Brennendes kollabierendes Gebäude in Gaza City
APA/AFP/Qusay Dawud
Tote auf beiden Seiten

Nahost-Konflikt geht unvermindert weiter

Seit Montagabend wird Israel mit Raketen aus dem Gazastreifen beschossen. Zuletzt soll ein sechsjähriges Kind getroffen worden sein. Auch am Mittwochabend heulten wieder die Sirenen im Land, darunter auch in der Großstadt Tel Aviv. Israels Armee reagierte mit Luftschlägen im Gazastreifen.

Der Bub sei am Mittwoch in der südisraelischen Stadt Sderot getroffen und tödlich verletzt worden, zitierte die Nachrichtenagentur AFP Rettungskräfte. Behandelt seien noch vier weitere Verletzte worden. Die radikalislamische Palästinenserorganisation Hamas erklärte, sie habe Sderot, Aschkelon und Netivot als Vergeltung für die israelischen Angriffe auf das Al-Scharuk-Hochhaus in Gaza und mehrere Hamas-Anführer ins Visier genommen.

Nach israelischen Angaben haben Palästinenserorganisationen wie die Hamas und der Islamische Dschihad seit Montag mehr als tausend Raketen in Richtung Israel abgefeuert. Viele der Geschoße wurden von der israelischen Raketenabwehr abgefangen, andere schlugen jedoch in Wohngebieten ein. In Israel wurden mit dem Kind insgesamt sieben Menschen durch den Raketenbeschuss getötet.

US-Flüge nach Tel Aviv eingestellt

Im Großraum Tel Aviv wurde am Abend erneut Raketenalarm ausgelöst. Es war die dritte Angriffswelle seit Dienstagabend. Die Hamas richtete nach eigenen Angaben allein auf Tel Aviv und Beerscheva mehr als 200 Geschoße. Die US-Fluggesellschaften United, Delta und American strichen ihre Flüge nach Tel Aviv. Der US-Energiekonzern Chevron fuhr die Produktion auf der Erdgasplattform „Tamar“ vor der Küste Israels herunter.

Gewalt in Nahost: Neue Eskalationsstufe

Hunderte Raketen hat die palästinensische Hamas in kurzer Zeit auf Tel Aviv abgefeuert – wohl, um das Abwehrsystem der Israelis zu überfordern. Dafür müsse die Hamas bezahlen, sagte Israels Regierungschef Netanjahu. Der Gegenschlag kam prompt.

Zusammenstöße in israelischen Städten

Die Lage verschärfte sich durch schwere Zusammenstöße jüdischer und arabischer in mehreren israelischen Städten. Trotz einer Ausgangssperre flammten Unruhen in der Stadt Lod erneut auf. Am Dienstag waren eine Synagoge sowie Dutzende Autos in Brand gesetzt und Schaufenster eingeworfen worden. Bürgermeister Jair Revivo sprach von einem „Bürgerkrieg“.

Demonstranten in Hebron, Westjordanland
Reuters/Mussa Issa Qawasma
Aus mehreren Städten werden Zusammenstöße gemeldet

In Akko im Norden des Landes wurde nach Angaben des israelischen Fernsehens ein jüdischer Einwohner von arabischen Demonstranten lebensgefährlich verletzt. In Bat Jam südlich von Tel Aviv attackierten ultrarechte Juden nach Medienberichten arabische Geschäfte.

Auch in Haifa und Tiberias gab es Zusammenstöße. Das israelische Fernsehen berichtete, Regierungschef Benjamin Netanjahu wolle Soldaten in die Städte entsenden, um die Ruhe wiederherzustellen. Verteidigungsminister Benni Ganz habe das jedoch abgelehnt.

Weiteres Hochhaus in Gaza zerstört

Als Reaktion auf die Raketenangriffe flog die israelische Luftwaffe die schwersten Angriffe seit dem Gaza-Krieg 2014. Sie bombardierte bei Hunderten Einsätzen Einrichtungen der Hamas und anderer militanter Gruppen im Gazastreifen. Dabei wurde am Mittwoch auch das Al-Scharuk-Haus zerstört, in dem sich Büros des Fernsehsenders al-Aksa befanden.

Zerstörtes Gebäude in Gaza City
APA/AFP/Mahmud Hams
Das zerstörte Al-Scharuk-Haus in Gaza-Stadt

Es handelt sich bereits um das dritte große Gebäude, das seit Montag durch Luftangriffe zerstört wurde. Am Dienstagabend war bereits ein Hochhaus in Gaza, in dem sich auch mehrere Büros der radikalislamischen Palästinenserorganisation Hamas befanden, vollständig eingestürzt. Nach palästinensischen Angaben wurden bei den Luftangriffen insgesamt 56 Menschen getötet, unter ihnen 14 Kinder. Nach Angaben der Hamas sind unter den Toten auch mehrere ihrer Anführer.

