Flammen über dem Gaslager bei Aschkelon
Reuters/Amir Cohen
Hamas gegen Israel

Vor weiterer Eskalation im Nahost-Konflikt

Eine gefährliche Mischung aus verschiedenen Ereignissen und strategischen Interessen lässt den Nahost-Konflikt zwischen Israel und der radikalislamischen Hamas derzeit fast unkontrolliert eskalieren. Nach schweren Raketenschauern auf Tel Aviv verschärft auch Israel die Gangart weiter. Dazu kommen Ausschreitungen und Übergriffe arabischer auf jüdische Israelis.

Bei den bisher schwersten Raketenangriffen auf Israels Küstenmetropole Tel Aviv seit Beginn des Nahostkonflikts wurden mindestens drei Menschen getötet. Nach Angaben der Rettungsorganisation Zaka starb am Dienstagabend eine Frau in der Stadt Rischon Lezion, bei einer zweiten Angriffswelle in der Nacht auf Mittwoch wurden dann in Lod bei Tel Aviv eine Frau und ein Kind getötet.

In Jehud, ebenfalls im Großraum Tel Aviv, sei ein Haus direkt getroffen worden, hieß es in israelischen Medien. Die Nachrichtenseite „Ynet“ berichtete, ein 84-Jähriger in Tel Aviv sei auf dem Weg zu einem Schutzraum zusammengebrochen. Mehrere Menschen seien infolge der Raketenangriffe verletzt worden. In der bereits tagsüber besonders schwer beschossenen Küstenstadt Aschkelon waren nach Angaben der israelischen Polizei bereits Stunden zuvor zwei Frauen bei Raketenangriffen getötet worden. Eine Rakete traf zudem in Holon, ebenfalls im Süden Tel Avivs, einen Autobus, der in Flammen aufging. Dabei wurden mehrere Menschen, darunter ein Kleinkind, verletzt.

Israelische Feuerwehrleute untersuchen einen ausgebrannten Bus in Tel Aviv
APA/AFP/Ahmad Gharabli
Der von einer Rakete getroffene Autobus in Holon brannte völlig aus

Israel meldet Tötung von Top-Geheimdienstlern

Im Westjordanland wurde nach offiziellen palästinensischen Angaben ein Palästinenser bei Zusammenstößen mit der israelischen Armee getötet. Der Mann sei im palästinensischen Flüchtlingslager Al-Fawwar nahe der Stadt Hebron durch Schüsse getötet worden, teilte das palästinensische Gesundheitsministerium am Mittwoch mit.

Israels Luftwaffe reagierte nach eigenen Angaben mit dem umfangreichsten Bombardement des Gazastreifens seit dem Gaza-Krieg von 2014. Dabei seien in der Nacht auf Mittwoch auch der Chef des militärischen Geheimdienstes der Hamas, Hassan Kaogi, und sein Vize Wail Issa „neutralisiert“ worden. Palästinensische Quellen sprachen von Dutzenden Toten in dem abgeschotteten Küstengebiet.

Schwerer Raketenbeschuss auf Tel Aviv

Die Hamas erklärte am Dienstagabend, 130 Raketen aus dem Gazastreifen auf Tel Aviv und Zentralisrael abgefeuert zu haben. Letztlich dürften es weit mehr geworden sein, denn der gegenseitige Beschuss hielt auch in der Nacht auf Mittwoch an. Die militante Organisation Islamischer Dschihad berichtete am Mittwoch in der Früh, 100 Raketen aus dem Gazastreifen nach Israel abgefeuert zu haben. Die Hamas werde keinen Rückzieher machen, sagte ein Sprecher der militanten Islamisten im Gazastreifen. „Wenn Israel zuschlägt, schlägt der bewaffnete Widerstand zurück.“

Der internationale Flughafen Ben Gurion bei Tel Aviv wurde wegen der Angriffe zeitweise für Landungen und Abflüge geschlossen. Die Flüge wurden nach Zypern umgeleitet. In zahlreichen Ortschaften im Großraum Tel Aviv sowie im Umkreis des Gazastreifens sollten am Mittwoch die Schulen geschlossen bleiben.

