Ausschreitungen vor dem Felsendom in Jerusalem
AP/Mahmoud Illean
Hamas vs. Israel

Drohender Kontrollverlust, den niemand will

Der eskalierte Konflikt zwischen Israel und der radikalen, den Gazastreifen beherrschenden Hamas droht außer Kontrolle zu geraten. Neben der menschlichen Tragik auf beiden Seiten ist die Situation politisch auch absurd: Denn weder die Hamas noch Israel noch die vielen indirekt involvierten Player haben ein Interesse daran.

Diese Runde der Gewalt könnte aber die palästinensische wie die israelische Innenpolitik nachhaltig prägen – und auch die internationale Bühne dürfte betroffen sein. Der israelisch-palästinensische Konflikt selbst aber wird von der Gewalteskalation wohl unberührt bleiben.

Auch in Zeiten, in denen die Gewalt im Nahen Osten nicht eskaliert, wird dieser mehr als 100-jährige Konflikt von einem schier unentwirrbaren Knäuel an sich ständig verändernden Interessen, Machtfragen, strategischem und taktischem Handeln überfrachtet. Die jahrzehntelange Besatzung und Kontrolle des Westjordanlandes und Ostjerusalems, der Bau und Ausbau von Siedlungen: Für einen – in den letzten Jahren gewachsenen – Teil der israelischen Bevölkerung ist es die legitime Aneignung der von Gott zugesprochenen Heimat. Für die Palästinenser ist es schlicht Kolonialismus, Enteignung und Landraub.

Wichtiger Erfolg für Hamas

Für die von den USA und der EU als Terrororganisation eingestufte Hamas waren die letzten beiden Tage ein ungewöhnlich großer und aus ihrer Sicht überfälliger Erfolg. Sie hat ihre Ziele erreicht und wäre wohl jederzeit zu einer Waffenruhe bereit, da sie in der militärischen Auseinandersetzung mit Israel nichts mehr zu gewinnen hat.

Rettungskräfte nach einem Raktenangriff auf Rishon LeZion
APA/AFP/Gil Cohen-Magen
Einsatzkräfte bei dem von einer Hamas-Rakete getroffenen Haus in Rischon Lezion südlich von Tel Aviv

Sie konnte ihr Image gleich in mehrfacher Hinsicht aufpolieren: Die Hamas positionierte sich innerpalästinensisch als den militärisch und politisch starken Teil des Widerstands gegen Israel, während die im Westjordanland regierende Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas als untätig und Israel gegenüber als schwach und handlungsunfähig dasteht. Zugleich konnte sich die Hamas – gerade vor dem Höhepunkt des Fastenmonats Ramadan – in der gesamten arabischen Welt mit dem Raketenbeschuss als Beschützerin von al-Kuds, der heiligen Stadt Jerusalem, darstellen.

Zeichen der Stärke gegenüber Fatah

Innenpolitisch war es für die Hamas ein Befreiungsschlag. Nach der Absage der palästinensischen Wahlen – Abbas begründete das mit Israels Weigerung, mehr Wahlurnen in Ostjerusalem zu genehmigen – steckte die Hamas fest. Im Gazastreifen völlig am finanziellen und militärischen Tropf vor allem des Iran und von Katar hängend, war die Organisation wegen der unerträglichen Lebensbedingungen – der kleine Küstenstreifen ist von der Außenwelt fast vollständig abgeriegelt, es gibt keine normal funktionierende Wirtschaft – intern zunehmend unter Druck geraten.

Bei der Wahl hätte sich die Hamas Hoffnungen machen können, die Fatah als stärkste Kraft auch im Westjordanland abzulösen – was freilich weder Abbas noch Israel wollen. Entscheidend aus Sicht der Hamas ist, ob es ihr gelingt, innerpalästinensisch die Dynamik so zu verändern, dass die Wahlen – die letzten liegen 15 Jahre zurück – doch abgehalten werden.