Die israelische Armeeführung stellte die palästinensischen Totenzahlen infrage. „Hamas ist eine Terrororganisation, die bekannt dafür ist, dass sie lügt, manipuliert und verfälscht“, sagte Armeesprecher Jonathan Conricus am Mittwochabend: „Ich schreibe hinter die Totenzahlen der Hamas ein großes Fragezeichen.“ Conricus gab an, dass bisher 30 Vertreter der Hamas, darunter auch aus der Führung der Organisation, von den israelischen Streitkräften getötet worden seien.

Beide Seiten betonen Kampfeswillen

Israels Sicherheitskabinett beschloss unterdessen nach Medienberichten eine Ausweitung des Militäreinsatzes gegen die Hamas. Die Armee solle von sofort an gezielt „Symbole der Hamas-Herrschaft“ in dem Palästinensergebiet angreifen, berichtete der Sender Kanal 12 am Mittwochabend. Es sei bereits die Zerstörung des Finanzministeriums in Gaza-Stadt angekündigt worden.

Netanjahu lehnt den Berichten zufolge eine Waffenruhe zu diesem Zeitpunkt ab. „Das ist erst der Anfang: Wir werden ihnen Schläge versetzen, die sie sich niemals erträumt haben“, hatte er zuvor gesagt. Verteidigungsminister Ganz kündigte weitere Angriffe auf militante Palästinensergruppen im Gazastreifen an. Erst wenn eine „vollständige und langfristige Ruhe“ erreicht sei, „werden wir über eine Waffenruhe reden können“.

Tim Cupal analysiert die Eskalation

ORF-Korrespondent Tim Cupal analysiert die Eskalation im Nahen Osten.

Hamas-Führer Ismail Hanija sagte, falls Israel die Lage eskalieren lassen wolle, „dann sind wir bereit dafür“, und sprach von einer „unbefristeten Konfrontation mit dem Feind“. Das russische Außenministerium wiederum erklärte, ein hochrangiger Hamas-Vertreter habe eine Bereitschaft zur Einstellung der Angriffe auf „gegenseitiger Basis“ signalisiert. Einzelheiten blieben bisher jedoch unklar.

UNO warnt vor Krieg

Die Vereinten Nationen warnten unterdessen den UNO-Sicherheitsrat laut Diplomaten vor einem großen Krieg. Der UNO-Sondergesandte Tor Wennesland sagte bei einer Dringlichkeitssitzung des mächtigsten UNO-Gremiums am Mittwoch in New York, dass die Spirale der Gewalt enden müsse. Der 15-köpfige Rat konnte sich bei einer ersten Sitzung am Montag nicht auf eine gemeinsame Stellungnahme einigen. Auch die zweite Sitzung am Mittwoch endete ohne eine gemeinsame Erklärung.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell forderte von Israel Augenmaß bei der Reaktion auf die Angriffe aus dem Gazastreifen. Die Reaktion darauf müsse „verhältnismäßig und mit größtmöglicher Zurückhaltung bei der Anwendung von Gewalt erfolgen“. Die EU sei „bestürzt über die zahlreichen toten Zivilisten und Verletzten, darunter auch Kinder“.

USA schicken Spitzendiplomaten

US-Außenminister Antony Blinken sagte, er habe den zuständigen Spitzendiplomaten Hady Amr darum gebeten, umgehend in die Region zu reisen und sich mit führenden Vertretern beider Seiten zu treffen. Amr werde auch im Namen von US-Präsident Joe Biden auf eine Deeskalation der Gewalt drängen. Blinken verurteilte die Raketenangriffe auf das Schärfste. Er fügte hinzu, die USA seien weiterhin einer Zweistaatenlösung verpflichtet.

Karte von Ostjerusalem
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Der Konflikt in Nahost hat sich seit Beginn des Ramadans Mitte April immer weiter verschärft. An diesem Mittwochabend sollte der muslimische Fastenmonat enden. In den vergangenen Tagen hatte es zunächst vor allem in Jerusalem heftige Zusammenstöße zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften gegeben. Auslöser waren unter anderem Proteste gegen Polizeiabsperrungen in der Altstadt sowie drohende Zwangsräumungen palästinensischer Familien im Viertel Scheich Dscharrah.