Gaza meldet 35 Tote

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza stieg die Zahl der seit Montag getöteten Palästinenser auf 35, darunter zwölf Kinder und drei Frauen. 233 Menschen seien verletzt worden. Nach Berichten von lokalen Medien und Augenzeugen wurden einige Kinder durch israelische Luftangriffe getötet, andere durch fehlgeleitete Raketen der Extremisten. Nach Angaben der israelischen Armee wurden mindestens 20 Mitglieder der islamistischen Hamas und des militanten Islamischen Dschihads getötet, darunter hochrangige Vertreter.

Die Armee zerstörte in der Nacht auf Mittwoch zwei mehrstöckige Gebäude im Gazastreifen. Den Angaben zufolge befanden sich darin Büros ranghoher Hamas-Mitglieder. Die Bewohner der Gebäude waren vor dem Angriff von Israels Streitkräften gewarnt worden. Die Hamas hatte vor der Zerstörung des ersten Gebäudes mit einem „harten“ Raketenangriff auf Tel Aviv gedroht. Nach Angaben des von der Hamas geführten Innenministeriums wurden bei Luftangriffen alle Polizeigebäude in dem Küstengebiet zerstört. Die Gebäude seien von Kampfflugzeugen beschossen worden, teilte ein Ministeriumssprecher am Mittwoch mit. Im Westen von Gaza-Stadt waren Dutzende laute Explosionen zu hören.

Netanjahu droht Hamas

Am Dienstagabend traten Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu, Verteidigungsminister Benni Ganz mit Armeechef Aviv Kochavi und dem Chef des Inlandsgeheimdiensts Schin Bet, Nadav Argaman, vor die Medien und informierten die Bevölkerung. Netanjahu drohte dabei der radikalen Palästinenserorganisation Hamas im Gazastreifen: Diese werde „einen hohen Preis zahlen“. Zugleich betonte er, die Militäraktion werde länger dauern. „Mit Entschlossenheit und Zusammenhalt werden wir die Sicherheit für Israel wiederherstellen“, so Netanjahu.

Auch Ganz betonte, die bisherigen Luftangriffe seien „erst der Anfang“. Ganz appellierte an Juden wie Araber in Israel, sich verantwortungsvoll zu verhalten und nicht gewalttätig zu werden. Ganz bezog sich damit auf die Ausschreitungen in mehreren israelischen Städten aus Solidarität mit den Palästinensern. Es sei nicht die Zeit, um zu reden, so Schin-Bet-Chef Argaman. Aber man werde alles tun, um die Sicherheit der gesamten israelischen Bevölkerung wiederherzustellen.

Hamas: Raketen auf Tel Aviv abgefeuert

Die Küstenmetropole Tel Aviv steht unter Raketenbeschuss der Hamas. Im Stadtzentrum waren mehrere Explosionen zu hören. In einem Vorort kam eine Frau um – mehrere Menschen wurde verletzt. Seit Montag gibt es Angriffe und Gegenangriffe.

USA verurteilten Angriffe auf Israel

Die US-Regierung und die EU verurteilten die Raketenangriffe auf Israel. Das Land habe ein Recht auf Selbstverteidigung, sagte Präsidialamtssprecherin Jennifer Psaki. Die USA konzentrierten sich auf eine Deeskalation der Lage. Auch der deutsche Außenminister Heiko Maas erklärte auf dem Kurznachrichtendienst Twitter, der Raketenbeschuss Israels sei inakzeptabel und müsse sofort beendet werden. „Israel hat in dieser Situation das Recht auf Selbstverteidigung“, schrieb er. Zuvor hatten die Arabische Liga und die Türkei die israelischen Luftangriffe verurteilt. Der UNO-Sicherheitsrat berät am Mittwoch.

Rauchsäulen über dem Stadtteil Hanadi in Gaza City
APA/AFP/Mahmud Hams
Einstürzendes Hochhaus in Gaza-Stadt nach einem israelischen Luftangriff

Schwerste Gefechte seit 2019

Die schwersten Gefechte zwischen Israel und den Palästinensern seit 2019 hatten am Montag begonnen. In den Tagen zuvor war es an der Al-Aksa-Moschee in Ostjerusalem zu Ausschreitungen zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften gekommen. Die Hamas forderte ultimativ unter anderem deren Abzug und feuerte nach dem Verstreichen der Frist ihre ersten Raketen ab.