Israel überrascht

Gegenüber Israel hat die Hamas taktische Überlegenheit bewiesen. In Israel war man bis zuletzt überzeugt, dass die Hamas es nicht auf eine kriegerische Auseinandersetzung ankommen lassen will. Nur wenige Tage vor dem Raketenhagel auf den Süden Israels und auf Jerusalem hatte Israel eine der regelmäßigen, für die Hamas lebenswichtigen Bargeldlieferung aus Katar durchgelassen.

In Israel ging man zu dem Zeitpunkt noch immer davon aus, damit die Lage beruhigen zu können. In Jerusalem war es davor seit Tagen aufgrund drohender Enteignungen palästinensischer Familien im Ostjerusalemer Vorort Scheich Dscharrah zu heftigen Zusammenstößen mit der Polizei gekommen. Jüdische Siedler beanspruchen die Häuser aufgrund eines israelischen Gesetzes für sich, eine Gerichtsverhandlung dazu wurde kurzfristig vertagt.

Rauch über Gaza
APA/AFP/Mahmoud Khatab
Israelische Luftangriffe in Gaza-Stadt. Parallel wird eine mögliche Bodenoffensive vorbereitet.

Abschreckung wiederherstellen

Israel setzt nun wohl alles daran, die Hamas so schwer zu schlagen, dass diese sich möglichst lange militärisch nicht davon erholt. Ziel der militärisch weit überlegenen israelischen Armee ist es nun, wieder eine Abschreckung herzustellen. Die Hamas soll sich jahrelang an die Folgen erinnern, die ihre Raketenangriffe hatten.

Vor allem, dass sich die Hamas als Repräsentantin der gesamten palästinensischen Bevölkerung darstellt, muss Israel beunruhigen. Denn für Israel hat die Zweiteilung und damit Schwächung der Palästinenser in Hamas im Gazastreifen und Fatah im Westjordanland große Vorteile. Gleichzeitig ist es nicht in Israels Interesse, die Hamas im Gazastreifen so sehr zu schwächen, dass dort Anarchie ausbricht.

Gewalt in israelischen Städten als Warnung

Auch in Israel könnte diese Gewaltrunde aber innenpolitisch mehr in Bewegung bringen: Denn die Solidarisierung vieler arabischer Israelis vertieft einen der größten Gräben in der Gesellschaft – zwischen arabischer und jüdischer Bevölkerung – weiter. Dass Tausende vor allem junge Araber auf die Straße gehen, sich mit den Palästinensern und der Hamas solidarisieren und es dabei zu tödlichen Ausschreitungen und Randalen kommt, ist ein überdeutliches Warnzeichen.

Der Bürgermeister von Lod, Jair Revivo, sprach von einem „Bürgerkrieg“ in der Stadt und forderte eine sofortige Ausgangssperre. Im Hintergrund steht bei dem Konflikt immer auch ein soziales Gefälle. Arabische Israelis klagen seit Jahrzehnten über Benachteiligung – insbesondere was Investitionen in Bildung, Soziales und sonstige Infrastruktur in ihren Städten und Vierteln betrifft.

Zerstörte Synagoge in Lod
Reuters/Ronen Zvulun
Thora-Rollen werden aus einer von Arabern angezündeten Synagoge in der israelischen Stadt Lod in Sicherheit gebracht

Keine Chance für Anti-Netanjahu-Koalition?

Nicht zuletzt befindet sich Israel in einer innenpolitischen Dauerkrise – nach der vierten Knesset-Wahl in zwei Jahren wird derzeit wieder einmal versucht, eine Regierungsmehrheit zu finden. Erstmals hätten die Kontrahenten von Langzeitpremier Benjamin Netanjahu, der sich derzeit vor Gericht wegen Korruption und verbotener Geschenkannahme verantworten muss, eine realistische Chance, eine Mehrheit jenseits des Rechtskonservativen zu schmieden.

