Zeichnungen von Robert Gabris zum Thema Sommer und Bücher
Robert Gabris
Sommerbücher Teil vier

Weltliteratur mit Nektar und Ambrosia

Paarbeziehungen im digitalen Zeitalter, Identitätspolitik, CoV-bedingte Landfluchtfantasien und toxische Männlichkeit – in den internationalen Romanen der Saison spiegeln sich die Themen unserer Zeit. Zwischen hintersinnig erzählten Roadtrips und sarkastisch-abgründigen Storys warten viele hundert Seiten voller Überraschungen darauf, an heißen Badetagen verschlungen zu werden. Illustriert wurde die literarische Reise um die Welt von dem in Wien lebenden Künstler Robert Gabris.

Die Liebe in groben Zügen

Für seinen ungewöhnlichen Liebesroman hat der Argentinier Patricio Pron den Premio Alfaguara de la novela, einen der wichtigsten Literaturpreise Spaniens gewonnen. Vollkommen zu Recht, wie man in der Übersetzung von „Morgen haben wir andere Namen“ nachlesen kann: Die Geschichte eines namenlosen sich trennenden Paares wird abwechselnd von ihm, einem mittellosen Schriftsteller, und ihr, einer gut verdienenden Architektin, erzählt. Pron gelingt dabei ein vollkommen unsentimentaler, sprachlich reicher und soziologisch pointierter Liebesroman, der sich so gegenwärtig liest, dass man sich auf jeder Seite mitgemeint fühlt. (Florian Baranyi, ORF.at)

Patricio Pron: Morgen haben wir andere Namen. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Rowohlt, 328 Seiten, 22,70 Euro.

Die Slowakei wandert nach Tahiti aus

Das Nachbarland Slowakei ist auf der literarischen Landkarte weitgehend unbekanntes Terrain. Der junge Romancier Michal Hvorecky nimmt sich nun mit Milan Rastislav Stefanik einen der Gründungsväter vor, um das Werden seines Landes als verrückte Utopie zu erzählen. Stefanik stürzte 1919 mit einer Doppeldecker-Caproni nahe Bratislava unter ungeklärten Umständen ab. Hvorecky greift die Legendenbildung um den Flieger und Südsee-Abenteurer auf – und schreibt die slowakische Geschichte in einem fulminanten Roman neu. Ein Exodus nach Tahiti spielt hier eine Rolle, samt Flüchtlingsstrom über Österreich. Womit auch an Tabus jüngerer Geschichte gerüttelt wird. (Gerald Heidegger, ORF.at)

Michal Hvorecky: Tahiti Utopia. Aus dem Slowakischen von Mirko Kraetsch. Tropen, 255 Seiten, 20,60 Euro.

Zeichnungen von Robert Gabris zum Thema Sommer und Bücher
Robert Gabris

Identität als Konzept

Wohl kaum ein anderes deutschsprachiges Buch hat dieses Jahr so sehr den Zeitgeist getroffen wie Mithu Sanyals Debütroman „Identitti“. Erzählt wird die Geschichte einer Professorin für Postcolonial Studies in Düsseldorf, die, eben noch Anführerin aller Debatten über Identität, sich selbst als Person of Colour beschrieben hatte und plötzlich als weiß geoutet wird. Was für ein Skandal! Selbstironisch und klug, erhellend und unterhaltsam bringt Sanyal die großen aktuellen Themen Identitätspolitik und Postkolonialismus auf den Punkt. (Sonia Neufeld, ORF.at)

Mithu Sanyal: Identitti. Hanser, 432 Seiten, 22,90 Euro.

Künstler Robert Gabris
Robert Gabris
Sommer hat viel mit Laune zu tun, meint der aus der Slowakei stammende Künstler Robert Gabris – und wundert sich, warum die Österreicher auch dann noch grantig sind, wenn sie längst am Wasser liegen. Gabris, Schüler von Erich Wonder, ist auf kein Medium festzulegen. Seine große Leidenschaft gehört der Zeichnung, in der er Gender- und Rollenklischees ebenso aushebelt wie die Frage der fragilen Herkunft thematisiert.

Zwölf Frauen

Sie sind queer, hetero, trans und nicht binär. Sie sind Tochter, Ehefrau, Großmutter und Alleinerzieherin. Zwölf überwiegend schwarze Frauen im Alter zwischen 19 und 93 sind die Protagonistinnen von „Mädchen, Frau etc.“. Leidenschaftlich und voller Humor erweckt Bernardine Evaristo die Charaktere zum Leben, die so unterschiedlich sind und die doch so vieles in ihren afrobritischen Biografien verbindet. Für den Roman erhielt Evaristo als erste schwarze Autorin den renommierten Booker Prize. (Romana Beer, für ORF.at)

Bernardine Evaristo: Mädchen, Frau etc. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Tropen, 512 Seiten, 25,95 Euro.

