Demonstration in Bogota
Reuters
Proteste und Pandemie

Kolumbiens Kampf an zwei Fronten

Seit Ende April kommt es in Kolumbien zu zahlreichen gewalttätigen, teils tödlichen Protesten. Stand zu Beginn noch der Kampf gegen eine umstrittene Steuerreform im Fokus, geht es den Demonstrierenden mittlerweile um nichts weniger als um eine gerechtere Gesellschaft. Zugleich findet sich das Land derzeit in einem der schwersten Momente der Pandemie wieder, steht das Gesundheitssystem doch kurz vor dem Kollaps.

„Es muss mit aller Realität gesagt werden: Die Ansteckungssituation in Bogota (der Hauptstadt Kolumbiens, Anm.) ist kritisch: fast hundertprozentige Belegung der Intensivstation“, warnte der kolumbianische Gesundheitsminister Fernando Ruiz kürzlich auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. 500 Patientinnen und Patienten hätten bereits in andere Teile des Landes verlegt werden müssen.

Insgesamt infizierten sich in Kolumbien bereits mehr als drei Millionen Menschen bereits mit dem Coronavirus, rund 80.000 Patienten und Patientinnen sind im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben. Seit Mitte April kommt es zu einem Höchststand an Todesfällen. Und laut Daten der Johns-Hopkins-Universität sind in dem Land mit 50 Millionen Einwohnern und Einwohnerinnen gerade einmal fünf Prozent der Bevölkerung voll immunisiert.

Impfzentrum in Cali
APA/AFP/Luis Robayo
Der kolumbianische Gesundheitsminister warnte vor einem Kollaps des Gesundheitssystems. Geimpft sind gerade einmal fünf Prozent der Bevölkerung.

Mehr als 40 Todesopfer – Kritik an Polizeigewalt

Außerhalb der Krankenhäuser, auf den Straßen Kolumbiens zeigt sich eine weitere Krise: Seit Ende April gehen Zehntausende Kolumbianerinnen und Kolumbianer aus Wut über die Gesundheits-, Sicherheits- und Bildungspolitik der Regierung auf die Straße. Bei den Polizeieinsätzen auf Kundgebungen gegen die Regierung wurden seit Ende April nach offiziellen Angaben mindestens 42 Menschen getötet. Mehr als 1.500 weitere Menschen hätten Verletzungen erlitten. Nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen gab es noch mehr Opfer. Laut der nationalen Ombudsstelle gelten zudem 168 Personen als vermisst.

Vor allem in Bogota kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und der Polizei. Doch auch in anderen wichtigen Städten Kolumbiens wie Medellin und Cali herrschten im Zuge der Proteste Gewalt, Zerstörung und Chaos. Präsident Ivan Duque sprach von „Vandalismus“ und „urbanem Terrorismus“, der den „Mafias des Drogenhandels“ zuzuschreiben sei. Duque genehmigte daher auch den Einsatz des Militärs zur Unterstützung der Polizei.

Kolumbiens Außenministerin Claudia Blum
Reuters/Luisa Gonzalez
Die kolumbianische Außenministerin Blum trat von ihrem Amt zurück – wie auch schon zuvor Wirtschaftsminister Carrasquilla

Unterdessen kritisierten UNO, EU, USA und Menschenrechtsorganisationen die exzessive Polizeigewalt gegen regierungskritische Demonstrierende. Das kolumbianische Außenministerium wies die Kritik aber zurück. Am Freitag kam es allerdings zum Rücktritt von Außenministerin Claudia Blum. Gründe für den Rücktritt wurden offiziell nicht genannt, laut Medienberichten dürfte jedoch das schlechte Krisenmanagement ausschlaggebend für den Rücktritt gewesen sein.

Steuerreform als Auslöser

Ausgelöst wurden die Proteste von Plänen für eine Steuerreform, die besonders die Mittelschicht hart getroffen hätte. Die Regierung wollte unter anderem die steuerlichen Freibeträge senken, die Einkommensteuer für bestimmte Gruppen erhöhen und die Befreiung von der Mehrwertsteuer für eine Reihe von Waren wie Lebensmittel und Benzin sowie für Dienstleistungen abschaffen.

Damit sollten die von der Coronavirus-Krise verursachten Defizite im Staatshaushalt ausgeglichen werden. Nach tagelangen Demonstrationen hatte die Regierung die Steuerreform zurückgezogen. Auch der zuständige Wirtschaftsminister Alberto Carrasquilla trat deshalb Anfang Mai zurück.

