Mathematikunterricht and einer AHS
ORF.at/Wolfgang Rieder
Mathematik

Wege aus dem „Angstfach“-Eck

Am Freitag findet die Matura in Mathematik statt – jenes Fach, für das mit Abstand das meiste Geld für Nachhilfe ausgegeben wird und für das Schülerinnen und Schüler oft schnelle Lösungen auf YouTube suchen. Die Mathematik sei das Image des „Angstfachs“ leid, sagt der Mathematiker Michael Eichmair im Gespräch mit ORF.at. Um nachhaltig gegenzusteuern, müsse man die Pädagoginnen und Pädagogen stärken.

Das Volumen eines Zylinders berechnen, Brüche multiplizieren, Hypothesen testen: Kommt man bei der Hausübung und beim Lernen für die Schularbeit oder die Matura nicht mehr weiter, finden sich zu jeder mathematischen Problemstellung Dutzende Erklärvideos auf YouTube. Mit fast zwei Millionen Klicks ist das nur wenige Minuten lange Tutorial zu quadratischen Funktionen des Deutschen Daniel Jung vermutlich das meistgesehene im deutschsprachigen Raum.

Jung – von der „Frankfurter Allgemeinen“ als „Rockstar der Mathematik“ bezeichnet – spricht gerne von einem „Matheschmerz“, der viele Schülerinnen und Schüler plage. Und den er mit seinen Videos lösen möchte. Über 2.500 davon finden sich mittlerweile auf seinem YouTube-Kanal. Darunter stehen Tausende Kommentare wie „Du hast mir den Abschluss gerettet“, „Ehrenmann!“ und „Ich wünschte, Sie wären mein Lehrer“.

„Astronomische Beträge“ für Nachhilfe

Doch woher kommt dieser „Matheschmerz“? Und warum suchen so viele Schülerinnen und Schüler – und oft auch ihre verzweifelten Eltern – Hilfe im Netz und nicht in der Schule? Zu abstrakt, zu realitätsfern sei der Unterricht, lautet ein gängiger Vorwurf. Und nicht selten übertragen Eltern den „Matheschmerz“ aus ihrer eigenen Schulzeit auf ihre Kinder und sorgen so dafür, dass deren Mathematiklaufbahn schon mit der Formel „Mathe ist schwierig“ im Kopf beginnt.

Schüler beim Fernunterricht
APA/AFP/Jens Schlüter
Der Fernunterricht der vergangenen Monate machte das Lernen für viele Schülerinnen und Schüler nicht einfacher

Die Summen, die jedes Jahr in Mathematiknachhilfe gesteckt werden, seien „astronomische Beträge, nicht nur in Summe, sondern auch im Einzelnen für viele Familien“, sagt Eichmair, Professor für Globale Analysis und Differentialgeometrie an der Fakultät für Mathematik der Universität Wien. Nachhaltiger wäre es etwa, nur zwei Prozent dieser Summe in die Aus- und Fortbildung von Lehrenden und in gezielte Fördermaßnahmen zu stecken. Denn die Liste der Punkte, die in der Ausbildung verbessert werden könnten, sei lang.

Kinder mit Rechenschwäche „nicht vorgesehen“

Ein Kuriosum der Ausbildung sei etwa „der Zwang zu zwei Unterrichtsfächern“, so Eichmair, der auch Mitglied der Beratungsgruppe Mathematik ist, die im Auftrag des Bildungsministeriums – weisungsfrei und unabhängig – mögliche Maßnahmen für eine Neupositionierung des Mathematikunterrichts entwickeln soll. Auch die „sehr unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen“ an den einzelnen Standorten seien nicht ideal. Und bei der Einführungsphase, die 2019 für den Berufseinstieg eingeführt wurde und die begleiteten Unterrichtspraktika abgelöst hat, gebe es noch viele Fragezeichen.

Ein Problem sieht Eichmair auch darin, dass es in Österreich kaum Profis für Kinder mit Rechenschwäche gebe. „Diese Kinder sind in unserem Bildungssystem ebenso wenig vorgesehen wie mathematisch hochbegabte Kinder“, so Eichmair. Für Kinder mit Rechenschwäche und Kinder mit der medizinischen Diagnose Dyskalkulie brauche es „dringend individuelle Fördermaßnahmen und eine Leistungsbeurteilungsverordnung, die solche Herausforderungen anerkennt und sensibel damit umgeht“.

Initiativen wollen neuen Zugang zur Mathematik schaffen

Dem Image des „Angstfachs“ könne man jedenfalls nur gegensteuern, wenn man die Pädagoginnen und Pädagogen stärkt, sagt Eichmair. Seit fünf Jahren versucht der Mathematiker das mit „Mathematik macht Freu(n)de“, einer Initiative, die Lehrende „innovativ und kreativ“ unterstützen will – „mit Best Practices für die Aus- und Fortbildung und für die konkrete Unterrichtsgestaltung“.

Seit zwei Jahren gibt es „Mathematik macht Freu(n)de“ neben der Uni Wien auch an der Uni Graz. Beide arbeiten mit Pädagogischen Hochschulen zusammen. Und auch andere Initiativen versuchen, einen neuen Zugang zur Mathematik zu schaffen: „Mathe-Cool!“ an der Uni Innsbruck etwa – ein Projekt, das die Motivation von Schülerinnen und Schülern für die Mathematik in kreativer und interaktiver Weise fördern will. Und auch „Minimath“, das mit spielerischen Workshops schon im Kindergartenalter ansetzt.