Phänomenologie einer Belagerung

Mit „Tagebuch der Übersiedlung“ erfährt ein zwischen Essay und Erzählung, zeithistorischem Dokument und Traktat changierender Text über die Belagerung Sarajevos eine Neuübersetzung. Der bosnische Autor Dzevad Karahasan schrieb das Buch 1993 nach seiner Flucht nach Graz und wurde damit international bekannt. Es ist das Zeugnis eines Autors, der methodisch der Frage nachgeht, was die Irrationalität des Krieges mit ihm und Sarajevo, einst Sinnbild für gelebte multikulturelle und multireligiöse Offenheit, anstellt. (Florian Baranyi, ORF.at)

Dzevad Karahasan: Tagebuch einer Übersiedlung. Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber. Suhrkamp, 223 Seiten, 24,70 Euro.

Zeichnungen von Robert Gabris zum Thema Sommer und Bücher
Robert Gabris

Stadtflucht in die Realität

Ein Coronavirus-Roman also. Zumindest ein bisschen. Werbetexterin Dora flüchtet mit ihrem Hund vor dem Lockdown in der Großstadt und den Trümmern ihrer Beziehung aufs Land. Die erwartete Idylle sucht sie dort aber vergebens – stattdessen trifft sie auf AfD-Wähler, Coronavirus-Leugner und andere obskure Gestalten. Am Ende von Zehs rasant und pointiert geschriebenem, zweitem Dorfroman (nach dem Bestseller „Unterleuten“) menschelt es, und Dora muss feststellen, dass Menschen nicht immer sind, was sie zu sein scheinen. (Romana Beer, für ORF.at)

Juli Zeh: Über Menschen. Luchterhand, 416 Seiten, 22,70 Euro.

Fortsetzung des Kultromans

Sein Debüt „Faserland“ war das Kultbuch der 90er Jahre, 25 Jahre später folgt jetzt die Fortsetzung: In „Eurotrash“ erzählt Christian Kracht die Geschichte eines Ich-Erzählers namens Christian Kracht, der seine demente Mutter in der Schweizer Heimat besucht und so in die eigene Kindheit eintaucht. Autofiktion anstelle von Autobiografie: Mit seiner clever gestrickten, im Ton leicht spöttischen Story schlägt der einstige Popliterat allen Wahrheitssuchern ein Schnippchen. Die Abgründe seiner eigenen Geschichte dreht er hier zum wild-wuchtigen Roadmovie. (Paula Pfoser, ORF.at)

Christian Kracht: Eurotrash. Kiepenheuer und Witsch, 224 Seiten, 22,90 Euro.

Patchwork auf Niederländisch

Sieben Jahre nach dem internationalen Überraschungserfolg seines Erstlings „Bonita Avenue“ legt Peter Buwalda mit „Otmars Söhne“ den Auftakt zu einer Trilogie vor. Seinem Lieblingsthema, dem emotionalen Sprengstoff, der hinter der gutbürgerlichen Fassade so mancher Patchworkfamilie lauert, bleibt er auch in der Geschichte rund um Ludwig treu. Dieser reist im Auftrag eines Ölriesen nach Sibirien und trifft dort seinen leiblichen Vater. Im Hintergrund läuft die Geschichte seines Stiefvaters und seines Stiefbruders, eines Beethoven-Virtuosen, mit. Ein explosives und fesselndes Buch über den Ödipuskomplex und Variationen toxischer Männlichkeit. (Florian Baranyi, ORF.at)

Peter Buwalda: Otmars Söhne. Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens. Rowohlt, 621 Seiten, 24,70 Euro.

Zeichnungen von Robert Gabris zum Thema Sommer und Bücher
Robert Gabris

Die Verachteten

Die transsexuellen Prostituierten von Cordoba führen ein Leben im Schatten, immer konfrontiert mit Gewalt, Verachtung und Krankheit. Ihre Familien wollen nichts von ihnen wissen, auf der Straße und im titelgebenden Park sind sie schutz- und rechtlos. Hart und direkt erzählt Camila Sosa Villada vom Los dieser Frauen im Argentinien der 1990er Jahre, ebenso wie von Freundschaft, Liebe und Solidarität. Im blumigen Stil eines modernen magischen Realismus gehalten, fehlen dem Roman auch Vogelfrauen und Werwölfinnen nicht. Doch beschönigt wird hier nichts. (Johanna Grillmayer, ORF.at)

Camila Sosa Villada: Im Park der prächtigen Schwestern. Aus dem Spanischen von Svenja Becker. Suhrkamp Nova, 220 Seiten, 15,90 Euro.

Der einsame Riese in der Wüste

Als Kind kommt Hakan Mitte des 19. Jahrhunderts aus Schweden nach Amerika, ohne Eltern und ohne die Sprache zu sprechen. Auf der Suche nach seinem Bruder schlägt er sich alleine durch. Sein Weg führt durch Goldgräberstädte, Prärie und Wüste, er erlebt viel Gewalt und wenig Glück. Hakan, der nie zu wachsen aufhört, wird im Westen als der „Riese Hawk“ zur Legende – ein zweifelhafter Ruhm, der ihn zu einem Leben auf der Flucht verurteilt. Hernan Diaz findet magische Bilder einer unberührten Natur, von seltener Liebe und sehr viel Einsamkeit. (Johanna Grillmayer, ORF.at)

Hernan Diaz: In der Ferne. Aus dem Englischen von Hannes Meyer. Hanser, 304 Seiten, 24,90 Euro.