Kolumbianischer Polizist
APA/AFP/Paola Mafla
In vielen kolumbianischen Städten kam es zu Ausschreitungen zwischen Polizei und Protestierenden wie etwa hier in Cali, der drittgrößten Stadt des Landes

Anhaltende Proteste gegen Regierung

Doch die Proteste gingen weiter und richten sich angesichts wirtschaftlicher Probleme und anhaltender Gewalt in Kolumbien nun generell gegen die Regierung von Duque. Beobachtern zufolge stecke hinter den Demonstrationen eine tiefe, allgemeine Unzufriedenheit, die in der Bevölkerung vorherrscht. Daher gehe es nun um nichts weniger als einen gesamtgesellschaftlichen Wandel.

Die Demonstrierenden fordern unter anderem kostenlose Bildung, bessere Arbeitsbedingungen, eine Reform des Pensionssystems und eine Aufhebung der geplanten Gesundheitsreform. Zwar gab es bereits Gespräche zwischen der Regierung und dem Streikkomitee aus Gewerkschaften, sozialen Bewegungen sowie Studentenverbänden, allerdings blieb das Treffen vorerst ohne Ergebnis.

Eine weitere Forderung ist die vollständige Umsetzung des Friedensabkommens mit der linken Ex-Guerillabewegung Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens (FARC). 2016 hatte die kolumbianische Regierung zwar offiziell Frieden mit der FARC-Guerilla geschlossen, doch der Vertrag ist brüchig. Nach wie vor kämpfen FARC-Mitglieder gegen die Regierung. Einige arbeiten zudem mit Drogenbanden in kolumbianischen Regionen zusammen, über die die Regierung keine Kontrolle hat.

Demonstration in Bogota
Reuters
„Diejenigen, die auf die Barrikaden gehen, sind nicht Gewerkschaftsführer, sondern eine Jugend, die das Gefühl hat, keine Zukunft zu haben“, analysiert die kolumbianische Politikwissenschaftlerin Correa

„Sie töten uns“

Laut der Politikwissenschaftlerin Rosalia Correa von der Universität Javeriana in Cali, handelt es sich bei den Protestierenden vor allem um Junge: „Diejenigen, die auf die Barrikaden gehen, sind nicht Gewerkschaftsführer, sondern eine Jugend, die das Gefühl hat, keine Zukunft zu haben, die Angst hat wegen des Fehlens von Möglichkeiten, aber auch, weil sie seit eineinhalb Jahren eingesperrt gewesen ist.“

Ihrer Meinung nach sei das aber nicht nur in der Mittelklasse festzustellen, sondern auch in ärmeren Vierteln: „Das ist ein Dampfkessel, der lange Zeit Gewalt erlebt hat“, sagte Correa. Nun entweiche der Druck.

Und aufgrund der vielen Todesopfer habe sich das Motto der Proteste von „No a la reforma tributaria“ (Dt.: „Nein zur Steuerreform“) hin zu „Nos estan matando“ (Dt.: „Sie töten uns“) gewandelt, so Correa.

Poliei geht gegen Demonstranten mit Wasserwerfern vor Barranquilla
Reuters
Was mit „Nein zur Steuerreform“ begann, wurde angesichts der Polizeigewalt und der vielen Todesopfer zu „Sie töten uns“

„Reformen statt Gewalt“

Die spanische Zeitung „El Mundo“ sieht unterdessen die Stabilität des lateinamerikanischen Landes in Gefahr. Der Ausbruch sozialer Proteste habe inmitten der Pandemie zur politischen Destabilisierung geführt. Das liege vor allem an den Fehlern, die die Regierung bei der Bewältigung dieser Krise gemacht habe. Nicht weniger verantwortlich seien allerdings auch die Opposition und alle, die „skrupellos auf Chaos“ setzten, um Umstände auszunutzen, welche die Stabilität des Landes „ernsthaft in Gefahr“ brächten.

In einem Kommentar der „Süddeutschen Zeitung“ („SZ") hieß es, die Proteste in Kolumbien zeigten, was auch anderen Ländern bald bevorstehen könnte: Südamerika steckte schon vor der Pandemie in einer schweren Krise. Armut und Ungleichheit trieben Tausende auf die Straße, in Chile wie in Ecuador, Peru oder eben Kolumbien.“

Und weiter: „Die politischen Eliten waren oft überrumpelt, zu weit war ihre Lebenswelt entfernt von der vieler Bürger: von Stacheldraht umzäunte Luxuswohnanlagen auf der einen Seite, Slums und leere Kühlschränke auf der anderen.“ Was es nun bräuchte, seien Reformen, Dialog, Veränderungen. „Stattdessen aber reagiert die Regierung in Kolumbien wieder mit Gewalt.“