Israelischer Sicherheitsbeamter betrachtet zerstörtes Haus
APA/AFP/Gil Cohen-Magen
Mehrere Tote

Israel meldet 1.000 Raketen aus Gazastreifen

Militante Palästinenser im Gazastreifen haben nach Angaben der israelischen Armee bisher mehr als 1.000 Raketen auf Israel abgefeuert. Das gab Militärsprecher Jonathan Conricus am Mittwoch bekannt. Die Gewalt in Nahost reißt nach Tagen der Zusammenstöße und Angriffe auf beiden Seiten nicht ab. Bisher wurden mehrere Tote gemeldet.

Rund 850 Raketen seien abgefangen worden oder in Israel niedergegangen, etwa 200 weitere seien noch im Gazastreifen niedergegangen, sagte Conricus Mittwochfrüh. Nach seinen Angaben starben in Israel bisher fünf Menschen durch Raketenbeschuss. Mehr als 200 weitere seien verletzt worden.

Bei den bisher schwersten Raketenangriffen auf Israels Küstenmetropole Tel Aviv seit Beginn des Konflikts wurden mindestens drei Menschen getötet. Nach Angaben der Rettungsorganisation Zaka starb am Dienstagabend eine Frau in der Stadt Rischon Lezion bei einem direkten Einschlag. Wie die Polizei Mittwochfrüh mitteilte, wurden dann in Lod bei Tel Aviv ein Mann und eine Teenagerin getötet. Zaka hatte zunächst von einer Frau und einem Kind gesprochen.

In Jehud, ebenfalls im Großraum Tel Aviv, wurde nach Angaben des Rettungsdienstes ein Haus direkt getroffen. Eine Rakete traf zudem in Holon, ebenfalls im Süden Tel Avivs, einen Autobus, der in Flammen aufging. Dabei wurden mehrere Menschen verletzt. In der bereits tagsüber besonders schwer beschossenen Küstenstadt Aschkelon waren nach Angaben der israelischen Polizei bereits Stunden zuvor zwei Frauen bei Raketenangriffen getötet worden.

Feuer bei der Ashkelon Raffinerie
APA/AFP/Jack Guez
Auch das Industriegebiet der israelischen Stadt Aschkelon wurde von Raketen getroffen

Israel bombardiert Gazastreifen

Israels Luftwaffe reagierte nach eigenen Angaben mit dem umfangreichsten Bombardement des Gazastreifens seit dem Gaza-Krieg von 2014. Büros der militanten Gruppe und Häuser von Hamas-Anführern seien ebenso angegriffen worden wie Raketenstellungen. Die israelische Armee teilte auch mit, dass bei den Angriffen auch der Chef des militärischen Geheimdienstes der Hamas, Hassan Kaogi, und sein Vize Wail Issa „neutralisiert“ – also getötet – worden seien.

Auch ein 13-stöckiger Wohn- und Bürokomplex wurde bombardiert. Videoaufnahmen zeigten Rauchwolken, die von dem Gebäude aufstiegen. Wenig später stürzte es ein. Die Anrainerinnen und Anrainer der Gebäude waren vor dem Angriff von Israels Streitkräften gewarnt worden. Die Hamas hatte vor der Zerstörung des ersten Gebäudes mit einem „harten“ Raketenangriff auf Tel Aviv gedroht. Ein Sprecher des von der islamistischen Hamas geführten Innenministeriums teilte mit, alle Polizeigebäude im Gazastreifen seien bei israelischen Luftangriffen zerstört worden.

Feuerball und Rauch über dem Gaza-Streifen
APA/AFP/Ibraheem Abu Mustafa
Israels Luftwaffe reagierte auf den Raketenbeschuss nach eigenen Angaben mit dem umfangreichsten Bombardement des Gazastreifens seit 2014

Hamas: Werden keinen Rückzieher machen

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza stieg die Zahl der seit Montag getöteten Palästinenser auf 43, darunter 13 Kinder. 233 Menschen seien verletzt worden. Nach Berichten von örtlichen Medien und Augenzeugen wurden einige Kinder durch israelische Luftangriffe getötet, andere durch fehlgeleitete Raketen der Hamas und der militanten Organisation Islamischer Dschihad. Nach Angaben der israelischen Armee wurden mindestens 20 Mitglieder der Hamas und des Islamischen Dschihad getötet, darunter hochrangige Vertreter.

Angriffe erschüttern Gazastreifen und Israel

Die Gewalt in Nahost hat binnen weniger Tage das schlimmste Ausmaß seit Jahren erreicht.

Die Hamas hatte in der Nacht nach eigenen Angaben erneut Hunderte Raketen in Richtung Israel abgefeuert. 110 Geschoße richteten sich demnach gegen Tel Aviv, 100 weitere gegen die Stadt Beerscheva. Die militante Organisation Islamischer Dschihad feuerte nach eigenen Angaben 10 Raketen auf Israel ab. Die Hamas werde keinen Rückzieher machen, sagte ein Sprecher. „Wenn Israel zuschlägt, schlägt der bewaffnete Widerstand zurück.“

Der internationale Flughafen Ben Gurion bei Tel Aviv wurde wegen der Angriffe zeitweise für Landungen und Abflüge geschlossen. Die Flüge wurden nach Zypern umgeleitet. In zahlreichen Ortschaften im Großraum Tel Aviv sowie im Umkreis des Gazastreifens sollten am Mittwoch die Schulen geschlossen bleiben.

