Festwochen-Start

Die Kunst ist wieder zurück

Einbruch der Dunkelheit, Erleuchtung des Rathauses, Eröffnung der Festwochen. Seit dem Jahr 1951 gibt es ein Zeremoniell, das aus der Geschichte der Stadt Wien nicht wegzudenken und wohl auch nicht komplett umzukrempeln ist. So haben die Festwochen am Freitag ihr Programm gestartet und diesmal doch alles ganz schön umgekrempelt. Tanzperformerin Florentina Holzinger ließ zur Livemusik von Soap&Skin Körper und Maschinen aufeinanderprallen. Die Eröffnung wurde zu einem lebhaften, ja konfrontativen Auftritt zur Frage der öffentlichen Bedeutung von Kunst. Gerade nach einer langen Zeit des Lockdowns. Eindrucksvoll: Soap&Skins neue Interpretation ihres „Marche funebre“.

In der Mitte des Mai an einem Freitag müssen die Wiener Festwochen starten. An diesem Kulturgesetz in Wien seit dem Jahr 1951 war nie zu rütteln. Kein Intendant der Welt konnte je diese Tradition abstellen; nicht immer wurde es von den künstlerischen Verantwortlichen verstanden, warum denn die Festwochen immer auf dem Rathausplatz starten müssen. Mitunter war man ja froh, dass rahmende Konzerte einstige Steifheiten beim „Aufsperren“ der Festwochen mildern konnten. Am Ende der Festwochen 1985 trat etwa Falco mit einem 45-Minuten-Gig auf. Er war gerade in den USA Nummer eins mit „Rock me Amadeus“ geworden und brachte 100.000 Menschen zu einem nie wieder gesehenen Auflauf rund um eine Festwochen-Eröffnung in die ganze Landschaft zwischen Rathauspark, -platz und Burgtheater.

Falco mit Band bei der Probe zu seinem Festwochen-Auftritt 1985
Contrast / picturedesk.com
Was tun mit einer Festwochen-Eröffnung? Rocken war das Motto von Falco 1985, als er nach dem Eröffnungsakt mit Symphonikern (fast) „ganz Wien“ in Ekstase brachte. So viele Menschen wie damals wurden danach nie wieder bei einer Festwochen-Eröffnung gesehen.

Da nun ja nur eine Pandemie den Ausfall der Festwochen-Beginngala wie im Vorjahr verhindern konnte, zelebrieren alle die Festwochen-Eröffnung wie eine Wiedergeburt der Kunst gegen die Zwänge der Hygiene und Virologie (die natürlich jeder hier in Wien mitträgt).

Ein Aufmarsch gegen die Leere

Leer war es heuer um die Bühne auf dem Rathausplatz, als die Creme de la Creme der neuen heimischen Pop- und Liedermacherszene auftrat, darunter Mira Lu Kovacs, Lukas Lauermann, Marie Spaemann & Christian Bakanic, Herbert Pixner Projekt, Golnar & Mahan Trio, Mischwerk und auch Ernst Molden. Publikum war zur Eröffnung pandemiebedingt nicht vorgesehen, und es gab am Abend wenig Möglichkeiten zum Verweilen, benötigte man heuer doch etwas mehr Raum für eine besondere Show vor der großen Festbühne.

Geschichte der Wiener Festwochen

Hauptereignis der von Gerald Votava und Wolfgang Wais verantworteten Show war eine Neuinterpretation des einstigen Festzugs der Gewerbe, den der Tanzreformer Rudolf von Laban 1929 auf die Wiener Ringstraße setzte. Bereits in der Zwischenkriegszeit, als man im Gefolge der Salzburger Festspiele die ersten Kunstfestivals im Land, nicht zuletzt auch zur Identitätspflege, auf den Weg gebracht hatte, veranstaltete Wien zweimal „Wiener Festwochen“. Als alljährliches Kunstfestival gingen die Festwochen aber erst im Jahr 1951, damals noch unter alliierter Besatzung, los – ein Umstand, den die Festwochen heuer mit einigen Sonderaktionen zum eigenen „70er“ feiern werden.

Die Kamm- und Fächermacher auf der Wiener Ringstraße vor dem Parlament. Gewerbefestzug 1929
Rübelt, Lothar / ÖNB-Bildarchiv / picturedesk.com
Rudolf von Labans „Tanzende Straße“ 1929 bei den einstigen Festwochen in Wien

Von Labans Festzug der Gewerbe war vor über 90 Jahren eine sehr eigenwillige Veranstaltung. Einerseits griff man dabei auf eine Tradition zurück, die das Wiener Handwerk schon zur Kaiserzeit praktizierte. Andererseits war von Laban mit seiner Kompanie einer der großen Reformer im Tanzbereich, der ja sogar noch 1936 an der Vorbereitung der Olympischen Spiele mitwirkte – diese aber nicht mehr miterlebte, weil er rechtzeitig ins Exil fliehen konnte. Laban wollte, fast schon wie später ein Joseph Beuys in anderen Bereichen, jeden Menschen zum Tänzer oder zur Tänzerin machen.