Mathematikunterricht and einer AHS
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Durch Beispiele mit Alltagsbezug wird der Mathematikunterricht verständlicher

Motivierte Schülerinnen lernen besser

Wie wichtig Motivation für den Lernerfolg ist, zeigt eine Langzeitstudie der Ludwig-Maximilians-Universität München: Nicht besonders intelligente, sondern besonders motivierte Schülerinnen und Schüler sind gut in Mathematik und haben über die Jahre den höchsten Leistungszuwachs. Und Mathematikunterricht, der motiviert und vielleicht sogar Spaß macht, steht und fällt mit den Lehrenden.

Bei einer im Wintersemester durchgeführten Umfrage des niederösterreichischen Landeselternverbands, an der auch Jugendliche aus anderen Bundesländern teilnahmen, zeigte sich, dass sich knapp die Hälfte nicht gut auf die anstehende Mathematikmatura vorbereitet fühlt. Die Beziehung zu ihren Lehrenden schätzten die Jugendlichen allerdings überwiegend positiv ein: Immerhin 80 Prozent attestierten ihnen Engagement.

Auf Krisen nicht vorbereitet

Pädagoginnen und Pädagogen müssen „überzeugt und fasziniert sein von dem, was und wie sie unterrichten“, sagt Eichmair. Und vor allem müssen sie selbst gut unterstützt sein: durch engmaschige, fachnahe Betreuung in der Einführungsphase. Und durch Supervision, Sozialarbeit und die Schulpsychologie.

„Die Wahrscheinlichkeit, dass Lehrpersonen schon in den ersten Unterrichtsjahren mit schweren Schicksalsschlägen im schulischen Umfeld konfrontiert werden und umgehen müssen, ist eins“, so der Mathematiker. Doch wie können Lehrende damit umgehen, wenn eine Schülerin fehlt, weil ihre Mutter gestorben ist? Wenn ein Elternteil im Gefängnis ist? Wenn Jugendliche Psychopharmaka nehmen?

Das seien Fragen, die Lehramtsstudierende beschäftigen, so Eichmair. In der Ausbildung gebe es aber keine oder kaum Elemente, die sie darauf vorbereiten. „Im Gegenteil, wir schweigen uns über diese Herausforderungen, die sich niemand wünscht und die für alle schwierig wären, aus.“ Natürlich sei es wichtig, die Berufsfelder getrennt zu halten. Es sei aber auch wichtig, dass Lehrende wissen, an welchem Punkt sie an die Schulpsychologie oder die Sozialarbeit übergeben müssen.

Unterrichtsstart für Maturanten nach Corona-bedingter Schließung 2020
APA/Hans Punz
Die Lehrperson ist zentral für den Erfolg oder Misserfolg jedes Unterrichts

„Wegwerfkompetenzen“

„Wenn die Liebe zum Fach und die Liebe zur Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gegeben sind, und wenn die Lehrpersonen durch eine solide Ausbildung und die Betreuung am Standort gut gestützt werden, dann hat der Unterricht auch gute Chancen zu gelingen“, lautet Eichmairs Fazit.

Viele der Erklärvideos, die auf YouTube zu finden sind, fallen für den Mathematiker in die Kategorie „Hacks“: „Mit ihnen können standardisierte Aufgaben angegangen werden. Da werden oft Wegwerfkompetenzen vermittelt, die nicht längerfristig belastbar sind, die allerdings dringende Bedürfnisse stillen.“

Michael Eichmair
Michael Eichmair
Michael Eichmair ist Professor an der Fakultät für Mathematik der Uni Wien

Das habe seinen Wert, „gerade im Zusammenhang mit standardisierten Prüfungen und besonders in dieser Pandemie“. Ohne Beziehungsarbeit, wie sie Pädagoginnen und Pädagogen an den Schulen leisten, könne ein nachhaltiger Aufbau von Kompetenzen quer durch die Fächerpalette aber nicht gelingen.

„Wir machen einen Sport daraus“

Die Mathematik sei es jedenfalls „schon recht leid“, immer wieder als „Angstfach“ in den Fokus zu geraten, sagt Eichmair: „Mathematik hat vielleicht den höchsten Abstraktionsgrad aller Schulfächer. Das heißt aber nicht, dass sie ,zu abstrakt‘ ist.“ Dass Mathematik abstrakt ist, sei zudem auch ein Grund, warum sie so nützlich ist. Und alleine aus gesellschaftlicher und demokratiepolitischer Verantwortung sei Mathematikunterricht notwendig: „Wir sehen, was passiert, wenn Menschen nicht mehr an die Wissenschaft glauben und am Klimawandel oder grundsätzlich an der Sinnhaftigkeit von Impfungen zweifeln.“

„Wenn wir in Zukunft eine Wissensgesellschaft sein wollen, dann werden wir ohne Angst mit der Mathematik arbeiten müssen“, so Eichmair. Andere Länder seien hier schon viel weiter – die Niederlande und Singapur etwa, wo eigene Institute an der Qualität des Mathematikunterrichts arbeiten. In Österreich werde aus dieser gesellschaftlich plakativen Angst vor der Mathematik fast ein Sport gemacht. „Ich habe eher Angst, dass Schülerinnen und Schüler deshalb aufgeben.“