Bürgermeister von Lod: „Bürgerkrieg“

In der Stadt Lod bei Tel Aviv, in der Juden und Araber gemeinsam leben, kam es am Dienstagabend zudem zu schweren Ausschreitungen. Nach Medienberichten schändeten arabische Einwohner eine Synagoge und setzten sie in Brand. Außerdem seien Dutzende Autos in Brand gesetzt und Fenster von Geschäften eingeworfen worden.

Der Bürgermeister von Lod sprach im Fernsehen von einem „Bürgerkrieg“ in der Stadt und forderte eine sofortige Ausgangssperre. Um für Ruhe zu sorgen, wurden zahlreiche weitere Polizeitruppen in die Stadt geschickt. Auch in den arabisch geprägten Orten Akko im Norden des Landes und in Jaffa bei Tel Aviv kam es zu schweren Zusammenstößen.

Netanjahu droht Hamas

Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu sagte, die militanten Palästinenserorganisationen Hamas und Islamischer Dschihad würden einen hohen Preis für die jüngsten Angriffe auf Israel bezahlen. „Diese Operation wird Zeit brauchen, aber wir werden den Bürgern Israels die Sicherheit zurückbringen.“ Generalstabschef Aviv Kochavi sagte, man sei fest entschlossen, den militanten Gruppierungen einen harten Schlag zu versetzen.

UNO warnt vor „vollständigem Krieg“

Russland und die USA riefen alle Seiten zur Zurückhaltung auf. In New York zeigte sich UNO-Generalsekretär Antonio Guterres einem Sprecher zufolge sehr besorgt und „zutiefst traurig über die zunehmende Zahl von Opfern“. Die UNO forderte, die Gefechte umgehend einzustellen. Andernfalls drohe ein vollständiger Krieg. Der UNO-Sicherheitsrat soll zudem am Mittwoch zum zweiten Mal binnen weniger Tage zu einer Dringlichkeitssitzung zusammenkommen.

Die „kriminellen Handlungen“ Israels hätten die Lage in der Region deutlich verschlechtert, sagte der iranische Außenminister Mohammed Dschawad Sarif bei einem Besuch in Syrien. Der Iran und Syrien sind beide mit Israel verfeindet.

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) verurteilte die Angriffe indes „scharf“. Gleichzeitig betonte er das Recht Israels auf Selbstverteidigung. Kurz forderte eine sofortige Deeskalation. Alles andere wäre ein „Verbrechen gegenüber den Menschen in Israel“ und eine Belastung für die ohnehin angespannte Situation in der Region. Das irankritische Bündnis „Stop the bomb“ gab Teheran indes eine Mitschuld an den Raketenangriffen auf Israel.

Schwerste Gefechte seit 2019

Die schwersten Gefechte zwischen Israel und den Palästinensern seit 2019 hatten am Montag begonnen. In den Tagen zuvor war es an der Al-Aksa-Moschee in Ostjerusalem zu Ausschreitungen zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften gekommen. Die Hamas forderte ultimativ unter anderem deren Abzug und feuerte nach dem Verstreichen der Frist ihre ersten Raketen ab.

Die Al-Aksa-Moschee liegt in der Altstadt Jerusalems auf einem Gelände, das die Juden Tempelberg und die Muslime edles Heiligtum nennen. Am Sonntag und Montag begingen Israelis den Jerusalem-Tag, mit dem sie an die Eroberung Ostjerusalems 1967 erinnern. Das fiel in diesem Jahr mit dem letzten Teil des muslimischen Fastenmonats Ramadan zusammen.

Zwangsräumung als Anlass

Der Konflikt hatte sich ursprünglich im Ostjerusalemer Stadtviertel Scheich Dscharrah entflammt, weil dort 30 Palästinenser mit der Zwangsräumung ihrer Wohnungen rechnen müssen. Ein für Montag geplanter Gerichtstermin zu den Zwangsräumungen wurde am Sonntag verschoben. Anfang des Jahres hatte das Bezirksgericht entschieden, dass die Häuser der vier betroffenen Familien rechtmäßig jüdischen Familien gehören.

Karte von Ostjerusalem
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Nach israelischem Recht können jüdische Israelis vor Gericht Besitzanspruch auf Häuser in Ostjerusalem anmelden, wenn ihre Vorfahren vor dem arabisch-israelischen Krieg (1948/49) dort im Besitz von Grundstücken waren. Für Palästinenser, die ihr Eigentum ebenfalls infolge des Krieges verloren haben, gibt es kein solches Gesetz.

Innerpalästinensische Konkurrenz

Auch die Konkurrenz zwischen der Hamas und der Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas dürfte eine Rolle spielen. Die Hamas gab ihren Raketenangriffen den Namen „Schwert von Jerusalem“ und beanspruchte damit den Status als Beschützer der dort lebenden Palästinenser. Abbas sieht dagegen sich als Vertreter aller Bürger. Die Hamas regiert den Gazastreifen, die Fatah das Westjordanland.

Abbas verschob jüngst die für den 22. Mai geplante Parlamentswahl, bei der Experten zufolge die Hamas wohl zugelegt hätte. Es wäre die erste derartige Abstimmung seit 15 Jahren gewesen. Auch die für Juli geplante Präsidentenwahl wurde abgesagt. Der 85-jährige Abbas ist seit 2005 im Amt. Für die Hamas ist die Demonstration der Stärke und Provokation Israels ein Mittel, um sich gegenüber der Bevölkerung und der arabischen Welt als die wahre Verteidigerin der palästinensischen Interessen darzustellen.

Eine Radikalisierung könnte auch auf das Westjordanland übergreifen und die Herrschaft der Fatah gefährden. Freilich könnte sich die Haltung gegenüber der Hamas ändern, wenn Israels Militärschläge zu viele Opfer und Zerstörung bringen.