Detail aus Xenia Hausners „Wag the Dog“,  2014, Öl auf Papier auf Dibond
Studio Xenia Hausner, Foto: Stefan Liewehr
Sommerbücher Teil drei

Sachbücher für den kühlen Kopf

Essays zum digitalen Suchtpotenzial und Historisches zur kolonialen Raubkunstdebatte, ein Streifzug durch die Blasphemiegeschichte und ein Bericht von einem Brennpunkt der Klimakrise – die Sachbücher der Saison bieten viel Stoff zum Nachdenken und für Diskussionen. Außerdem zu entdecken: feine Ratgeberliteratur ohne Besserwisserei. Die Bilder steuert die Malerin Xenia Hausner mit Details aus ihren großformatigen Werken bei.

Ich, ich, ich

„Susan Sontag der Millennials“ und „Joan Didion unserer Zeit“: Die Journalistin und Autorin Jia Tolentino wird in den USA derzeit als eine der wichtigsten Stimmen ihrer Generation gefeiert. Zu Recht, wie sie mit ihren in „Trick Mirror“ versammelten Essays beweist. Mit erst zehn Jahren, Ende der 1990er Jahre schrieb Tolentino ihren ersten Blogeintrag: „Wie Jia internetsüchtig wurde“. Heute zerlegt sie klug und kurzweilig die Selbstinszenierung im Netz in all ihren Facetten und hält der Generation der Millennials einen Spiegel vor. (Romana Beer, für ORF.at)

Jia Tolentino: Trick Mirror. Über das inszenierte Ich. Aus dem amerikanischen Englisch von Margarita Ruppel. S. Fischer, 368 Seiten, 22,70 Euro.

Verflachen wir durchs Digitale?

Digitalisierung und Neoliberalismus zu kritisieren ist leicht – aber nicht auf dem Niveau mit dem es der deutsche Philosoph und Kulturtheoretiker Byung-Chul Han tut, und schon gar nicht mit diesem Sprachwitz. Voll des Kulturpessimismus und mit viel Martin Heidegger im Gepäck vermisst er die Aura der echten Dinge (im Gegensatz zu ihrer Abbildung) und haptisch begreifbarer Menschen im Digitalen. Am Ende werden wir so flach wie die Bildschirme unserer Smartphones und so stumpf benutzbar wie Maschinen, die sich leicht ins neoliberale Räderwerk eingemeinden lassen, warnt er. Ein grandios zu lesender Essay – auch, wenn man nicht ganz seiner Meinung ist. (Simon Hadler, ORF.at)

Byung-Chul Han: Undinge. Umbrüche der Lebenswelt. Ullstein, 125 Seiten, 22,70 Euro.

Xenia Hausner: „Paris Bar“,  2001, Acryl auf Hartfaser
Studio Xenia Hausner, Foto: Stefan Liewehr
Detail aus „Paris Bar“, 2001, Acryl auf Hartfaser

Der lange Schatten der kolonialen Raubkunst

Dieses Buch veränderte die deutsche Debatte: Geschrieben von der wichtigsten Rückgabefürsprecherin Benedicte Savoy beleuchtet „Afrikas Kampf um seine Kunst“ die vergessene Vorgeschichte der heutigen Diskussion zur kolonialen Raubkunst. Sie zeigt, dass, was aktuell vorgebracht wird, schon in den 1970er Jahren argumentiert wurde. Savoys gut zu lesendes und akribisch recherchiertes Buch erzählt von den Ansuchen afrikanischer Staaten, von UNO- und UNESCO-Debatten und den Verschleppungstaktiken der Museumsdirektoren. Die Kustoden, deren Biografien oft in die NS-Zeit zurückreichten, setzten sich durch. Jetzt ist das Thema wieder auf dem Tisch. (Paula Pfoser, ORF.at)

Benedicte Savoy. Afrikas Kampf um seine Kunst. C. H. Beck, 256 Seiten, 24,70 Euro.