„Fand die Idee der ‚tanzenden Straße‘ geil“

„Diese tanzende Straße“, erzählt Choreografin Florentina Holzinger im Vorfeld ihrer Performance, habe sie sehr fasziniert. „Ich fand den Begriff geil“ – aber, so fügt sie hinzu, sie wolle natürlich nicht eine Rhythmisierung der Arbeitswelt darstellen wie einst von Laban, sondern neue Hybridformen zwischen Mensch und Maschine schaffen.

Soap&Skin: Sugarbread

Wenn von Laban damals „die Schönheit der Arbeit“ thematisiert habe, dann gehe es ihr in ihrer Choreografie des Festzuges um konfrontative Begegnungen zwischen dem Körper und einer fetischisierten Maschine. Das Auto fasziniere sie dabei als männliches Fetischobjekt, dem sie die Kraft des weiblichen Körpers entgegenstelle: „Mich fasziniert die Idee des Unfalls.“ Wie immer muss so eine Konfrontation zwischen dem Körper und der Maschine direkt laufen: Die nackte Haut trifft also auf die Prothese der Maschine. Man darf und wird dabei an Vorbilder wie David Cronenbergs legendären Film „Crash“ denken dürfen, der ja genau dieses Spannungsfeld beinahe schon mcluhanistisch ausgedeutet hat: die Maschine als die Erweiterung des Menschen.

Soap&Skin: Marche funebre

Anja Plaschg, alias Soap&Skin, die sich ja nie ganz der Zuschreibung als der Schmerzensfrau der Independentmusikszene entziehen konnte, war Teil dieser konfrontativen wie auch fragilen Performance. Man bekam in gewissem Sinn ein durchaus neues „Lied von der Erde“ und den Menschen darin, gerade in den verletzlichen Zeiten einer Pandemie, zu hören.

Megathemen der Gegenwart in der Kunsthalle

Bis es am 3. Juni mit Anna Rispolis Eröffnungsrede „Einkommen. Die bedingungslose Rede“ und der Premiere von Heiner Goebbels „Vertonung“ von Henri Michaux‘ 1945 publizierten Text „Liberte d’action“ so richtig vor Publikum los geht, kann man bereits die beiden von den Festwochen koproduzierten Ausstellungen in der Kunsthalle Wien und der Secession besuchen.

Ausstellungshinweise

  • „And if I devoted my life to one of its feathers?“, Kunsthalle Wien, dienstags bis sonntags, 11.00 bis 19.00 Uhr, dienstags zusätzlich bis 21.00 Uhr, bis 26. September.
  • Maria Hassabi „Here“, Secession Wien, dienstags bis sonntags, 10.00 bis 18.00 Uhr, bis 20. Juni.

Die Schau „And if I devoted my life to one of its feathers?“ wurde von Kurator Miguel A. Lopez bereits für die vergangene Festwochen-Ausgabe erarbeitet, musste aber damals abgesagt werden. Nun wurde die adaptierte und erweiterte Ausstellung, die sich einem großen Themenspektrum von aufoktroyierten Identitäten, Rassismus, Sexismus und der Klimakrise – kurz, den politischen und künstlerischen Megathemen der Gegenwart – widmet, eröffnet und ist bis Ende September durchgängig zugänglich.

Der Titel der Ausstellung ist einem Gedicht der chilenischen Künstlerin Cecilia Vicuna entnommen, in dem es anhand des Nachdenkens über einen Kolibri um das Verhältnis zwischen Mensch und Natur geht. Vicuna dominiert mit ihrer raumgreifenden Installation „Burnt Quipu“ auch den obersten Stock der Kunsthalle. Quipus waren inkaische Aufzeichnungssysteme aus gefärbten Haarsträngen von Kamelen, Lamas und anderen Tieren, in die an bestimmten Stellen Knoten gemacht wurden.

Fotostrecke mit 5 Bildern

Ausstellungsansicht von „And if I devoted my life to one of its feathers“, Kunsthalle Wien 2021
eSeL.at/Lorenz Seidler
Im Zentrum der Ausstellungshalle steht Cecilia Vicunas raumgreifende Installation „Burnt Quipu“. Ein Mahnmal für die brennenden Wälder der Gegenwart und die Inka-Kultur vor der spanischen Kolonialisierung.
Filmstill von Bartolina Xixa, Ramita Seca, La Colonialidad Permanente, 2017
Courtesy Maximiliano Mamani/Bartolina Xixa
Maximiliano Mamani als „Bartolina Xixa“ in der Videoarbeit „Ramita Seca, La Colonialidad Permanente“. Ein Protesttanz als Drag-Performance auf einer Müllhalde in den Anden.
Amoako Boafo, Gold Plant, aus der Serie Detoxing Masculinity, 2017
Bildrecht Wien 2021
Amoako Boafo, der unter anderem an der Akademie der bildenden Künste in Wien bei Ashley Hans Scheirl studiert hat, ist mit seinen Gemälden, die schwarze Männlichkeitsbilder thematisieren, längst internationaler Shootingstar
Filmstill von Mermaids, Mirror Worlds, 2018
Karrabing Film Collective
Das „Karrabing Film Collective“ beleuchtet mit der Videoarbeit „Mermaids“ australische indigene Perspektiven
Rosa Elena Curruchich, La señora vende barriletes y papel de barriletes, ca. 1980er
Juan Pablo Murrugarra
Rosa Elena Curruchichs Kleinformate zeigen eine ungewöhnliche, feministische Perspektive auf eine Maya-Dorfgemeinschaft