Doch gerade in Israel gilt es fast als ehernes Gesetz, dass in Zeiten einer militärischen Bedrohung von außen die aktuelle politische Führung gestärkt wird. Das könnte sich Netanjahu, der mit Abstand erfahrenste Politiker des Landes, vielleicht zunutze machen. Der rechtsgerichtete Jamina-Chef Naftali Bennett kündigte bereits an, aus Gesprächen einer Anti-Netanjahu-Koalition auszusteigen.

Als Zünglein an der Waage als möglicher Mehrheitsbringer galt erstmals eine arabische Partei – Raam von Mansur Abbas. Er spaltete sich vor der letzten Knesset-Wahl von der Vereinigten Arabischen Liste ab und galt als möglicher Koalitionspartner selbst für den Rechtskonservativen Netanjahu. Abbas und die anderen arabisch-israelischen Politiker schwiegen aber bisher zu den Ausschreitungen, was jüdische Politiker von Rivlin abwärts kritisierten.

Zuletzt besuchte Abbas aber eine von arabischen Israelis zerstörte Synagoge in Lod und verurteilte jede Form der Gewalt. Die Hoffnung, ausgerechnet der islamisch-religiöse Politiker Abbas könnte die Marginalisierung arabischer Politikerinnen und Politiker in der Knesset durchbrechen, dürfte aber vorerst trotzdem vom Tisch sein. Die Gräben zwischen jüdischen und arabischen Israelis drohen sich – trotz aller gegenteiligen Bekenntnisse – auch politisch zu vertiefen.

Vom „warmen“ zum "kalten Frieden?

Noch völlig unklar ist, welche Folgen die aktuellen Auseinandersetzungen mit vielen Toten auf beiden Seiten auf der internationalen Ebene haben werden. Die jüngsten Friedensschlüsse Israels mit Bahrain und den Vereinigten Arabischen Emiraten werden nicht zurückgenommen werden, die Beziehungen könnten sich aber abkühlen.

Langfristig droht dann eine Art „kalter Friedensschluss“ – dabei erhoffen sich alle drei Länder vor allem eine enge wirtschaftliche Kooperation. Auch weitere arabische Staaten, die nach dem „Abraham-Abkommen“ bereits offen oder inoffiziell ihr Interesse an einer Annäherung oder Aufnahme von Beziehungen mit Israel bekundeten, dürften sich vorerst zurückhalten.

Bidens Iran-Pläne gefährdet

Auch US-Präsident Joe Biden zwingt die Gewalteskalation zu einem Abweichen von seinen Plänen. Er wollte sich nicht auf den israelisch-palästinensischen Konflikt konzentrieren, erst recht, solange Netanjahu, der seinen Vorgänger Donald Trump mit voller Energie unterstützte, im Amt ist. Bidens Priorität in der Region liegt eindeutig beim Iran. Er will den Wiedereinstieg in das Atomabkommen erreichen. Auch dieser Plan wird nun erschwert. Innenpolitisch wird eine Annäherung an den Iran für Biden nun schwieriger.

Denn der Iran ist ein wichtiger Unterstützer der Hamas und Erzfeind Israels. Nachdem Israel zuletzt mehrfach das iranische Atomprogramm – etwa mit einem großflächigen Stromausfall in der Atomanlage Natans – sabotierte, wartet Teheran nur auf die Gelegenheit für einen Gegenschlag. Laut „Jerusalem Post“ könnte das der Raketenbeschuss durch die Hamas sein, denn die Eskalation sei eine Woche vorher im Iran in einer Botschaft zum Jerusalem-Tag vorhergesagt worden.

Viel Leid und Zerstörung haben die wenigen Tage bereits mit sich gebracht. Am israelisch-palästinensischen Grunddilemma – Kompromisse eingehen und einen Modus vivendi finden zu müssen, der für beide Seiten erträglich ist – wird die derzeitige Eskalation aber genau gar nichts ändern.