Neues von der Queen of Nature Writing

Dass Nature Writing dermaßen populär ist, hat auch mit der Britin Helen Macdonald zu tun, die mit „H wie Habicht“ (dt. 2015) einen Bestseller ihres Fachs schrieb. In „Abendflüge“ versammelt sie nun 41 Essays, deren „Liebe zur schillernden Welt des nichtmenschlichen Lebens“ ansteckend und ganz ohne Pathos ist. Enthusiastisch, klug und mit Humor erzählt Macdonald von der Naturaliensammlung ihrer Kindheit, Begegnungen mit Wildschweinen, der Erfahrung von Sommerstürmen und wie sich der Brexit auf die Schwanenzählung auf der Themse auswirkt. Ein Buch zwischen Politdiskurs und Naturbeobachtung und mit großem Sinn für Schönheit. (Paula Pfoser, ORF.at)

Helen Macdonald: Abendflüge. Aus dem Englischen von Ulrike Kretschmer. Hanser, 352 Seiten, 24,70 Euro.

Malerin Xenia Hausner
APA/Rober Jaeger
„True Lies“, die Schau von Xenia Hausner in der Wiener Albertina, ist gerade der Publikumsmagnet unter den Ausstellungen in Österreich. Die ORF.at-Sommerbuchreihe wollte Hausner unterstützen, weil sie das Lesen unterstützen möchte. Für die Sommerbücher schauen wir auf die Details jener Bilder, die in der Albertina zu sehen sind.

Erderwärmung vor der Haustüre

Wenige Tage vor Weihnachten 2015 lösten sich mehrere Tonnen Schnee vom Berg Sukkertoppen und verschütteten etliche Häuser in Lonyearbyen, dem größten Ort Spitzbergens. Das dramatische Ereignis war für die norwegische Journalistin Line Nagell Ylvisaker, die mit ihrer Familie in Longyearbyen lebt, der Auslöser, mehr über die Erwärmung der Arktis erfahren zu wollen. Sie sprach mit Meteorologinnen und Polarforschern, mit Trappern und Nachbarinnen. Das Ergebnis: ein fesselnd geschriebenes, hochaktuelles Buch. (Romana Beer, für ORF.at)

Line Nagell Ylvisaker: Meine Welt schmilzt. Aus dem Norwegischen von Anne von Canal. Hoffmann und Campe, 192 Seiten, 22,90 Euro.

Klimakrisen und der Untergang von Imperien

Kann der Klimawandel Imperien zu Fall bringen? Mit dieser Frage beschäftigt sich der österreichische Wissenschaftler Johannes Preiser-Kapeller quer durch die Geschichte, in gleich zwei zusammenhängenden Büchern von der Antike bis zur Neuzeit. Und Preiser-Kapeller gibt keine einfache Ja-Nein-Antwort – zu komplex ist die Materie, zu viele andere Einflussfaktoren müssen bewertet und gewichtet werden. Doch eines scheint klar: Befindet sich eine Gesellschaft im Umbruch und wankt das politische System – sei es von innen oder von außen angestoßen –, so kann der Klimawandel das Tüpfelchen auf dem i Richtung Untergang sein. (Peter Bauer, ORF.at)

Johannes Preiser-Kapeller: Die erste Ernte und der große Hunger. Klima, Pandemien und der Wandel der Alten Welt bis 500 n. Chr. Mandelbaum, 400 Seiten, 25 Euro.

Johannes Preiser-Kapeller: Der Lange Sommer und die Kleine Eiszeit. Klima, Pandemien und der Wandel der Alten Welt von 500 bis 1500 n. Chr. Mandelbaum, 440 Seiten, 25 Euro.