Mit der gewaltsamen Eroberung des Inka-Reiches durch die Spanier ging diese Kulturtechnik verloren. In ihren meterhohen, eingefärbten Quipus, die sie selbst als „Poesie im Raum“ und eine „haptisch-räumliche Metapher für die Verbundenheit der Dinge“ bezeichnet, insinuiert Vicuna Feuer und Rauch: eine Referenz auf den brennenden Amazonas und die kalifornischen Wälder als sinnliches Mahnmal im Zentrum der Halle.

Etliche andere Arbeiten zeigen lateinamerikanische und indigene Positionen, wie etwa die Kleinformate von Rosa Elena Churruchich. Als Angehörige der Maya-Kaqchikel in eine Familie von Malern geboren, widersetzte sie sich dem Verbot, selbst zu malen, und schuf als Autodidaktin einen raren feministischen Blick auf das Dorfleben ihrer Gemeinde.

Ein Highlight der Ausstellung ist die Videoarbeit „Ramita Seca. La Colonialidad Permanente“ (Deutsch: „Trockener Zweig, die permanente Kolonialität“) des argentinischen Künstlers Maximiliano Mamani: Eine Drag-Performance als Kunstfigur Bartolina Xixa, inspiriert von der bolivianischen Revolutionsführerin Bartolina Sisa Vargas (1750–1782), zeigt ihn in traditionelle Gewänder gehüllt auf einer Mülldeponie in den Anden Folklieder singen. Eine höchst gelungene Verbindung von Infragestellung von Geschlechtsidentitäten, den desaströsen ökologischen Folgewirkungen der gegenwärtigen Konsumkultur und kolonialen Folgewirkungen, die den Zugang zur eigenen Geschichte und Tradition belasten.

Obwohl viele lateinamerikanische Künstlerinnen und Künstler vertreten sind, zeigt die Ausstellung durch Arbeiten etwa aus Russland, Australien und die fulminanten Gemälde des ghanaischen Künstlers und internationalen Shootingstars Amoako Bofao, wie weltumspannend die Fragestellungen sind, die in „And if I devoted my life to one of its feahers?“ verhandelt werden.

Präsenz als offene Frage

Noch bis 20. Juni gibt es im gänzlich in Gold gestrichenen Hauptraum der Secession im Loop die vier Stunden dauernde „Liveinstallation“ mit dem Titel „Here“ der zypriotischen Performance-Künstlerin Maria Hassabi zu sehen. Eine Soundinstallation, die unregelmäßig aus dem Off ertönt, lässt eine Stimme die Dauer der Arbeit – 14.399 Sekunden – zählen. Währenddessen wird die goldene Podestlandschaft im Raum zuerst von einem Solo Hassabis und anschließend einer Choreografie von fünf in bunte Farben gekleideten Tänzerinnen und Tänzern genutzt.

Ausstellungsansicht  von Maria Hassabi: HERE, 2021
Peter Mochi
„Here“ stellt die Frage nach Präsenz im postpandemischen Raum

Es sind langsame, präzise und dennoch fließende Bewegungen, mit denen die Körper diesen fast sakralen Raum erkunden. In den Posen, die gerade in ihrer Langsamkeit den Performerinnen und Performern enorme Anstrengung abverlangen, zeigt sich ein stummer Kampf um Präsenz: Wer darf in dem Raum, den man durchaus als eine Metapher für den postpandemischen öffentlichen Raum verstehen darf, vorkommen, ihn in Besitz nehmen, sich in ihm bewegen, verharren, oder ihn sich aneignen?

Bei einem Pressegespräch am Donnerstag ging Festwochen-Indentant Christophe Slagmuylder auf diese Dimension von „Here“ ein. Die Arbeit sei eine Infragestellung, wie es möglich sei, neu „zu lernen, sich Räume anzueignen und zusammenzuleben“. Hassabi selbst ging bei dem Gespräch auf die dominante Farbe Gold ein: Nach den Terroranschlägen 9/11 habe sie in New York gelebt. Auf dem Areal des „Ground Zero“ habe der ehemalige goldene Fußboden der Twin Towers als einzige Spur der Gebäude deren Einsturz überdauert: „Gold überdauert die Zeit, Gold überdauert Katastrophen“, sagte sie. Die Erfahrung der gedehnten Zeit in der Betrachtung der performativen Installation ist jedenfalls ein Erlebnis.