Die Al-Aksa-Moschee liegt in der Altstadt Jerusalems auf einem Gelände, das die Juden Tempelberg und die Muslime das Edle Heiligtum nennen. Am Sonntag und Montag begingen Israelis den Jerusalem-Tag, mit dem sie an die Eroberung Ostjerusalems 1967 erinnern. Das fiel in diesem Jahr mit dem letzten Teil des muslimischen Fastenmonats Ramadan zusammen. Verschärft wurden die Spannungen durch Pläne, Häuser palästinensischer Familien in Ostjerusalem zu räumen. Das Land, auf dem sie leben, wird von jüdischen Siedlern beansprucht. Auch Dienstagabend kam es zu Ausschreitungen bei der Al-Aksa-Moschee und beim Damaskustor.

Blick auf den von Raketen erhellten Nachthimmel in Ashkelon (Israel)
Reuters/Amir Cohen
Raketen aus dem Gazastreifen über dem Nachthimmel von Aschkelon

Innerpalästinensische Konkurrenz

Auch die Konkurrenz zwischen der Hamas und der Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas dürfte eine Rolle spielen. Die Hamas gab ihren Raketenangriffen den Namen „Schwert von Jerusalem“ und beanspruchte damit den Status als Beschützer der dort lebenden Palästinenser. Abbas sieht dagegen sich als Vertreter aller Bürger. Die Hamas regiert den Gazastreifen, die Fatah das Westjordanland.

Abbas verschob jüngst die für den 22. Mai geplante Parlamentswahl, bei der Experten zufolge die Hamas wohl zugelegt hätte. Es wäre die erste derartige Abstimmung seit 15 Jahren gewesen. Auch die für Juli geplante Präsidentenwahl wurde abgesagt. Der 85-jährige Abbas ist seit 2005 im Amt. Für die Hamas ist die Demonstration der Stärke und Provokation Israels ein Mittel, um sich gegenüber der Bevölkerung und der arabischen Welt als die wahre Verteidigerin der palästinensischen Interessen darzustellen. Eine Radikalisierung könnte auch auf das Westjordanland übergreifen und die Herrschaft der Fatah gefährden. Freilich könnte sich die Haltung gegenüber der Hamas ändern, wenn Israels Militärschläge zu viele Opfer und Zerstörung bringen.

Kan: Angriffe auf Synagogen

In Israel wird Regierung und Militär eine schwere Fehleinschätzung vorgeworfen. Diese gingen offenbar davon aus, dass die Hamas die Lage nicht eskalieren wird. Dazu kommt, dass innerisraelisch die Solidarisierung von Arabern mit der palästinensischen Seite einen der großen gesellschaftlichen Konflikte vertieft. In mehreren Städten, darunter Lod und Akko kam es laut dem israelischen öffentlich-rechtlichen TV Kan am Dienstag den zweiten Tag in Folge zu Übergriffen und Bedrohungen von Juden durch Araber.

Im Zentrum Lods wurden laut Kan Dutzende Autos angezündet, Synagogen angegriffen, und jüdische Bewohner betonten, sie würden in ihren Wohnungen von Arabern bedroht. Der Bürgermeister von Lod, Yair Revivo, sprach im Fernsehen von einem „Bürgerkrieg“ in der Stadt und forderte eine sofortige Ausgangssperre. Um für Ruhe zu sorgen, wurden zahlreiche weitere Polizeitruppen in die Stadt geschickt.

Nach den Raketenangriffe auf Tel Aviv der Hamas hat Israel zumindest vom Westen grünes Licht für Gegenangriffe. Bedenken muss Israel freilich auch seine Beziehungen zu arabischen Staaten. Vor allem die jüngsten Normalisierungen und Friedensschlüsse könnten dadurch gefährdet werden, wenn sich der Konflikt in die Länge zieht.