, die Raketen seien eine „Botschaft“ an den Feind Israel.

Tel Aviv stellt öffentliche Schutzräume bereit

Seit Montagabend seien mehr als 200 Raketen aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert worden, sagte ein israelischer Armeesprecher Dienstagfrüh. In den vergangenen 18 Stunden entspreche das im Schnitt einer Rakete alle drei Minuten. Die Erfolgsquote des Abfangsystems „Eisenkuppel“ liege bei über 90 Prozent. Rund ein Drittel aller abgefeuerten Raketen sei bereits im Gazastreifen niedergegangen.

Rakete eines Verteidigungssystems startet in Israel
APA/AFP/Jack Guez
Start einer Rakete des israelischen Abwehrsystems „Eisenkuppel“

Tel Aviv begann Dienstagfrüh damit, öffentliche Schutzräume bereitzustellen. In Jerusalem wurde am Montagabend nach Militärangaben erstmals seit dem Sommer 2014 Raketenalarm ausgelöst. In der Stadt begingen viele Israelis da den Jerusalem-Tag. Das Land feiert damit die Eroberung des arabischen Ostteils während des Sechstagekriegs 1967.

Zwangsräumung als Anlass

Der Konflikt hatte sich im Ostjerusalemer Stadtviertel Scheich Dscharrah entflammt, weil dort 30 Palästinenser mit der Zwangsräumung ihrer Wohnungen rechnen müssen. Ein für Montag geplanter Gerichtstermin zu den Zwangsräumungen wurde am Sonntag verschoben. Anfang des Jahres hatte das Bezirksgericht entschieden, dass die Häuser der vier betroffenen Familien rechtmäßig jüdischen Familien gehören.

Karte von Ostjerusalem
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Nach israelischem Recht können jüdische Israelis vor Gericht Besitzanspruch auf Häuser in Ostjerusalem anmelden, wenn ihre Vorfahren vor dem arabisch-israelischen Krieg (1948/49) dort im Besitz von Grundstücken waren. Für Palästinenser, die ihr Eigentum ebenfalls infolge des Krieges verloren haben, gibt es kein solches Gesetz.

Festnahmen bei Ausschreitungen

Am Dienstag kam es zudem in weiten Teilen Israels erneut zu heftigen Konfrontationen, bei denen Steine auf Polizisten geworfen wurden. Mehrere Fahrzeuge seien in Brand gesetzt worden. Fernsehreporter verglichen die Vorfälle mit dem zweiten Palästinenseraufstand (Intifada) vor zwei Jahrzehnten. In der Stadt Lod wurde ein 25-jähriger Araber getötet.

Proteste in Bethlehem
APA/AFP/Hazem Bader
Nächtliche Proteste in Bethlehem

Nach Polizeiangaben wurden bei den Ausschreitungen Dutzende Menschen festgenommen. Die Polizei teilte mit, man werde entschlossen „gegen jeden Versuch vorgehen, Unruhe zu stiften, und Gesetzesbrecher zur Rechenschaft ziehen“. Sie rief die arabische Führung, religiöse Vertreter und Eltern dazu auf, die jungen Demonstranten zu zügeln. Israels Verteidigungsminister Benni Ganz genehmigte die Mobilisierung von 5.000 Reservisten.

Gefährliche Eskalation in Nahost

Nach andauernden Raketenangriffen aus dem Gazastreifen hat Israels Luftwaffe Ziele an der Küste beschossen.

Hunderte Verletzte

In Ostjerusalem war es am Montag zu schweren Zusammenstößen zwischen israelischen Sicherheitskräften und Palästinensern gekommen. Vor der Al-Aksa-Moschee setzten Polizisten Blendgranaten, Tränengas und Gummigeschoße gegen Palästinenser ein, die Steine warfen. Palästinensische Rettungskräfte sprachen von mehr als 300 Verletzten. Nach Angaben der israelischen Polizei wurden knapp zwei Dutzend Beamte verletzt.

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, die seit Montag in Jerusalem bei der Versorgung der Verletzten hilft, berichtete am Dienstag von „Kopf-, Brust- und Augenverletzungen“ durch Gummigeschoße und Betäubungsgranaten sowie stumpfe Verletzungen. Unter den Verletzten seien viele Kinder gewesen, sagte Natalie Thurtle, medizinische Koordinatorin von Ärzte ohne Grenzen in Palästina, in einer Aussendung. Viele Verletzte in der Altstadt hätten aus Angst vor Verhaftung oder Inhaftierung keine medizinische Hilfe in Anspruch genommen, so Ärzte ohne Grenzen unter Berufung auf Berichte anderer Patienten.