Xenia Hausner: „Taormina“, 1997, Acryl auf Hartfaser
Studio Xenia Hausner, Foto: Stefan Liewehr
Detail aus „Taormina“, 1997, Acryl auf Hartfaser

Das Leben ist eines der schwersten

„Reiß dich zusammen!“ – Jahrelang versuchte Till Raether die Erschöpfung und die Traurigkeit zu überspielen. Bei einer richtig schweren Depression wäre die Sache wenigstens klar gewesen, aber so? Der Autor funktionierte, zumindest meistens. Bis nichts mehr ging und er sich fragen musste: „Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?“ Raethers Erzählungen, die wohl einigen Leserinnen und Lesern vertraut sein werden, geben Mut und Hoffnung und machen deutlich, wie wichtig es ist, öffentlich und privat über psychische Erkrankungen zu sprechen. (Romana Beer, für ORF.at)

Till Raether: Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben? Rowohlt, 128 Seiten, 14,90 Euro.

Tipps für das große Ausspannen

Nach vielen Monaten Pandemie kommt „Die Kunst des Ausruhens“ von BBC-Journalistin Claudia Hammond genau richtig. Das Buch hat alles, was ein guter Entspannungsratgeber braucht: viele praktische Tipps und historisches Hintergrundwissen, gute Lesbarkeit und keine Besserwisserei, Fun Facts und wissenschaftliche Grundierung. Grundlage ist die bisher größte Ruhestudie. Außerdem empfehlenswert: Jenny Odells „Nichts tun“, eine klug-kämpferische Grundsatzhinterfragung einer Gesellschaft zwischen digitaler Selbstdarstellung und entgrenztem Arbeitsbegriff. Das Buch stand 2019 auf Barack Obamas Lieblingsbücherliste. (Paula Pfoser, ORF.at)

Claudia Hammond: Die Kunst des Ausruhens. Wie man echte Erholung findet. Aus dem Englischen von Silvia Morawetz und Theresia Übelhör. DuMont, 324 Seiten, 22,90 Euro.

Jenny Odell: Nichts tun. Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen. Aus dem amerikanischen Englisch von Annabel Zettel. C. H. Beck, 296 Seiten, 24,70 Euro.

Xenia Hausner: „Welcome“,  2018, Öl auf Papier auf Dibond
Studio Xenia Hausner, Foto: Stefan Liewehr
Detail aus „Welcome“, 2018, Öl auf Papier auf Dibond

Schöner lästern

Was ist Blasphemie, und wie haben sich ihre Absichten und Adressaten im Lauf der Zeit gewandelt? Der Historiker Gerd Schwerhoff schlägt den Bogen von der spottfreudigen Antike und den obszönen Graffiti der Römer über die „fantasievollen“ Blasphemiestrafen des Mittelalters und der Neuzeit bis hinein in die Gegenwart. Neben Definition und Einordnung („Was ist eine Schmähung?“) geht es auch um globale Konflikte im Zeichen der Gotteslästerung wie um das Spannungsfeld Glaube und Aufklärung. Mohammed-Karikaturen, Pussy-Riot-Punklieder und blanke Brüste am Altar des Kölner Doms: Blasphemie ist ein Thema unserer Zeit. (Johanna Grillmayer, ORF.at)

Gerd Schwerhoff: Verfluchte Götter. Die Geschichte der Blasphemie. S. Fischer, 528 Seiten, 29,90 Euro.

Wo sind die Universalgenies?

Der Doyen der britischen Kulturhistorie Peter Burke beschäftigt sich in seinem Buch „Giganten der Gelehrsamkeit“ mit der Geschichte der Universalgenies, so auch der Untertitel des Buches. In einer wahren Tour de Force von der Renaissance bis zur Gegenwart, von Leonardo da Vinci bis zur US-Intellektuellen Susan Sontag stellt Burke Universalgelehrte vor und stellt auch die Fragen, ob Wissensakkumulation alleine bereits reicht und wie durch die Kombination von Wissensträngen Neues entstehen kann. Burke zeigt in seinem umfassenden Buch auch den jeweils eigenen Reiz der teils auch von Exzentrik geprägten Persönlichkeiten. (Peter Bauer, ORF.at)

Peter Burke: Giganten der Gelehrsamkeit. Die Geschichte der Universalgenies. Aus dem Englischen von Matthias Wolf. Wagenbach, 320 Seiten, 29,90 Euro.