130 Luftangriffe auf Gazastreifen

Nach Angaben eines Armeesprechers flog das Militär rund 130 Angriffe auf Ziele im Gazastreifen. Beschossen worden seien Einrichtungen zur Produktion von Raketen, Lager- und Trainingseinrichtungen sowie militärische Stellungen. Zudem seien zwei Tunnel attackiert worden. Man befinde sich in einer frühen Phase des Gegenangriffs, sagte der Sprecher.

Israelische Luftangriffe über dem Gaza Streifen
APA/AFP/Mahmud Hams
Bombeneinschläge der israelischen Luftangriffe im Gazastreifen

Nach Angaben von Rettungskräften und Augenzeugen im Gazastreifen starben zuletzt beim Beschuss einer Wohnung in einem 13-stöckigen Wohnhaus im Zentrum von Gaza-Stadt mindestens drei Menschen. Mehrere weitere wurden verletzt. Die Hamas drohte damit, in der Stadt Aschkelon ein „Inferno“ anzurichten, sollten im Gazastreifen weitere Zivilisten getötet werden. Bisher starben nach Angaben des Gesundheitsministeriums im Gazastreifen insgesamt 26 Menschen.

Brennende Autos in Ashkelon
APA/AFP/Jack Guez
Brennende Autos in der Stadt Aschkelon

Netanjahu: „Rote Linie überschritten“

„Die Terrororganisationen in Gaza haben am Abend des Jerusalem-Tags eine rote Linie überschritten und uns in den Vororten Jerusalems mit Raketen angegriffen“, sagte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bei einer Ansprache in der Stadt. „Wir werden keine Angriffe auf unser Gebiet, unsere Hauptstadt, unsere Bürger und Soldaten dulden. Wer uns angreift, wird einen hohen Preis bezahlen.“ Die israelischen Bürger müssten sich darauf einstellen, dass der gegenwärtige Konflikt länger dauern könnte.

Tim Cupal zur Eskalation der Gewalt

ORF-Korrespondent Tim Cupal berichtet aus Tel Aviv über die Eskalation der Gewalt.

Auf dem Tempelberg in Jerusalem war es am Montagabend erneut zu Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und der israelischen Polizei gekommen. Dutzende Menschen seien verletzt worden, berichteten Augenzeugen. Die Polizei habe Blendgranaten und Gummigeschoße eingesetzt. Der Tempelberg mit dem Felsendom und der Al-Aksa-Moschee ist für Juden wie Muslime von herausragender Bedeutung.

EU und USA fordern Ende der Gewalt

Die USA, Großbritannien und die Europäische Union verurteilten die palästinensischen Raketenangriffe auf israelische Städte. „Der Raketenbeschuss ziviler Bevölkerung in Israel aus dem Gazastreifen heraus ist nicht akzeptabel und nährt eine Dynamik der Eskalation“, hieß es von der EU-Kommission. Der Anstieg der Gewalt im von Israel besetzten Westjordanland, in Ostjerusalem und dem Gazastreifen müsse „unverzüglich aufhören“. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell verurteilte zudem die geplante Umsiedlung palästinensischer Familien in Ostjerusalem als illegal.

„Auch wenn alle Seiten Schritte zur Deeskalation unternehmen (müssen), hat Israel natürlich das Recht, sein Volk und Territorium vor diesen Angriffen zu schützen“, sagte US-Außenminister Antony Blinken. Israels Außenminister Gabi Aschkenasi brach am Dienstag einen Besuch in Südkorea vorzeitig ab.

Kritik von Saudi-Arabien und Jordanien

Saudi-Arabien verurteilte die „unverhohlenen Angriffe“ der „israelischen Besatzungskräfte“, die gegen „alle internationalen Normen und Gesetze“ verstoßen. Israel müsse seine „ausufernden Handlungen sofort einstellen“. Auch Jordaniens König Abdullah II. bezeichnete das Vorgehen Israels als Verstoß gegen internationales Recht und humanitäres Völkerrecht.

Kritik kam auch von arabischen Staaten, die ihre Beziehungen mit Israel in den vergangenen Monaten normalisiert hatten. Die Vereinigten Arabischen Emirate riefen Israel etwa dazu auf, Verantwortung zur Deeskalation zu übernehmen. Bahrain forderte ein „Ende der Provokationen gegen das Volk von Jerusalem“.